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^0. 30. Wöchentlich eine Nummer. Ltipziq, 27. April 1870. Vierteljährlich 18 Sgr. I. JalMlMY. Familicublatt für Kuder- und Mkcrkmide. Zu beziehen durch Rcdigirt von Der Jahrgang ^Buchhandlungen des In-u. Auslandes Dr. Otto D klitsch, (52 Nummern oder 12 Monatshefte) sowie Postämter. Privat-Docent und Realschul-Oberlehrer. läuft von Oktober zu Oktober. Zigeunerleben. Bon G. Wüller in Fürstenwalde. Es gibt kein Volk auf Erden, dessen Geschichte dunkler ist f die derZigenner. Es gibt aber auch kein Volk, mit dem f einem Jahrhundert so viel geliebäugelt und dem deshalb Müs dxs Publikums eine so allgemeine Theilnahme zuge- Mdet worden als den Zigeunern. Die berühmtesten Schrift- Efr der gebildetsten Nationen, Engländer und Deutsche, ^nzosen und Jtaliäner, Spanier und Portugiesen haben ihren "lern in Novellen, Romanen nnd Balladen das abenteuerliche, Meimnißvolle Wunder, die wunderbaren, altherkömmlichen ^ten und Gebräuche, die Licht- und Schattenseiten dieser Men, verkommenen Menschenrasse oft mit entschiedener Vor- M, seltener im Gefühl herber Verachtung, geschildert. Die ^^ten Musiker und Künstler Europa's haben uns in Gesängen M Opern, die, wie die Pretiosa, noch heute unsere Bücher Mn, in den lieblichsten Situationen, in den ansprechendsten Mleaux diese athletischen »nd elastischen, diese sonnigen, war- ! Gestalten vorgeführt. So sehen wir die Zigenner in be- z Micher Ruhe oder im heiteren Tanze beim nächtlichen Feuer- Mne in tiefer Waldeinsamkeit, so erblicken wir sie im glän- ! Men Mondenlichte, nach des Tages Last und Hitze, rauchend, Mausend und tändelnd in ihrem phantastischen Lagerleben, sorgens beim Frühroth sind sie wieder ans dem Marsch und ^gern aus dem duftigen Waldesgrün mit Weibern und Kin- M, Pferden, Eseln nnd Hnnden im bunten Gewirr über öde peppen, beim prallen, blendenden Sonnenschein bis zur kühlen ^acht. Genug, die bald bemitleideten, bald bewunderten, stets fürchteten Zigeuner haben lange Zeit in Europa, im wirk- "chen und im idealen Leben, eine Rolle gespielt! Name und Ursprung des Volkes sind ein Räthsel! Sie nennen sich Romeitschel, Kunnal-kahl, Pharaün oder Mte, d. h. Inder. Alle diese Namen weisen theils auf ihr Geschäft, theils auf ihren Stammsitz hin. Andere Völker haben sie andere Namen, die ebenfalls mit ihrer Abkunft, mit Mm ursprünglichen Wohnsitz Zusammenhängen. So werden sie ihrem Auftreten in Europa Hindukarusch, schwarze Inder, fuli, Bewohner von Kabul (der Hauptst. v. Afghanistan), Gyph- oi oderAegypter, PharaoNephek, d. i. VolkPharao's, genannt. Die Zigeuner sind jedenfalls ein Nomadenvolk, welches nach seiner Leibesbeschaffenheit, Sprache und Sitte ans Asien stammt. Aber Asien ist 800,000 HÜMeilen groß und schließt die verschiedensten Länder in sich. Unter diesen Ländern gelten mit Wahrscheinlichkeit die Tatarei oder Indien als Stamm sitz der Zigeuner. Andere Historiographen verweisen dagegen die Zigeuner mit ihrem Ursprünge nach Afrika und nennen Ae gypten als ihr Heimatsland. Die Zigeuner halten sich zu beiden Angaben neutral. Leiten sie ihr Herkommen von den Tataren ab, wie sie selbst in Holland und in den Niederlanden, in Schweden und in Dänemark ge- than, dann gehören sie dem großen Volksstamme an, der zwischen dem Kaspischen Meere und Hochasien wohnt. Das ovale Gesicht, die gelbliche Hautfarbe, die großen, schwarzen, glänzenden Augen, der kleine Mund, die blendenden Zähne, die dunklen, starken Haare, die schlanke, zähe Gestalt, das geschmeidige Wesen der Zigeuner scheinen allerdings für eine Blutsverwandtschaft mit den Tataren zu sprechen. Ebenso lieben die Zigeuner wie die Tataren Schmuck und Putz, alles Bunte und Grelle in der Kleidung, Hunde, Pferde und Waffen. Sind die Zigeuner mit den Tataren stammverwandt, dann sind sie vielleicht um das Jahr 1390 durch die Strenge und Grau samkeit wie durch die Raubgier ihres großen Eroberers, des Ta- merlan, aus ihren Sitzen verdrängt worden, haben freiwillig, um das liebe Leben zu retten, Volk und Heimat verlassen und sind mit Weib und Kind in die Weite gezogen. Stammen dagegen die Zigeuner — was wahrscheinlicher ist — von den Indern, worauf die Namen Sinke und Hindu karusch, worauf ihr scheues, unstetes, schmuziges und bettel- haftes Wesen, ihre kastenhafte Abgeschlossenheit gegen alles Fremde deutet, dann könnten sie in ihrer Heimat nur den un glücklichen Parias, diesen verachteten, zertretenen Söhnen des Ganges, angehört haben. Dann haben sie sich, da ein freieres, frisches Wanderleben in ihnen waltet, der heimatlichen Schande und dem schrecklichen Kastenelend, unter der allgemeinen Furcht vor dem herannahenden Schwerte des gewaltigen Tamerlan, durch eine freiwillige Auswanderung entzogen.