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legte somit Zeugnis ab für die Wahrheit des Spruches: „Gottes Wort und Luthers Lehr' vergehet nun und nimmermehr." — Lengefeld. Seit einiger Zeit ist hier ein etwa 35 bis 40 Jahre alter taubstummer böhmischer Bettler, welcher an den Füßen gelähmt ist und die Hälfte des linken Armes verloren hat, im Gefäng nis untergebracht, über dessen Herkunft zur Zeit noch Dunkel schwebt. Derselbe will, wie aus einigen bei ihm vorgefundenen Bettelbriefen ersichtlich, Johann Noworny heißen und bei Prinz Benjamin Rohan in Lissa a. E. Paradekutscher gewesen sein. Bei einer Paradefahrt von Lissa nach Brandeis am 3. März 1871 seien die Pferde scheu geworden und sei das Gefährt in die Elbe gestürzt, wobei er gelähmt, stumm und taub geworden sei und die linke Hand verloren habe. Auf eine an die Behörde zu Lissa gerichtete Anfrage hin ist aber die Antwort eingelaufen, daß alle diese Ängaben falsch und erlogen seien und die Persön lichkeit dort ganz unbekannt sei. Das Verhör ist ein sehr umständliches, da dasselbe nur schriftlich statt finden kann und der Mensch auf alle Fragen immer wieder auf: „Im Wald gefunden, Prinz Rohan und Lissa a. E." zurückkommt. Im übrigen scheint er bei vollem Verstand zu sein und man kann es hier ebenso mit einem Unglücklichen, als mit einem abgefeimten Schwindler, der sich verstellt, zu thun haben. — Hainichen, 30. Okt. In der Nacht zum 29. Oktober ist das dem Fabrik- uud Gutsbesitzer Seidel in Langenstriegis gehörige Gut mit Fabrik räumen niedergebrannt. Die Entstehungsursache ist noch unbekannt. — Meißen, 31. Oktober. Seit langem ist dem heutigen Neformationsfest in unserer Stadt, dem einstigen Sitz der Mark-, Burggrafen und Bischöfe, deren letzter, Johann von Haugwitz, die Einführung der Reformation gestatten mußte, mit der regsten Teilnahme entgegengesehen worden. Die Jubelfeier ward gestern eingeleitet durch einen Abendgottesdienst, welcher namentlich der Reforma tionsgeschichte mit besonderer Anwendung auf die Einführung der Reformation in Meißen gewidmet war. Früh 8 Uhr versammelten sich die hiesigen Vereine, Innungen, Feuerwehr und Militürvereiue, um unter Vorantritt zweier Musikchöre mit ihren Fahnen und Standarten durch die reich beflaggten und dekorierten Straßen nach der Kirche zu ziehen. An dem Festzug beteiligte sich auch die Fürstenschule mit ihren Lehrern und Zöglingen. Am Nachmittag versammelte sich vor ihren Schulen die hiesige Schuljugend, um ebenfalls sich unter Musik nach Ler Kirche zu begeben. Es machte einen erhebenden Eindruck, als zirka 1000 Kinderstimmen das Luther lied: „Ein' feste Burg ist unser Gott" anhoben. Links und rechts der Elbufer brannten abends Pech feuer und überall tauchten auf den Höhen ringsum Frcudenfeuer auf. Eine große Men schenmenge, herbeigekommen aus Stadt und Land, wogte in den Straßen auf und ab. Luthers Aussprüche und Bildnis waren vielfach an den Fenstern zu erblicken. Zeitweilig erglänzte von den ringsum angebrannten Buutfeuern die Albrechtsburg im magischen Reflexlicht. Einen besonderen Eindruck machte die terrassenförmig gebaute, im Lichtermeere erglänzende Stadt auf die Beschauer rechts der Elbe. Allerdings hätte sich das Bild noch prächtiger gestaltet, wären das Schloß und der Dom ebenfalls erleuchtet worden. 8 Berlin, 1. Novbr. Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin begaben sich gestern um 11 Uhr vormittags mit den griechischen Majestäten nach dem Piräus, wo in dem Seepavillon Familientafel stattfand. Um 1 Uhr erfolgte die Verabschiedung und Einschiffung an Bord der „Hohenzollern" und des „Kaiser". Die Reise längs der Küste bis Suniou erfolgt unter Geleit der englischen und der italienischen Flotte, die Ankunft in den Dardanellen wird voraus sichtlich heute Mittag erfolgen. — Die Nachricht, daß Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin auf dem Rückwege von Konstantinopel über Italien gehen werden, hat, wie der „Krz.-Ztg." aus Wien geschrieben wird, dort um so angenehmer überrascht, als sich daran die Hoffnung knüpft, daß die Allerhöchsten Herrschaften auch Wien berühren werden. Es würde eine solche Entschließung hier lebhaft begrüßt werden und wesentlich dazu beitragen, das Band, welches zwischen der. Reichen sich geknüpft hat, noch fester und inniger zu gestalten. Z Ueber den flüchtigen Kommis Otto Döring aus Berlin, welcher die Baukfirma Albert Schappech und Comp. um 95000 Mark bestohleu hat, teilen dortige Blätter noch folgendes mit: Herr Schappech war mehrere Tage verreist und wollte über den No vember hinaus förtbleiben. Weil er mit den Leist ungen des Döring zufrieden war, so hatte er dem Prokuristen bei der Abreise einen Brief für Döring hinterlassen, in welchem ihm von einer Gehaltszu lage Mitteilung gemacht war. Anstatt daß Döring nun von dieser ihm zugedachten Ueberraschung Kennt nis erhielt, hat er seinem Chef die Ueberraschung ganz anderer Art bereitet. Charakteristisch für Döring ist, daß er seinen Bekannten gegenüber sich als Frömm ler gerierte, gewöhnlich seine Briefe mit der An sprache einleitete: „Mein lieber Bruder in Christo," und sie mit „Dein armes Sünderlein in Christo" zu unterzeichnen pflegte. 8 Der Czar geruhte bekanntlich dem Reichskanzler Fürsten Bismarck eine Dose zu schenken. Wie dem „Grashdanin" aus Berlin berichtet wird, hat das Geschenk einen Wert von 24,000 Mk. 8 Dem Reichskanzler ist ein Gesuch eines deut schen Industriellen-Vereins zugegangen, worin die Bitte ausgesprochen wird, bei den Militär-Verwal tungen dahin zu wirken, daß bei Einberufungen die bezügliche Ordre den Mannschaften des Beurlaubten standes in einer der Dauer der Einberufung entspre chenden Frist vor Beginn der Uebung zugestellt werde. Das Gesuch ist eingehend begründet; darin wird aus geführt, daß die Unternehmer industrieller Betriebe oft in der empfindlichsten Weise geschädigt werden, sogar unter Umständen ganze Betriebs-Abteilungen eingestellt und Arbeiter entlassen werden mußten, weil ein technischer Betriebsbeamter plötzlich einberufen wurde. Diesem Uebelstande, der zu einer wahren Drangsal für gewisse Industriezweige geworden ist, konnte abgeholfen werden, wenn die Bezirkskomman deure angewiesen würden, die Einberufungsordres so frühzeitig zu erlassen, daß der Betriebsunternehmer sich darauf einrichten kann. Bisher wurden die Re klamationen über die persönlichen Verhältnisse der Einberufenen berücksichtigt. Die Berücksichtigung in dustrieller Gesichtspunkte wäre eine Neuerung von Belang. 8 Die sozialdemokratische Partei des Reichs tages hat einige Zusätze bezw. Aeuderungen zum Uufallversicherungsgesetze beantragt. Dieselben gehen dahin, die 13-wöchige Karenzzeit, sofern das Heil verfahren vor Ablauf derselben beendet ist, um den entsprechenden Zeitraum zu verkürzen, ferner im Falle einer Tötung, sofern der Betroffene sich bereits im Geguß einer Unfalls-Rente befand, der Berech nung der Leistungen nicht nur das Arbeitsverdienst des letzten Jahres, sondern die Summe desselben und der Rente zu Grunde legen, endlich Strafbe stimmungen aufzunehmen gegen Unternehmen (bezw. Angestellte), welche durch Verträge oder Arbeits ordnungen oder bei der Lohnzahlung Arbeiter, hin sichtlich der Vorteile aus dem Unfallversicherungs- Gesetze verkürzen. 8 Die Fraktionsliste des Reichstages ist erschienen. Die Frakuoa der Deutschkonservativen zählt 75 Mi'glieder (darunter auch den neuen Abge ordneten für den elften Wahlkreis des Königreichs Sachsen, vr. Giese) und einen Hospitanten (den Grafen v. Schlieffen-Schlieffenberg). In der Fraktion der Reichsparlei sitzen 39 Mitglieder, u. A. auch die neu gewählten Abgg. Landgerichtsrat Frhr. v. Gültlingen (7. Württemberg) und Bürgermeister a. D. John (8. Magdeburg). Die Nationalliberalen besitzen 9l v itglieder (darunter den neuen Vertreter für 2. Mecklen burg-Schwerin, Senator Brunnengräber) und zwei Hospitanten (Keller-Württemberg und vr. Petri); die Freisinnigen 35 Mitglieder. Das Centrum hat 99 Mitglieder (u. A. den neuen Abgeordneten für Crefeld, Rechtsanwalt Bachem) und vier Hospitanten: Baron v. Aruswaldt-Böhme, Baron v. Arnswaldt-Harden- bostel, Graf Bernstorff und Frhr. v. Scheele. Die Polen sind 13 Mitglieder stark, die Sozialdemokraten 11, die Elsaß-Lothringer 14. Fraktionslos sind: Or. Boeckel, Ur. de Ahna, v. d. Decken, Hildebrand, Frhr. v. Hornstein, Johannen, Kröber, Frhr. Lang- werth v. Simmern, v.Levetzow, Retemeyer und Thomsen (früher freisinnig). 8 Auf dem Kurischen Haff hat am Mittwoch ein orkanartiger Sturm gewütet, der während der ganzen folgenden Nacht anhielt und ungeheuren Schaden an Fischereigerätfchaften angerichtet hat. 8 Ludwigslust, 1. Novbr. Die Güterzüge 307 und 334 sind heute Morgen bei Boizenburg zusammengestoßen. 22 Wagen wurden zertrümmert. Der Verkehr kann infolgedessen nur bis Boizenburg aufrecht erhalten werden. 8 Pinneberg, 1. Novbr. Der Baumschulen besitzer Wegener wurde in Tangstedt ermordet mit durchschnittener Pulsader im Bache aufgefunden. 8 Spandau, 1. Nov. Zur heutigen feier lichen Enthüllung des Denkmals, das die Mark Brandenburg dem Kurfürsten Joachim II, anläßlich des vor 350 Jahren erfolgten Uebertritts desselben zum Protestantismus errichtet hat, sind Glückwunsch- Telegramme des Kaisers und der Kaiserin einge gangen. Der Kaiser telegraphierte: „An der Feier der Enthüllung des Standbildes meines Ahnherrn, Joachim II., spreche ich dankend und Segen wünschend meinen herzlichsten Anteil aus." Das Telegramm der Kaiserin lautete: „Dankbar bewegt begehe ich in der Ferne den Tag der Enthüllung des Denkmals des Kurfürsten Joachim II. und wünsche der Feier Weihe und Segen." * * Ans Murom in Rußland berichtet die Petersburger Zeitung: Vor dem Muromer Frie densgericht hauen sich dieser Tage der Betriebschef Jantschewski und der stellvertretende Stationschef Solowjew wegen dienstlicher Vergehen zu verant worten. Jantschewski hatte vor einiger Zeit einen bereits zwei Werft von Muron befindlichen gemisch ten Zug mit Postwaggon wieder nach Muron zurück kehren lassen, damit ein Bekannter von ihm, welcher sich zur Geburtstagsfeier eines Eisenbahnbeamten auf eine der nächsten Stationen begeben wollte, den Zug noch benützen könne. Bon dieser Eigenmäch tigkeit Jantschewski'S an zuständiger Stelle Anzeige zu machen hatte aber Solowjew unterlassen. Der Frie densrichter dekretierte beiden Beamten eine Geldstrafe. * * Paris, I. November. Dem „Figaro" zufolge, hätte sich die Erzherzogin-Witwe Stefanie an den Papst gewandt, um den Widerstand des Kaisers gegen ihre Wiedervermählung mit einem ungarischen Grafen zu brechen. * * Aus Bern wird telegraphiert: Die Nach richt verschiedener Zeitungen, der Bundesrat Droz habe mit dem Berichterstatter eines Pariser Journals eine Unterredung über das Verhältnis der Schweiz zu Deutschland gehabt, entbehrt der Begründung. Die angebliche Unterredung hat nicht stattgefunden, dagegen werden im Bundesrate die jetzigen Bezieh ungen der Schweiz zu Deutschland als sehr gute bezeichnet. Von einem angeblichen baldigen Beginn der Unterhandlungen über den Niederlassungsvertrag mit Deutschland ist nichts bekannt. * * Auch in Rom droht eine Ueberschwemmungs- not. Infolge heftiger Regengüsse droht der Tiber aus seinen Ufern zu treten und das niedrig gelegene Stadtviertel zn überschwemmen. — In der spanischen Provinz Murcia ist die Segura über ihre Ufer ge treten und hat weitere Landstrecken üeberschwemmt. * * Aus Aachen, 30. Okt., wird mitgeteilt: Im holländischen Nachbarorte Vaals stürzte heute Nacht das frühere Rathaus ein, das jetzt als Miet haus benutzt ward. Die sieben Bewohner wurden gerettet und sind alle unverletzt. * * Die „Post" meldet aus Gallipoli: Ein Erdbeben, das wenig Schaden anrichtete, wurde, wie der Dardanellen-Agent des Lloyd telegraphiert, am Sonnabend hier verspürt. Auf der Insel Mytilene wurde ein Leuchtturm zerstört. Dort soll auch der Verlust von Menschenleben zu beklagen sein. * * Athen, 1. November. Die Ankunft des Kaisers in den Dardanellen erfolgte heute mittag. Die Reise längst der Küste bis Sunion erfolgte unter Geleite der englischen und italienischen Flotte. * * Kronprinz Konstantin von Griechen land hat, wie mau weiß, in Deutschland nicht nur seine weitere militärische, sondern auch seine akademische Ausbildung erhalten. Er studierte in Heidelberg und Leipzig. In der Neckarstadt war er sogar ein stolzer Korpsstudent, dem der weiße Stürmer vortrefflich zu Gesichte stand. Die Verbindung, die den Kronprinzen zu den ihren zählen darf, ist das Korps Saxo-Borussia, auf deren Wappen mau den Wahlspruch liest: „Virtus 8ola bonorum oorona." (Tapferkeit ist allein der Güter Krone.) * * Glasgow, 1. November. Während des heutigen heftigen Orkans stürzte eine große Tapisse- riefabrik ein; mehrere Arbeiterinnen wurden unter den Trümmern begraben. Einzelheiten fehlen. * * Redende Puppen. Puppen, welche gehen können, welche die Augen verdrehen und den Mund öffnen, sind schon dagewesen, aber Puppen, welche Reden halten können, verdankt man erst der Erfindung des Herrn Edison. Man denke sich eine Puppe, die im Stande ist, eine Gardinenpredigt zu halten. Dergleichen Ungetüme produziert eine ameri kanische Gesellschaft, die Edison Phonograph Toy Mann Facturing Company in Boston, mit einein Ka pital von 4 Millionen Mark. Herrn Edisons Fabrik liefert 300 Sprechapparate täglich, doch hofft er mit der Zeit 3009 zu produzieren, und Abnehmer für 100,000 Sprechpuppen sind bereits gesichert! Ein Herr Allion bereist Europa und sucht kulturfähige Puppen. Diese werden unter den Händen geschickter Domkee's in sprechende Geschöpfe verwandelt, in Pup pen zweier Gattungen, für gute und für böse Mädchen. Die letzteren erhalten Puppen, welche das Vaterunser, außerdem eine Sammlung Bibelverse hersagen und Aussprüche ans den Predigten berühmter Kanzelredner zitieren können. Gute Mädchen erhalten Puppen, deren Sprechorgan nur artige und fröhliche Sachen enthalten. Die Schwierigkeit ist nur, in dem unge heuren Stoff eine gediegene Auswahl zu treffen. Dann soll es Puppen geben, die gelehrte Zwiegespräche über die Vorteile und Nachteile des elektrischen Wechsel stromes und Gleichstromes, die Menschenrechte, den Staatssozialismus und dergl. halten. Sie sind für Damenpensionate bestimmt und sollen höheren Töchtern die Repetitoren ersetzen. Auf diese Weise hofft man das weibliche Geschlecht von der Kinderstube an zu emanzipieren. Wetter-Ausfichte» auf Grund der täglich veröffentlichten Witterungs Thatbestände der Deutschen Seewarte. (Nachdruck verboten.) 3. Nov: Stark bewölkt mit Niederschlägen, früh etwas neblig, windig, zum Teil hell und sonnig, aber meist trübe; mittags schwache Wärme, sonst kalt, windig. Strichweise Reif und Nachtfrost im Norden nnd Osten. 4. Nov: Vorwiegend trübe und kalt mit Nebcldnnst und Regen, zeitweise Sonnenschein, mäßiger Wind, nachts strichweise Frost im Norden und Osten.