Volltext Seite (XML)
Ein Besuch auf -er MWnsstation Coranderrk in Bictona, Australien, im Jahre 1869. Von Tycodor Müller. Meine Rückkehr nach Deutschland stand in nächster Zeit bevor und ich wollte Australien nicht verlassen, ohne einen Blick in die dasigen Missions-Verhältnisse gethan zu haben. Während meines zwanzigjährigen Aufenthalts in diesem Erdtheile, und besonders in den ersten Jahren, war ich viel mit den Eingeborenen zusammen gekommen, hatte sie in den Städten wie in ihren Lagerplätzen in der Wildniß beobachtet und theilte keineswegs die so allgemein ausge sprochene Ansicht, daß der australische Wilde der Civilisation unzu gänglich sei. Der ganz besonders ausgeprägte Trieb der Austral neger zur ungebundenen Freiheit war allerdings ein großes Hinder niß einer regelmäßigen Erziehung derselben, aber es gab schon hier und da einige wenige Ausnahmen, die zur Hoffnung berechtigten, durch vorsichtiges und geduldiges Vorgehen, besonders mit Berück sichtigung der jüngeren Generation, die Nachkömmlinge der so schnell dahinschwindenden Rasse für die Eivilisation zu gewinnen. Aber der Eigennutz und Vortheil der Europäer, die dem Eingeborenen die Länderstrecken seiner Stämme entzogen, um sie als Weideplätze für die sich riesenhaft mehrenden Herden zu benutzen, und die Rücksichtslosigkeit, oft Brutalität, mit welcher man vorging, selbst die schlechtesten Mittel nicht schenend, die armen schutzlosen Eingeborenen sich vom Halse zu schaffen, verlangten eine Entschul digung, um solche Thatcn einigermaßen zu rechtfertigen und das Gewissen zu beschwichtigen, und diese Entschädigung war gefunden in der eben so schnell als ungerecht hingestellten Behauptung: die Eingeborenen sind nicht civitisationssähig und daher unnütze und beschwerliche Geschöpfe. Hatte man sich erst diese Behauptung zu eigen gemacht, so hörte jede Rücksicht auf, und Australien hat in seiner Kulturgeschichte ebenso schwarze Thaten aufzuweisen wie sie in den Annalen der Kolonisationsbestrebnugen anderer Länder uns mit Schaudern erfüllen. Die Razzias oder Jagden, hoch zu Roß, durch welche ganze Stämme der Eingeborenen vernichtet wurden, sind den früheren Kolonisten bekannt, aber alle Schändlichkeiten überstieg die eine: unter dem Scheine des Wohlwollens den Eingeborenen vergiftetes Brot zu reichen und sie einem martervollcn Tode preiszugebcn. Man möchte einen Schleier über diese Thaten werfen, aber sie gehören der Geschichte an und dürfen nicht verschwiegen werden, denn sie kennzeichnen die Handlungsweise der Europäer und mildern die Ansicht über die Grausamkeit der „schwarzen Kannibalen." — Von einem Freunde, welcher auf der Missionsstation, die ich besuchen wollte, schon öfter gewesen und von der Familie des Missio närs sowie unter den dortigen Eingeborenen wohl gekannt war, begleitet, war ich von Melbourne aus mit der Post zu dem lieblich gelegenen kleinen Städtchen Lilydale (Lilienthal) gefahren und hatte in einem der beiden kleinen Gasthäuser übernachtet. Ein schöner Hcrbstmorgcn (es war im Monat April) sah uns schon frühzeitig zur Weiterreise fertig, die wir von hier aus zu Fuß zu machen hatten, und die große Heerstraße verlassend schlugen wir uns links in den Busch. Die Gegend war hügelig, die Thalfläche fruchtbar und von großen Bauerhöfen schon theilweise eingenommen und umzäunt. Wir machten in einem dieser Höfe Mittagsrast und erfuhren die lobenswerthestc Gastfreundschaft. Während wir Wohlgemuth und mit dampfenden Pfeifchen die parkähnlichen Gegenden durchwanderten, traten Plötzlich aus dem Gebüsche vor uns drei schwarze Gestalten, welche mit allen Zeichen nnverhehlter Freude auf meinen Freund zukamcn. „Halloh, Jimmy! Bob! Wo kommt ihr her?" fragte derselbe erstaunt. „Von der Station, Herr W., von der Station! Zwei unserer Mädchen sind entlaufen und wir hoffen sie wieder einzufangen", erwiderten sie in gutem Englisch und schüttelten meinem Freunde dabei herzlich die Hand. „Entlaufen? Ei, so erzählt!" rief dieser, und wir erfuhren nun, daß zwei schwarze Mädchen heimlich die Missionsstation ver lassen hätten, daß sie aber, da ihr Entweichen bald entdeckt, noch keinen großen Vorsprung haben könnten. Diese drei Eingeborenen waren nun zur Verfolgung ausgesandt, und da sie ans verschiedenen Gründen annahmen, daß die Flüchtigen nach der entfernten, am See Wellington Auö allen Welttheilen. V. Jahrg. gelegenen Missionsstation Ramahynk geflohen seien, so wollten sie deren Weg abschneiden, indem sie die kürzeste Richtung nahmen. Diese Richtung aber führte sie über die hohe Wasserscheidekette, ein Gebirge mit wilden Schluchten und steilen Höhen; ohne Pfad und ohne Zeichen, nur ihren scharfen Sinnen vertrauend, wollten sie die Richtung inmitten dieser Wildniß einhalten und, Tagereisen von hier, auf der andern Seite dieser mächtigen Gebirgszüge auf ebenerem Boden den Mädchen auflauern oder ihre Spur zu sicherer Verfolgung und endlicher Gefangennahme finden. Nur wer diese Gebirge, die „Oipxslanck Kongos" kennt, ist fähig, das Schwierige dieser Aufgabe zu beurtheilen, aber die Söhne der Wildniß schienen ihrer Sache gewiß zu sein, wünschten uns goock b^o und waren bald zwischen den Büschen unsern Augen entschwunden. Dieses Abenteuer wurde von uns nach allen Seiten hin besprochen, und obgleich wir nicht an der Wiederergreifung der beiden Mädchen zweifelten, da wir den erstaunenswerthen Scharfsinn der Einge borenen gar wohl kannten, so war es doch immer die Frage, ob die Verfolger in der Absicht der Mädchen sich nicht irrten. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich näheres über die Verhältnisse der beiden Stationen. Die Missionsstation Coranderrk, welche wir zu besuchen im Begriffe waren, stand unter der Leitung des englischen Missionärs Green, eines Mannes von großer Güte, aber auch von strengen religiösen Anschauungen, Wieman sie in der englischen Kirche so häufig trifft. Die in der Seelsorge sich ihm anvertrauenden Ein geborenen mußten einen gewissen, schon hohen Grad von Religions- übcrzeugnng besitzen, ehe er sie nur zur Taufe zulicß, und es durfte eine Heirat unter denselben nicht stattfinden, wenn nicht beide Theile getauft waren. Dagegen steht die Missionsstation Ramahynk, am Landsee Wellington, einem der großen schönen Gippsland-Seen, unter einem deutschen Missionär, namens Hagenauer, der unter den Schwarzen daselbst mit großem Segen*) wirkt. Weniger streng, aber ohne die Grundsätze der christlichen Religion dabei irgendwie zu verletzen, sucht er die zu halten, die der christlichen Lehre sich ergeben haben, und erfüllt nach Verhältnissen ihre Wünsche leichter, um sie dauernder an sich und den Glauben zu fesseln und sie zu nützlichen und sicheren Bewohnern der Station zu machen. Zwischen beiden Stationen gab es dann und wann einen Aus tausch durch eingeborene Boten, und es konnte nicht fehlen, daß anch die Gesetze beider Stationen unter den Eingeborenen besprochen wurden. Es lag also nahe, daß die Flüchtigen sich nach Ramahyuk gewendet hatten, mein Freund war dagegen der Ansicht, daß die Mädchen auf irgend einer nahen Farm sich versteckt halten und ihre Flucht erst daun beginnen würden, nachdem ihre Verfolger getäuscht zurückgekehrt sein würden. Er hatte Recht. Wenige Tage darauf kannte er ihren verborgenen Aufenthalt. Spät nachmittags überschritten wir den Coranderrk Creek nnd bald darauf sahen wir auf einer Anhöhe die Missionsstation. Mehrere der Schwarzen sprangen auf meinen Freund zu und begrüßten ihn mit lebhafter Freude, denn er war unter ihnen wohl gelitten. Sie lachten, umsprangen uns und geleiteten uns nach dem Wohnhause des Missionärs, auf dessen gastlicher Schwelle uns, in Abwesenheit ihres Gatten, Frau Green freundlich willkommen hieß. Die Station Coranderrk besitzt ein Areal von 550 Hektaren Land, außer dem Wohnhause des Missionärs ein Schulgebäude, dessen großer Saal als Bet-, Lehr- und Speisesaal benutzt wird, während die kleineren Räume zu Schlafzimmern der Kinder nnd der er wachsenen Mädchen dienen. Ungefähr 150 Eingeborene beiderlei Geschlechts und jedes Alters gehören zur Station, die unverheirateten jungen Männer wohnen in Baracken, die Ehepaare in bequemeren Hütten. Die Station erhält sich zum großen Theile selbst. Die Männer jagen, fischen, treiben Ackerbau und Viehzucht. Die Kolouialregierung bezahlt den Missionär, den Lehrer, liefert Kleider und Lebensunter halt, soweit letzteres nöthig, für die Kinder und spornt den Fleiß nnd die Lernbegierde derselben durch zeitweilige Geschenke an. Bereits waren neun Paare christlicher Schwarzer hier ge traut worden und Fran Green lobte die Mäßigkeit, Ordnungs- *) Vergleiche „Leipziger Jllustrirte Zeitung" vom 23. September 1871. 45