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Zwei dahinsiechende Aolksstämme Nordfibiriens. Lon Arvin Kohn. 1. Das Land am Obi. Wer von uns erinnert sich nicht in seiner frühesten Jugend die Sagen vom „schönen Rhein" gehört zu haben, welche von Mund zu Munde gingen, und die, »venu eben Naturschönheiten gepriesen wurden, gerade die Naturschöuheitcn des Rheins als das Höchste schilderten! Wahrlich sagenhaft klang es mir immer, wenn ich Er wachsene, und später, als Kind noch, meine Lehrer hörte, welche das Gelände des Rheins mit seinen Rebcndächcrn und seinen halb verfallenen Burgen in reizenden Farben und glänzendem Lichte schilderten; ich glaubte immer, daß wohlthätige Feen alle diese Schönheiten hingezaubert hätten, um der nach ästhetischen Eindrücken begierigen Menschheit in einem prächtigen Panorama einen mehrere Tage dauernden Genuß zu verschaffen und die Reisebegierde zu reizen. Obgleich selbst begierig die bezaubernden Landschaften zu sehen, konnte ich doch immer nicht begreifen, wie sich erwachsene und gebildete Menschen, Ausländer und Deutsche ohne Unterschied, dar nach sehnen könnten, „eine Reise auf dem Rheine zu machen." Später, als ich selbst diese Reise gemacht, als ich meine Blicke an dem herr lichen Naturgemälde gelabt hatte, wurde es mir klar, warum sich jeder Gebildete, ohne Unterschied der Nationalität, nach der Rhein reise sehnt, wie der rechtgläubige Muselmann nach der Pilgerfahrt zn der Kaaba in Mekka. Es scheint, daß für den gebildeten Europäer nicht bloß das Sprichwort gilt: „Neapel sehen und dann sterben," sondern, daß es eben so heißt: „Den Rhein sehen und dann sterben," trotzdem man wirklich nicht befriedigt, nicht gesättigt von dieser Reise zurückkehrt, sondern sie immer noch ein Mal zu unternehmen wünscht, um neue Schönheiten, neue Reize, neuen Zauber zu entdecken. Welcher meiner rheinfahrtsüchtigen Leser wird es mir nun wohl glauben, wenn ich ihm sage, daß der Rhein nicht allein ein schöner Nuß sei, daß er im fernen Osten, jenseits des Uralgebirges, das Europa von Asien scheidet, mächtige Nebenbuhler habe, welche ihm tu gewissen Beziehungen den Rang streitig machen, und daß schon wenige Tagereisen östlich vom genannten Gebirge ein Strom fließt, dessen Gebiet 63,000 Quadratmcilen beträgt, in den sich als Neben fluß ein Strom ergießt, der bedeutend größer ist, als selbst der Vater Rhein? Dieser Riese unter den Strömen der Erde ist der Ob oder 2bi; dieser mächtige Nebenfluß ist der Irtysch, der fast ebenso lang ist, wie der Strom, in den er sich ergießt. Man wird sich einen kleinen Begriff von dem riesigen Strome wachen können, wenn man bedenkt, daß er im Frühlinge während des Hochwassers in der Gegend von Orskibor, nahe bei Kolüwan, also noch lange bevor er sich mit dem gleich riesigen Irtysch vereinigt, eine Breite von mehr als 40 Kilometer annimmt und so weit das Auge reicht, alles unter Wasser setzt. Als ich im Frühjahre 1864 die ungeheure Wasserfläche austannte, auf der sich einzelne Hügel- reihen der Gegend wie Inseln erhoben, und aus der ganze Wälder hervorragten, glaubte ich mich in die Steinkohlenperiode zurück dersetzt, während welcher wahrscheinlich unsere Erde das gleiche ^ild darstellte. Nur die ans der unübersehbaren Wassermasse ichwimmenden Bäume, welche mit ihren Wurzeln aus dem Boden gerissen waren, bewiesen, daß ich nicht au der Küste eines seichten Meeres der Steinkohlenperiode, sondern an den Ufern eines mächtigen Stromes stehe, welcher eben an der Arbeit ist, die Gebirgskette des kleinen Altai abzutragen und atomweise in's nördliche Eismeer -W wälzen, einen ganzen Erdtheil umzugestalten. Es war ein furcht bares, aber erhabenes Schauspiel, welches uus die ungeheure 4cansmutationskraft des Wassers veranschaulichte, und so manches "ordemonstrirte, was ohne Veranschaulichung schwer verständlich ist. 6ch hatte vor diesem schon große Ueberschwemmungen gesehen, ich wußte, welche Verheerungen die Weichsel anrichtet, wenn die Hoch wasser ihre Wogen schwellen; doch habe ich an ihr nie so gut die umgestaltende Kraft des Wassers studiren können, wie ich dieses bei Orskibor am Obi konnte. Bietet auch der „Vater Rheiu", wenn er im Frühlinge die Fes seln sprengt, welche ihm der Winter anlegt, ein so großartig schönes Bild, wie der Obi? Wird auch er zum Meere, dessen andere Küste bas menschliche Auge nicht sehen kann? Ich glaube ebeu, daß eine Ueberschwemmuug des Ob, welche'jetzt wohl noch keinem Menschen Aus alle» Welttheilen. VI. Jahrg. gefährlich ist oder Schaden bringt, zu den Schönheiten gehört, durch welche dieser Riesenstrom den Rhein übertrifft. Man macht sich gewöhnlich ganz falsche Vorstellungen von Si birien, und zwar einfach deshalb, weil man es nicht kennt, weil man bis jetzt zu wenig die Natur in diesem ungeheuren Lande studirt hat. Ich glaube es ist die Pflicht jedes Menschen, so viel an ihm ist, zur Aufklärung und Beseitigung von Jrrthümern beizutragen, und dazu sollen diese Zeilen dienen. Beispielsweise will ich hier eine solche falsche Vorstellung anführen, welche mir in Meyer's „neuem Konversationslexikon" aufgestoßen ist. Da steht Bd. 14. Seite 535, daß in Sibirien nur 75,000 Morgen anbaufähigen Bodens sind. Nun sind in den vier russischen Gemeinden des Kreises Minusinsk allein 52,185 Hektaren Ackerland: wenn nun in Sibirien Hunderte von Dörfern sind, deren Einwohner auf jede männliche Seele mindestens 3 Hektaren Acker haben, wenn aber Dörfer von 2 bis 300 männlichen Seelen zu den kleineren gerechnet werden, dann werden wir auch einen Begriff von der Glaubwürdigkeit habe», auf welche Konversationslexikonsangaben Anspruch machen können — nnd dennoch schöpft die große Masse ihre geographischen und ethno graphischen Kenntnisse hauptsächlich aus solchen Quellen.*) Ich will keineswegs behaupten, daß die Ufer des Ob eben so schöne Partien bieten, wie die Ufer des Rheins. Es mangeln ihnen vorzüglich die den Rhein begleitenden Gebirge, auf deren Felsengipfel sich Ueberrcste alter Burgen befinden, die sich im Wasser spiegeln; es mangeln ihm die große Anzahl reicher Städte mit dem geschäftigen Wirken ihrer Bewohner, das emsige Treiben eifriger Winzer, welche mit ihren Reben das Gelände schmücken und aus dem Felsen den edlen Rebensaft Herauszaubern, um mit ihm den Menschen zu erquicken. Dafür aber bietet er ein Panorama, wie es kein Fluß oder Strom Europa's bietet. Wild, wie die Gegend des Kleinen Altaigebirges, von dem herab sich die kleinen Flüßchen Katunja und Bija, aus deren Vereinigung der Ob entsteht, stürzen, ist auch die Gegend, die er in vielfachen Krümmungen und Windungen in der Hauptrichtung von Süd nach Nord, in einer Länge von nahe zu 550 Meilen durchströmt, um sich erst in vielfache, fast besondere Riesenströme bildende Arme zu theilen, und endlich, nachdem sich dieselben wiedergefunden und vereinigt, einen Busen des nördlichen Eismeeres die „Obskaja guba" (den Mund des Ob) zu bilden. Man wird sich die Größe des Stromes erklären können, wenn man bedenkt, daß er allein 16 Nebenflüsse von der Bedeutung des Irtysch und Tom aufnimmt, nicht gerechnet die zahllose Menge von Nebenflüssen und Nebenflüßchen, die seine Wassermenge vergrößern. Westsibirien, d. h. die Gouvernements Tobolsk und Tomsk, welche der Ob durchströmt, bilden ein sehr fruchtbares Tiefland, das wohl den Anschwemmungen des Ob und seiner Nebenflüsse seine Entstehung verdankt. Wenn man die Südkreise des Tomsker Gou vernements, Kaznieck, Bijsk und Barnaul abrechnet, welche einen gebirgigen Charakter haben, die wenigen Erhöhungen bei Tobolsk und Kolüwan außer Acht läßt, behält man eine ungeheure Ebene, welche häufig versumpft ist, im allgemeinen aber den geologischen Charakter der kirgisischen und barabinsker Steppe an sich trägt. Man muß sich sehr hüten, wenn man von einer Steppe Sibiriens hört, an dem durch die Schule beigebrachten Begriff festzuhalten. Die Steppen Sibiriens sind keine baumlosen grünen Wüsten, in denen man außer mannshohem Grase keine anderen Pflanzen sieht. In den sibirischen Steppen sind ganz respektable Wälder, in denen rie sige Birken von 30 bis 45 em. Durchmesser, bei einer Höhe von 15 bis 20 m. und Kiefern von 60 bis 90 ena. Durchmesser durch aus keine Seltenheiten sind. Der Russe, besonders der in Sibirien, bezeichnet mit dem Ausdrucke „Steppe" (Stjep) jede Ebene, welche nicht hohes aber süßes Gras produzirt, und ihm eine gute Weide für's Vieh liefert. Er mäht hauptsächlich niedrige Grasflächen, welche hohe Rietgräser (Ourwos) hervorbringen, da er hierdurch *') Wir glauben, daß in dem von tüchtigen Fachmännern mit Sorgfalt bearbeiteten und sehr brauchbaren Meyer'schen Werke hier nur ein Druckfehler oder vielmehr ein Korrekturfehler vorliegt; iu der Quelle — Stein's Handbuch 13