Volltext Seite (XML)
Beilage zu Nr. 274. 1889. Sonntag, den 24. November Der Erbe des Hauses. Roman non Hermine Frnnkenstei n. (d!achdrulk vcrbotcn.) (Fortsetzung.) Sie setzte sich auf einen Schemel zu Sir Arthurs Füßen und ihren kleinen, blvndeu Kopf an seine Brust lehnend, schaut sie gleich ihm gedanken- voll iu die Glut. Sir Arthur fuhr ihr mit der Haud liebkosend über den Kopf und schaute sie mit einem Blicke au, der sie erschreckt, hätte sie scheu können, wie voll Liebe uud hoffnungsloser Sehnsucht er war. „Heute sind es drei Wochen, lieber Onkel, daß Du Hugh geschrieben hast, nach Hause zu kommen," sagte Blanche sinnend. „Wie sonderbar ist's, daß wir noch nichts von ihm gehört haben! Kann ihm etwas geschehen sein?" Wie mit einem Zauberschlage verschwand bei der Nennung von seines Sohnes Namen der sehn suchtsvolle Blick aus dem Gesicht des Baronets uud ein Ausdruck bittersten Selbstvorwurfes folgte dem- selbeu. Seine alte Gewohnheit der Selbstbeherrschung war wieder gewonnen. Er vergaß sich in Gedanken an seinen Sohn, den er so sehr liebte und auf den er so stolz war. „Ich war unruhig, Blanche, über Hngh's Still schweigen," antwortete er, „aber es ist ganz leicht möglich, daß mein Brief anfgehalten wurde, oder daß Hugh eine der italienischen Inseln besucht hat. Ich meinte, daß ich heute einen Brief von ihm be kommen könnte und habe daher Purmton, den Ver walter, ins Dorf geschickt. Er muß bald zurück kommen." „Ich bin überzengt, er wird einen Brief bringen," rief Blanche. „O, ich bin überzengt, daß Hugh schon ans dem Heimwege ist. Ach, Onkelchen, glaubst Du, daß Du ihn nach seiner fünfjährigen Abwesenheit wieder erkennen wirst?" „Ihn erkennen, Blanche?" und Sir Arthur lächelte. „Glaubst Du, daß fünf Jahre ihn so ver ändert haben, daß sein Vater ihn nicht erkennen wird?" „Diese fünf Jahre sind keine gewöhnliche Zeit, Onkelchen, denn sie enthalten die Brücke von der Jünglingszeit zur Männlichkeit. Und Hugh hat, wie Du weißt, vor langer Zeit schon geschrieben, daß seine Krankheit in Deutschland ihn sehr ver ändert hat. Er hat Reisen gemacht und studiert. Als Knabe ging er fort — er kommt nach Hanse als Mann." „Das Alles ist wahr, Blanche. Ich bin vor bereitet zu finden, daß -nein Sohn sich im Aus sehen verändert hat; aber ich weiß, daß er sein altes, treues, gutes Herz, seine edle Seele und ehr lichen, festen Charakter zurückbringen wird. Seine Briefe beweisen das." Das Gesicht des Mädchen errötete leicht. „Ich bin neugierig, was er von mir deukeu wird," murmelte sie. „Er wird Dich für die schönste, edelste, —" Sir Arthur uuterbrach sich plötzlich, „kleine Blanche halten," sagte er ruhiger. „Und weißt Dn, warum ich meinen Sohn fortgeschickt habe, auf eine fremd ländische Universität — warum ich ihm durch fünf Jahre nicht gestattet habe, nach Hause zu kommen — warum ich mich seiner liebevollen Gesellschaft be raubt habe?" „Ich, — ich weiß es nicht!" „Kannst Du es nicht erraten, kleine Blanche?" und Sir Arthur nahm eine väterliche Zärtlichkeit an. „Ich hatte bemerkt, daß ein Knabe und ein Mädchen, die wie Bruder und Schwester erzogen werden, ge neigt wären, einander als solche ihr Leben lang zu betrachten; und wollte nicht, daß Du Hugh als Bruder, noch daß er Dich als Schwester betrachte. Kannst Du erraten warum, Blanche?" Die rosige Farbe des Mädchens vertiefte sich. Sie erbebte unter Sir Arthurs liebkosender Berührung und antwortete nichts. Der Baronet zwang sich fort zufahren. „Von dem Augenblicke an, als ich Dich in mein Haus nahm," sagte er, „eine schlanke, schwarzgekleidete, junge Waise, sehnte ich mich, Dich meine — Tochter zu nennen. Ich möchte nie gegen Deine Wünsche in Dich dringen, aber ich habe lauge davon geträumt, Dich als die Gattin meines edlen Sohnes zu sehen. Er ging fort, ein lebhafter, warmherziger Jüngling. Ich beabsichtigte, wenn Du ihn wiedersiehst, soll er ein schöner, liebenswürdiger, junger Mann fein, wie er es gewiß auch ist. Ich glaube, daß er über den meisten unserer Landjnnker stehen und von meiner unschuldigen uud reizenden kleinen Mündel entzückt sein werde, daß er um sie freien und sie gewinnen würde. Dn verstehst mich, Blanche? Nicht um alle Welt möchte ich Dich zwingen. Ich möchte Dich Hngh nicht heiraten lassen, außer Du liebst ihn, aber wenn Du ihu heiraten würdest und ich wüßte, daß ich Dich nie aus meinem Hause verliere, wäre ich ein sehr glücklicher Mann." Der kleine goldene Kopf an seiner Brust senkte sich etwas tiefer hinab. Es entstand eine kleine Pause, während welcher der Baronet mit sich kämpfte; und dann flüsterte die sanfte liebliche Stimme: „Ich möchte Dich nie verlassen, Onkelchen; und ich — ich habe Hugh lieb, und wenn er mich liebt — Du weißt, was ich meine —" Sir Arthur wußte es. Trotz der Freude, die ihre Worte seinem selbstlosen Herzen machte, durch zuckte ein Plötzlicher Schmerz seine schönen Züge. Ein bitteres Weh erfüllte seine Brust. Er fühlte in diesem Augenblicke, wie sehr er sie liebte. Die Leidenfchaft, welche eine ganze Lebenszeit in ihm geschlummert, hatte endlich, wie ein übervoller Strom ihre Bande gesprengt und seine Seele mit unwiderstehlicher Macht überflutet. Ihre argloscu Worte trafen ihn furcht barer als ein spitziges Messer. Dennoch erzwang er ein Lächeln auf seinen bleichen Lippen und sagte: „Hugh darf Dich nur sehen, um Dich zu lieben! Er kennt meine Wünsche, Blanche, und er weiß, daß er nach Hanse kommt, nm Dich zn freien!" Das Mädchen zitterte und ein schüchternes, seliges Lächeln verklärte ihr Gesicht. „Onkelchen," flüsterte sie sanft. „Ich kann Dir sagen, was ich mir selbst kaum zn gestehen wagte. Ich — ich habe über die Zukunft nachgedacht, die Du ersonnen hast. Und — und ich weiß, ich werde Hugh lieb haben. Jeder im Tressilian-Hof weiß Geschichten von seinem knabenhaften Mute zu erzählen. Er war mein Ideal." Ehe Sir Arthur antworten konnte, wurde an die Thür geklopft und ein Diener trat ein und über reichte einen Brief. Der Baronet nahm den Brief und entließ den Diener. „Er ist von Hugh!" rief Sir Arthur aus; „und er ist von Marseille gestempelt. Er ist aus dem Heimwege." Er öffnete den Brief und durchflog seinen Inhalt hastig. Wie der Leser weiß, war der Brief von Jasper Lowder geschrieben. „Mein Brief an Hngh hat sich verzögert," sagte Sir Arthur lesend. „Der gute Junge hat ein Abenteuer gehabt — eiuen Unfall, der bald verhäng nisvoll geworden wäre. Er hat an der Küste Sizi liens Schiffbruch erlitten. Sein Begleiter, Jasper Lowder, der junge Mann, der Hugh bei seinem Aben teuer in Baden zu Hilfe kam, wie Du Dich erinnern wirst, Blanche, und seither bei ihm geblieben ist, wurde verletzt uud — ist's möglich? Der arme Mensch! — Er ist blödsinnig geworden! Wie ent setzlich! Wenn der Verletzte unser Hugh gewesen wäre!" Blanche schauderte. „Es war eine merkwürdige Fügung, daß Hugh verhältnismäßig unverletzt davongekommeu ist," rief Sir Arthur aufgeregt aus. „Wie wunderbar er dem Tode entronnen ist! Er sagt, daß er krank und matt und angegriffen ist und daß er sich gar nicht ähnlich sieht. Ich kann mir es gut vorstellen! Er wird seine Reise mit großen Unterbrechungen machen und innerhalb einer Woche ankommen! Das ist der Inhalt seines Briefes, Blanche! Lies selbst." Er gab ihr das Schreiben in die Hand. Blanche las laut und langsam und ihre Thräuen fielen auf das Papier. Als sie fertig war uud Sir Arthur sie uicht zu beobachten schien, drückte sie einen flüchtigen Kuß auf die Unterschrift. Der Baronet sah es, aber er hatte sich jetzt bemeistert und vertiefte sich ganz und gar in den Brief seines Sohnes und die darin beschriebenen Gefahren. „Er kann schon morgen hier sein," sagte Blanche, strahlend vor Frende. „In jedem Falle wird er diese Woche kommen." Eine holde Zärtlichkeit verklärte das Gesicht des jnugen Mädchens. Er kehrte heim, der Held ihrer Träume! Welche Seligkeiten warteten ihrer. Der Baronet betrachtete ihre Freude mit mildem Lächelu. Seiue eigenen müßigen Träume verbauuend, beschloß er, für seiue Kinder zn leben — sein Glück in ihrem Glücke zn suchen — und den Schatten seines vereinsamten Lebens von ihrem Sonnenschein erleuchten zu lassen. „Ja, Hngh wird diese Woche zurückkehren," sagte er. „Wir müssen seine Heimkehr zu eiuem Freudenfeste gestalten. Vom Tode gerettet, wird es fast sein, als ob er uns ans dem Grabe znrück- kehrte!" „Ja, ja, lieber Onkel. Und der arme Jasper Lowder, ein hilfloser Blödsinniger — welch' ein schreckliches Wort!" und Blanche schauderte. „Er ist allein bei fremden Leuten, iu einem fremden Lande zurückgeblieben. Natürlich konnte er ihn nicht mit nach Hause briugeu. Aber es thnt mir weh, zu deukeu, daß der junge Mann, so gnt und edel — denn er rettete Hugh, uud Hugh hat uns geschrieben, daß er ihn liebe — in seiner Jugend so schwer ge troffen wurde. Das eriunert mich au eine jnnge Fichte,die ich unlängst sah, welche der Blitz zerstört hatte. Er wird nie wieder zu Verstand kommen. Oh, Onkel, wenn das Hngh getroffen hätte!" Blanches Augen füllten sich mit Thränen der Freude iu der Voraussetzung, daß der Sohn des Baronets diesem furchtbaren Geschicke entgangen war. Der Baronet und Blanche lasen den Brief, — den Brief Lowders — wieder und wieder. Sie freuten sich zusammen über seine wnnderbare Rettung — sie erinnerten sich au Anekdoten des jungen Wanderers, nnd waren neugierig, ob das Leben in der Fremde ihn sehr verändert haben werde. Sie sagten sich gegenseitig, daß sie ans Verän derung seiner äußeren Erscheinung gefaßt wären, daß sie aber wüßten, er bringe die offene Geradheit, die den Knaben ausgezeichnet hatte, wieder mit sich heim. Mit achtzehn Jahren hatte er viel versprochen. Der Baronet glaubte, daß er seine glänzenden Ver sprechungen gehalten habe. Die Beiden saßen zusammen, bis die späte Stunde sic mahnte, zur Ruhe zu gehen. Sir Arthnr entließ sein Mündel endlich, nach dem er ihr den gewöhnlichen Gutenachtkuß gegeben hatte. Blanche verließ ihn zögernd und ging bald darauf zu Bette. Sie lag noch viele Stunden wach in mädchenhafte Träumereien versunken und als sie endlich einschlief, träumte sie abermals von Hugh Tressilian. Und Sir Arthur ging stundenlang in dem Stu dierzimmer auf und ab; vergeblich kämpfend, seine Liebe für Blanche — deren Existenz und Größe er jetzt erst inne geworden war — aus seinem Herzen zn reißen nnd an seinen wiederkehrendcn Sohn zu denken und sich zu fragen, ob Hngh der lieblichen, unschuldigen Blanche wert sein werde. Inmitten all' seiner Freude, ob der erwarteten Rückkehr seines Sohnes, beschlich ihn ein dunkles Gefühl wie die Ahnung eines Unglücks. Es war, als ob irgend ein Schutzengel ihm die Wahrheit sagen wollte. Und das dunkle Gefühl, welches er sich nicht erklären konnte, wurde immer trüber und trüber. 10. Kapitel. Olla stößt auf ein Geheimnis. Der arme Hugh Tressilian hatte einen liefen und dauernden Eindruck auf das großmütige und warme Herz Olla Rymple's gemacht. Sie war auf dem gan zen Heimwege sehr still und gedankenvoll. Auch bei Tische, wo sie ihren Vormund seit dem Frühstück zum ersten Male wieder sah, war sie sehr schweigsam und ebenso in dem Salon, wohin Herr Gower sie nach dem Speisen führte. Auch Herr Gower sprach wenig; aber seine Ruhe war die des tiefsten Nergers. Er war zornig über Olla's Benehmen, zornig, daß sie nicht zu Hause war, um ihn zu begleiten, als er seine tägliche Spa zierfahrt machte, und zornig, daß sie seine Gegenwart jetzt so wenig beachtete. Endlich, als sie in dem großen alten Empfangs zimmer saßen und Olla ihr gedankenvolles, kleines Gesicht in die Hände stützte, brach sich sein Aerger Bahn, und er sagte mit höhnischem Nachdrucke: „Verzeiht Olla, wenn ich Euch meine scheinbar vergessene Persönlichkeit in Erinnerung bringe, aber Ihr würdet mir ein Vergnügen machen, wenn ihr die reizende, italienische Arie fingen wolltet, die Ihr die sen Morgen eiustudiert habt!" Olla erhob ihren kleinen, schönen Kopf mit den dunklen Zöpfen und schaute ihren Vormund mit gedankenvoller Miene an. „Ich bitte um Entschuldigung, Herr Gower," sagte sie; „aber habt Ihr zn mir gesprochen?" Zornige Nöte bedeckte Herrn Devereux Gowers Wangen. Seine Augen blitzten. „Ich habe zu Euch gesprochen," sagte er finster. „Was ich gesagt habe, das bleibt sich gleich. Ich werde es jetzt uicht wiederholen. Ihr bietet gerade so viel Gesellschaft, als diese Statuette dort. Soll ich Enee sonderbares Schweigen als vorsätzliche Beleidigung oder Mißachtung deuten?" „Gewiß nicht," sagte Olla ernst.