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1lv. 24. Wöchentlich eine Nummer. -^Leipzig, 16. März 1870. Vierteljährlich 18 Sgr. I. IllhrflllNfl. Flunilieiiblatt für Länder- und Dölkerüllnde. Zu begehen durch Redig,rt von Der Jahrgang alle Buchhandlungen des In-u. Auslandes I>1. Otto Delitsch, (52 Nnnnnern oder 12 Monatshefte) sowie Postämter. Privat-Docent und Realschul-Oberlehrer. läuft von Oktober zu Oktober. Kandia. Leine Oberfläche, seine Geschichte und seine Bewohner. Von Gustav Jaquet. Im östlichen Theile des Mittelländischen Meeres, an der Grenzscheide dreier Erdtheile — Europa's, Asiens nnd Afrika's und gewissermaßen ein Mittelglied zwischen ihnen bildend, Üegt, südöstlich von Morea oder dem Peloponnes, eine lang gestreckte, an Naturreizen und historischen Erinnerungen gleich seiche Insel. Kreta nannten sie die Alten, Kan dia heißt sie Üit den Tagen des später» Mittelalters bei den Abendländern, Uneben bestehen bei den Orientalen noch die aus dem Namen »Kreta" verstümmelten Bezeichnungen „Kryt" und „Kirid"; diese bei den Türken, den heutigen Beherrschern des Eilandes, lene im Volksmunde der Nengriechen. Schwer ist's, die Schönheit und Lieblichkeit dieses von Alters her hoch berühmten Eilandes zn schildern, welches sich, umwölbt von dem tiefblauen, fast beständig wolkenlosen Him- uiel des gemäßigten Südens, nnd von dessen balsamischen Lüften umfächelt, in der Form eines verschobenen Parallelogramms 1°der wenn man will, eines Hufeisens oder Halbmondes) aus den Fluten des Biittelländischen Meeres erhebt. In einer Ausdehnung von 33 deutschen Meilen zieht es sich von Abend Uach Morgen hin; seine Breite beträgt abwechselnd zwischen und 10 Meilen, sein Flächeninhalt etwa 180 lliMeilen; d"ch lauten, da nur Schätzungen, nicht trigonometrische Auf- fmhmen stattgefnnden haben, die Angaben sehr verschieden, wonach ist Kandia die viertgrößte Insel des Mittelmeeres. Mächtige Gebirgsketten durchziehen die nur wenige Gdeneu darbietende Insel in ihrer ganzen Länge. Im Westen hnd es die „Weißen" oder „ Sphakiotischen Berge"; ein Muchtenreiches, steil anstrebendes, wild zerklüftetes Gebirge, dessen Höhen fast ganz kahl und dessen Piks, bis zur Höhe vou ^00 m. über der Meeresfläche ansteigend, während eines ^rittheils des Jahres mit Schnee bedeckt sind. Der höchste dieser Spitzberge ist derjenige, welchen die alten Hellenen den ^da" nannten und auf den sie die Wiege ihres Götterge- ^Mchtes versetzten. Die heutigen Griechen nennen ihn den "Psiloriti", d. h. den „Ausgehöhlten Berg", weil sich "u seinem Fuße ein uralter großer Steiubruch, das durch die Mythe vom Minotauros bekannte „Labyrinth" befindet. — Das andere Gebirge führt den Namen der „Lassitifchen Kette". Es liegt im Osttheile des Eilandes und ist ein um 1000 in. niedrigeres, aus mehreren einzelnen an einander ge reihten Höhen bestehendes waldiges Gebirge, welches in seiner Mitte ein mehr als eine deutsche Meile langes und etwa halb so breites oblonges Hochthal einschließt, das nachweislich im grauen Alterthume ein Gebirgssee war. — Gänzlich abgesondert von diesen beiden Hauptketten befindet sich im Nordosten der Insel das nur einen kleinen Raum einnehmende, hohe, steile und stark bewaldete Küstengebirge von „Stia" oder „Seti a", im Alterthume „Dykte" geheißen. Zahlreiche Kaps gehen von ihm und den beiden andern Gebirgszügen aus, sämmtlich schroff und steil und meist auf kleinen, weit vorspringenden Halb inseln oder vorliegenden Nebeneilanden liegend, welche natür liche Häfen bilden, in denen die Schiffe dreier Erdtheile und die Flaggen der meisten seefahrenden Nationen Europa's sich begegnen. Von den beiden innern Gebirgsketten aber strömen zahlreiche Flüßchen und noch zahlreichere Bäche hernieder und fallen nach kurzem Laufe, meist von amnuthigen Ufern um säumt, in das Meer, welches hier nicht weniger als sechs große Busen (fünf an der Nord-, einen an der Südseite) bildet, von denen der Golf von Kanea der bedeutendste ist. Hier, zwischen dem ebengenannten Golf und dem Weißen Gebirge, breitet sich wie ein blühender Garten die fruchtbare, ewig grüne „Ebene von Kanea" aus; zur Zeit der Blüte Griechenlands das Gebiet der handelsmächtigen Freistadt Kydo- nia, deren Trümmer noch heute vorhanden, bildend. Eine herrliche Rundschau gewährend, steigt die Ebene mit ihren Oliven- und Weingärten, ihren Weizen- und Maisfeldern, ihren Bergteichen und silbernen Quellen, ihren Dickichten von Rhododendren, Oleandern und Rosen, ihren reizenden Gruppen von Pinien, Mastix- nnd Johannisbrot-Bäumen — mit dem ganzen malerischen Gewirr von Klöstern, Moscheen, Boll werken, Ruinen und den gelben, weißen und rothen Häusern und Hänschen der Stadt Kanea — allmählich hinauf zu jenen 24