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Lichlmslem-LallnbmM Tageblatt Ibjtlir !0. Jahrqang. Sonntag, den 20. Oktober- Beilage zu Nr. 246 1889. ksmnit?: ti: ^Visn: 4. t^buost" lömnit?: trkt 179 t" 8twtt., elm ffnkr. n von mid -i, V^ion: i VVionar tts leinen nn. Uhr. -4 DHWü >!-W Toilettenbericht noch über den größten Liebesroman geht. Die Berlinerin liest sehr viel, indessen auch nur dasselbe, was ihre Mitschmestern in der Provinz lesen, aber von Bücherläufen ist hier gerade so viel nnd so wenig die Rede, wie anderswo. Selbst die sogenannten gutsituierten Kreise leihen sich mit liebens würdigster Harmlosigkeit vielfach von anderen Bücher und machen ein entrüstetes Gesicht, wenn sie nach Wochen und Monden an die Zurückgabe beschcidcnt- lich erinnert werden. In so vielen Gesellschaften sieht man auf dem Salvntische die neuesten Litteratur- Erscheinungen in Prachtband mit Goldschnitt liegen, und wenn die Sache bei Licht betrachtet wird, dann sind sie eben vom Buchhändler, bei welchem man auf „Bazar" oder „Gartenlaube" abonnierte, zur Ansicht erbeten. Am nächsten Morgen wandern die „dummen Bücher" dann wieder retonr. Ja, ansgegeben wird in Berlin für Gesellschaften genug Geld, aber nobel sind sie deshalb noch lange nicht alle. Hontag, ik längen: Suchen fand man den Aermsten in einer kleinen Grenzfestung auf, wo er seine Tage in einer engen Zelle, init monotoner, geisttötender Handarbeit be schäftigt, dahinträumte. Das Schicksal, welches ihm ein so grenzenloses, trauriges Los beschiedeu Halle, schien aber einen Teil seines Unrechts wieder gut machen zu wollen. Als man nämlich den unschuldig Leidenden fand, bot er einen höchst sellsamen Anblick dar: seine Haare hingen in langen, dunklen Strähnen bis zu den Knieen herab; denn die Beamten jener Festung hatten es während der 12jührigen Haft nicht ein einziges Mal geschnitten. Und nun ist es nach einem wochenlangen, heißen Kampfe der sämtlichen Dime-Museen des Landes endlich einer dieser Schau buden gelungen, den Freigelassenen zu gewinnen, um ihn als „die verfolgte Unschuld mit laugen Haaren" oder „den Spielball des Schicksals" öffentlich auszu stellen. Das Museum hat diese neue Kuriosität vor läufig auf zwei Jahre, und zwar mit einem Wochen- houorar von nicht weniger als 40 Dollars verpflichtet. * Großartige Unterschlagung. Vor sieben oder acht Jahren hinterlegte ein Südamerikaner namens Elizalde bei der Bank von Frankreich 450,000 FrkS. Bald darauf wurde er geisteskrank und in der Anstalt des Irrenarztes Ur. Blanche untergebracht, wo er mit seinen Geldangelegenheiten sich nicht mehr beschäftigte. Ein Angestellter der Bank, welcher sah, wie die Zinsen zum Kapital sich schlugen, ohne daß irgendjemand darum sich kümmerie, faßte den Plan, eines Teils der Summe sich zu bemächtigen. Wie er ihn durchgeführt, ist noch nicht bekannt; so viel aber ist klar, daß er im Januar einen Elizalde gezeichneten Empfangschein auf Papiere der Bank überreichen ließ und dadurch in den Besitz von 260,000 Frks. gelangte. Wenn der Wahnsinnige nicht gestorben wäre, so hätte der Betrug vielleicht unbemerkt bleiben, und der Thäter mit dein Gelde in Sicherheit sich bringen können; allein er scheint in den ersten Monaten den Mut zur Flucht, durch welche man auf die Spur des Diebstahls hatte gelangen können, nicht gehabt zu haben, nnd er lüß den günstigen Augenblick vorübergeheu. Ende Juli starb Elizalve bei dem Ur. Blanche, und nun wurde der Notar, welcher die Hinterlassenschaft zu ordnen hatte, gewahr, daß die Bank einen erheblichen Teil des Vermögens seines Klienten verwahrte. Als er aber deshalb auf der Bank vorsprach, wurde ihm geantwortet, 260,000 Frks. des Depots wären im Januar bezogen worden. Sonderbarerweise fand sich aber die Empfangsbescheinigung nicht mehr vor, was zu dem Verdachte führte, cm Angestellter des Hauses müsse Vie Hand Mit im Spiel gehabt haben. Vor sichtige Nachforschungen ergaben, daß der Fälscher und Dieb ein gewisser Jollwet war, welcher 3000 Frks. jährlich verdiente, früher sehr ärmlich gelebt, seit dem Januar aber große Ausgaben gemacht, eine schöne Wohnung gemietet, sie elegant möbliert und alles bar bezahlt hatte. Hier fand die Polizei keine Wertpapiere, bei der Mucker Jollivets hingegen zog sie ein Bündel von zwanzig Täusend-Franksscheineu unter einem Schrank hervor, welche, wie die Frau versicherte, das Resultat einer günstigen Börsenvperativu waren. Nun wurde Jvllivet verhaftet, und er bekannte sich nach einigem Leugnen zu der That, die er so schlau auö- geführt hatte, daß mau sich wundert, wie er nachher so unvorsichtig sein und bei einer unverändert beschei denen Stellung durch thörichte Ausgaben den Verdacht auf sich lenken konnte. 180,000 Frks. sind in einer feuerfesten Kasse verwahrt, die Jvllivet beim Crädit Lyonnais gemietet hatte, und 30,000 in einem andern Kreditinstitut angelegt. * Zu einem Bildhauer in Meißen kam dieser Tage eine Frau vom Lande und bestellte für ihren verstorbenen Manu einen Leichenstein. „Soll ich am Schluß einen Satz schreiben, vielleicht „Auf Wieder sehen?" sragte der Bildhauer. Starr sah die Frau den Frager an und erwiderte dann schnell: „Das fehlte gerade noch, schreiben Sie nur einfach „Ruhe sanft". * Ein heiteres Vorkommnis aus den letzten bay rischen Manövern wird in Offizierskreiseu erzählt. Ein bayrischer Prinz trug nach einem heißen „Gefechts tag" das Verlangen nach einem Bad im fließenden Wasser. Nachdem er in einer ländlichen Badeanstalt diesem Verlangen Befriedigung verschafft, erkundigte er sich beim Weggehen nach der „Schuldigkeit." „Wann's Dei Badhos'u mitgebracht hast, zehn Pfen nig, sonst zahlst fünfzehn!" lautete der Bescheid der jugendlichen Bademeisterin, welche den hohen Herrn nicht kannte. Lachend versicherte der Prinz, er werde daö nächste mal nicht verfehlen, die Badehose mit zubringen, um billiger wegzukommen. Vermischtes. * Verdaulichkeit einiger Käsesvrten. Käse ist mäßig genossen, ein wichtiges Nahrungsmittel und für die Vvlksnahrung warm zu empfehlen. In keinem anderen Nahrungsmittel wird das Eiweiß für einen gleich niedrigen Preis geboten. Mau kann annehmen, daß magerer deutscher Käse ungefähr die vierfache Menge verdaulichen Eiweißes enthält, wie eine für denselben Preis erhältliche Menge mageres Rindfleisch. Wenn trotzdem der Käse von vielen Leuten wenig oder gar nicht genossen wird, so hat dies zum Teil seinen Grund darin, daß man dieses Nahrungsmittel für schwer verdaulich hält. Hierüber hat nun von Klenze interessante Versuche vvrgeuommen, indem er die verschiedenen Käseprvben einer künstlichen, der natürlichen möglichst ähnlichen Verdauung unterwarf, worüber er in der „Milch-Zeitung" eingehend Bericht erstattete. Untersucht wurden Allgäuer, Emmeuthater, Ramadour, gewöhnliche Handkäse, echter Emmeuthater, Cheddar, Roquefort, alter magerer Schweizerkäse, Brie, handelsreifcr Edamer, Neuschateler und unreifer mag erer Schweizerkäfe, v. Klenze schließt aus seinen Ver suchen, daß die Vollständigkeit der Verwaunug keines wegs allein von der Zusammensetzung, sondern in erster Linie von dem Neifezustand abhängig ist. Den Magerkäsen wird dadurch ihre Stellung als eiweiß reichstes und dabei gut verdauliches Nahrungsmittel vollständig gewahrt. Gut ausgereifter Käse steht demnach am besten ansgenutzten Nahrungsmitteln, Fleisch und Eiern, an Verdaulichkeit mindestens gleich und wird dadurch zu einem überaus wertvollen Nahr ungsmittel. * In Ungarn, namentlich in Budapest bringt gegenwärtig die öffentliche Meinung einem Manne Ovationen dar, welcher schon zu wiederholten Malen sich als großherziger Förderer ungarischer Kultur- Bestrebungen erwiesen, und der kürzlich wieder 100000 Gulden zu wissenschaftlichen Zwecken gespendet hat. Nach Berichten ungarischer Blätter soll sich in jener Sitzung der Akademie, in welcher die große Schen kung des Herrn Andor v. Semsey bekannt gegeben wurde, folgende hübsche Scene ereignet haben: Der Vorsitzende legte den Brief Andor v. Semseys vor, in welchem dieser I00 000 Gulden für wissenschaft liche Zwecke anbietet. Kräftige Eljenrn.se ertönten im Saale, die sich mehrmals erneuerten, als der Präsident die zehn Preise von je 10 000 Gulden detaillierte. Eine feierliche Stimmung bemächtigte sich der löblichen Akademie. Der Präsident bemerkte zum Schlüsse: „Durch Erheben von den Sitzen geben wir, geehrte Akademie, unserem Danke Aus druck." (Und er selbst erhob sich auch.) Die Akade miker erhoben sich alle, nnd noch einmal erscholl ein die Wölbung des Saales erschütterndes Elfen. Nur eine einzige Gestalt blieb sitzen, die zwischen Julius Schwarz und einem neugebackenen korrespondierenden Mitgliede saß: ein unscheinbarer, kahler Mann mit sanften, blauen Augen, einem einfachen, gleichgiltigen Gesicht. — „Warum stehen Sie nicht auf?" fuhr ihn sein Nachbar, das neugebackene korrespondierende Mitglied, an. — „Es schickt sich nicht," antwortete jener bescheiden. — „Wieso, mein Herr?" sprach dieser erregt — „Weil ich jener Semsey bin." * Die Geschichte einer „Sehenswürdigkeit". Newyork. Vor einigen Wochen gestand in Texas ein Mann auf seinem Sterbebette, vor zwölf Jahren einen Mord begangen zu haben, für den ein anderer ver urteilt und hingerichtet woiden sei. Das letztere ent sprach jedoch nicht der Wirklichkeit. Jener andere mar allerdings zum Tode durch den Strang verur teilt, aber vom Gouverneur des Staates zu lebens länglicher Gefängnisstrafe begnadigt woiden. Nach Berliner Plauderei. Non Georg Paulsen. Nachdruck verboten. Nach englischem Muster wird das neueConcert- lokal „Königsbau" sicy als Promenaden-Coneert auf- thuen, und das ist etwas Neues und vielleicht auch Angenehmes für die Reichshauptstadt; auch etwas Neues, aber ganz gewiß nichts Angenehmes sind aber die Nebel, die sich gleichfalls nach Londoner Muster in dieser Woche eingestellt haben. Berlin ist, seitdem die Fabriken immer mehr an die Weichbildgrenze oder auf's Land hinausgedrängt werden, gerade keine „Qualmstadt", und umsomehr quält also der dicke, dichte Nebel, der auf zwanzig bis dreißig Schritte nichts mehr deutlich erkennen läßt! Ob der Nebel etwas bedeutet? Vielleicht ist es ein himmlisches Trauerzeichen darüber, daß die Ausstellung für Un fallverhütung so gar ohne Sang und Klang geschlossen ist, und über das Defizit, dem sie nicht entronnen ist. Es ist Thatsache, daß die Ausstellung nicht ganz die an sie geknüpften Erwartungen erfüllt hat; die Verwaltung war teuer uud dem Publikum, das ja nun einmal nicht aus lauter Fachleuten besteht, bot sie nicht genug Amüsement. Daher kam als böser Gast die Gleichgiltigkeit, und von dieser der manch mal recht spärliche Besuch. Daß der Ausstellung das Defizit passieren mußte, ist gewiß schade, hat sie doch vieles Lehrreiches gebracht, aber das Resultat wird auch die Berliner ausstellungslustigen Kreise antreiben, ernstlich daran zn denken, sich um ein der Reichs- Hauptstadt würdiges Ausstellungs-Terrain zu beküm mern. Der Platz am Lehrter Bahnhof genügt nicht mehr den Ansprüchen und garantiert keine Uebrrjchüsse Für eine Kunstausstellung reicht er aus, aber bei größeren Unternehmungen bleibt das Defizit Malheur nicht aus. Nur soll inan zunächst bei einem bleiben: Um den neuen Ausstellungsplatz hat man schon lange gestritten, ohne eine Entscheidung zu treffen, und da taucht jetzt bereits wieder ein neues Projekt ans, Berlin zur „Seestadt" zn machen. Das ist viel ans einmal, und wen» bald hieran, bald dm an gedacht wird, dann kann es kommen, daß überhaupt nichts zu Stande kommt. Aus der so schön geplanten deutschen Nationalausstellung in Beilin ist ja auch nichts geworden- Die Russen sind wieder fort! Gott sei Dank, wird Mancher sagen, der durch Vie häufigen Absper rungen zu längeren Umwegen gezwungen war. Aber fidel war's doch, sehr fidel trotz der Absperrungen. Davon will ich noch eine kleine Geschichte erzählen. Es war also wieder mal für Roß nnd Reiter, Wagen und Publikum abgesperrt, alle zwanzig Schritte stand ein Schutzmann mit feierlicher Amtsmiene, und ans dem Trottoir harrte erwartungsvoll eine ziemliche Menge Publikum der Dinge, die da kommen sollten. Ich also mitgemacht! Aber das Stillstehen in der Oktoberluft giebt kalte Füße, und eben wollte ich mich von dannen machen, als von der nächsten Straßenecke her ein frenetisches Hurrah erscholl. Das war ja gewaltig begeistert: „Wenn zehn losrufen ordentlich, dann geht das natürlich bald die Reihen entlang, denn ein schneidiges Beispiel findet leicht Nachahmung. Es wurde um mich herum auch „Hurrah" gerufen, wie es der treueste Russe nicht besser vermocht hätte. Zu sehen war natürlich noch nichts, aber das Rosse getrappel wurde schon hörbar. Und nun ging's mit dem Rufen erst recht los; „jetzt kommt er, jetzt kommt er!", hieß cs von allen Seiten. Ja Wohl, da kam er auch, der grüne Wagen nämlich von der nächsten Polizeiwache, den einige Spaßvögel jenseits der Ecke so enthusiastisch begrüß: hatten. Ein schal lendes Gelächter und der Arrestantenwageu rasselte vorüber. Aber den Nutzen hatte das Zwischenspiel doch gehabt, daß die Zeit verstrichen war, und dann kam ja auch bald der Czar. Nun, bei dieser Fahrt schaute er wenigstens höchst gemütlich darein, durch aus nicht wie ein allmächtiger Selbstherrscher, sondern etwa wie ein gutsituierter Rittergutsbesitzer, der sich recht von Herzen über seine Lage freut. Alle Stunden mögen nicht gleich sein! Nach der Abreise des Czaren sind rinn auch die Theater mit ihren großen Zugstücken hcrvorgetreten und haben manchen hübschen Erfolg erzielt. Die Sai son geht eben mit raschen Schritten aufwärts; Ge sellschaften und Balltoiletten werden im Publikum mehr und mehr zum Gesprächsthema. Auch eine große Hoffestlichkeit hat zum Beginn der Woche statt- gefunden. Der Berliner, von der Hofgesellschaft selbst verständlich abgesehen, bringt im allgemeinen diesen Feierlichkeiten wenig Interesse entgegen, ganz anders freilich die Berlinerin, für welche ein schwungvoller