Volltext Seite (XML)
worden war, und auch von Bennigsen hat sich wieder holt scharf dagegen ausgesprochen. Erfüllen Sie also unseren Wunsch, die Wahl lediglich noch einmal zu prüfen. Abg. Schmidt-Eichstätt (Zentr.): Wir machen den Antrag Rickert in den Hauptpunkten zu dem unsrigen. Die Wahlbeeinflussungen von Arbeitgebern und amt lichen Stellen sind Eingriffe in die Wahlfreiheit, des gleichen ist gegen die Geheimhaltung der Wahl ver stoßen worden. Erhebungen gegen die betreffenden Vorgänge müssen vor Fällung unserer Entscheidung angestellt werden, insbesondere die Punkte, wo eine Beeinflussung der Arbeitgeber vorliegt und einen an- deren Ausfall der Wahl wahrscheinlich macht. Einige unerhebliche Punkte des Antrags Rickert können weg fallen. Abg. v. Marqardsen (nl.): Trotz der Verschie denheit des Standpunktes der Mitglieder der Wahl prüfungskommission hat es an objektiver Prüfung der Thatsachen seitens der Mehrheit nicht gefehlt, der politische Standpunkt ist in den Verhandlungen der Kommission nicht zum Ausdruck gekommen, was auch daraus erhellt, daß der Berichterstatter der Kommission der Minderheitangehört. Gestern hatHerr Rickert dieEin- führungdcs alten Wahlprüfungsverfahrens angeregt. Ich glaubeabernicht, daßjemand, mögeer auch mit einzelnen Beschlüssen der Kommission nicht zufrieden sein, das für eine Rückkehr zum Besseren halten wird. Die Wahl- Prüfungs-Kommission erfüllt ihre Aufgabe, für den Reichstag eine Vorentscheidung zu liefern, vollkommen und hat auch in dem vorliegenden Fall das Richtige getc offen, wenn sie die Hauptbeschwerden des Protestes als unerheblich bezeichnet. Abg. Bebel (Soz.-Dem.): Es ist kein erhebendes Schauspiel, daß der deutsche Reichstag, nachdem er 22 Jahre seiner Wirksamkeit hinter sich hat, über Wahlproteste zwei lange Sitzungen hält. Wenn die Grundsätze, die in den ersten fünf Jahren des deutschen Reichstages aufgestellt sind, noch heute maßgebend wären, so wäre jedenfalls kein Wort über die vor liegenden Wahlen verloren, sondern einfach die Erhe bung der Anklage beschlossen worden. Sollten die Grundsätze, die in dem Berichte der jetzigen Kommission ausgestellt sind, maßgebend sein, dann kann das deutsche Volk nur ein für allemal auf seine Wahlfreiheit ver zichten. Namentlich bei solchen Auffassungen, wie sie Herr v. Reinbaben vertreten hat, ist von Wahlfreiheit keine Rede mehr. Er erklärt einfach: die arbeitenden Klassen wissen nicht, wie sie zu wählen haben, also müssen die Besitzenden ihnen die Direktive geben. Ich begrüße es, daß diese Anschauungen hier heute mit rücksichtsloser Offenheit besprochen sind. In dem Erlaß des Kreisschulinspektors Gregorovius an die Lehrer sehe ich eine Wahlbeeinflussung ärgster Art. Er hat den Erlaß doch offenbar ergehen lassen, weil er wußte, daß er in seiner amtlichen Stellung einen erheblichen Einfluß auf die Lehrer habe. Wenn er diese auch nicht persönlich kontrollieren konnte, so hätte er doch nachträglich das Gewünschte erfahren. Diese Beeinflussung allein ist für mich schon genügend, um die Wahl für ungiltig zu erklären. Ich habe oft mals bedauert, daß im Jahre 1887 nicht der Grund satz der verbündeten Regierungen, daß Beamte zu Abgeordneten nicht gewählt werden dürfen, angenommen worden ist. Die Staatsbeamten Hütten daun nicht im Entferntesten das Interesse an den Wahlen wie gegenwärtig. Wir würden dann jedenfalls anch eine ganze Reihe der Kollegen nicht sehen. Bedauern würde ich das nicht, denn einen Gewinn kann ich in keiner Weise im Beamtenelement erblicken. Nach dem Bericht ist es vorgekommen, daß die Wahlvorsteher Schloß Bergeuhorst. Novelle von Marie Widdern. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Hildas Augen funkelten. Ans dem feinen Gesicht glühte eine tiefe Röte. Mit den zinkenden Lippen, den ineinander gekrampften Händen glich sie wieder einem Dämon — lind der große, starke Mann, der sich nicht gefürchtet hätte, es mit zehn Angreifern .aufzunehmen, schauderte vor ihr zurück. Er gedachte wohl dabei seines edeldenkenden Weibes und fragte sich: „Ist dieses Mädchen wirklich Kathinkas Kind? Wie geht es nur zu, daß auf Hilda keine der guten Eigenschaften ihrer Mutter gekommen, dagegen so viele von jenen unglückseligen Charakterfehlern des Elenden, den sie, Gott sei es geklagt, „Großvater" nennen muß?" Wladislaw war nicht blos ein ge meiner Verbrecher, er wußte auch zu intriguieren und die bestrickende Schönheit der Lubostrows half ihm bei diesen verderblichen Machinationen. -t- 4- * Als der Graf, heimkehrend, dem Bruder davon erzählte, daß er auch die Tochter seines Generalad ministrators zu einem Besuch eingeladen, schüttelte Richard Wilchingen leise den Kopf: „Das hättest Du nicht thun sollen, Kurt!" sagte er, setzte aber gleich hinzu: „Aber was hast Du Dich nach meinen Wünschen — Ahnungen oder Befürchtungen zu richten? Ich bin ja immer so angstvoll erregt und —" „Ja, ja, das ist es auch!" unterbrach ihn der nur bestimmte Wähler zur Abstimmung zugelassen haben. Wenn wir es zugeben, daß es der Wahlvor steher in der Hand hat, den einen oder den andern zuzulassen, dann ist die ganze Oeffentlichkeit gewillkürt. — Ebenso sind Wahllokale bei der Zählung der Stimmen geschlossen worden. Die Kommission hat sich bemüht, dafür einen Grund aufzufinden, waS gar nicht ihre Aufgabe gewesen ist; sie hat nur zu unter suchen, ob die Thatsache wahr ist oder nicht. Wenn die Thatsache wahr ist, so ist es klar, daß das Ansehen des Reichstages darunter leiden muß. Unzweifelhaft liegt auch eine Gesetzverletzung in der Beeinflussung der Arbeiter durch den Fabrikanten Tielsch. Wenn man glaubt, daß der Arbeitgeber verpflichtet sei, nur Leute in Lohn und Brot zu behalten, welche keine politischen Gegner wären, so ist damit ausgesprochen, daß der Arbeitgeber nicht blos den Arbeiter mit seiner Arbeitskraft in Anspruch nimmt, sondern daß er, indem er die Arbeitskraft kauft, damit auch den ganzen Menschen kauft. Diesen neuen Feudalismus, der hier so cynisch offen vertreten wird, müssen wir auf das Entschiedenste bekämpfen. Denn nach solchen Grundsätzen hängt es nur von der persönlichen An ständigkeit eines Arbeitgebers ab, ob er überhaupt seinen Arbeitern das Wahlrecht gewähren will oder nicht. DaS freie Wahlrecht gehört durchaus zum freien Man nesrecht, zum Bürgerrecht des Arbeiters, und wenn wir die Aeußcrung des Herrn v. Reinbaben und die Beschlüsse der Kommission bei den nächsten Wahlen den deutschen Arbeitern vorlegen werden, so wird das das beste Agitatiousmittel für uns sein. Wenn eine derartige Anschauung jetzt wieder Platz gegriffen hat, so ist das die logische Konsequenz der Machinationen, denen die Majorität des jetzigen Reichstages ihre An wesenheit im Hause verdankt. Nach der Rede des Abgeordneten Bebel, der wiederholt zur Ordnung gerufen wird, weist das Haus auf einen Antrag der Abgg. von Bennigsen und von Kardoff die Angelegenheit noch einmal an die Komission zurück. Darauf wird die Beratung vertagt. Nächste Sitzung Sonnabend 1 Uhr. Initia tivanträge aus dem Hause. Schluß 3^ Uhr. Tagesereignisse. * — Lichtenstein, 12. Jan. Nach vielen Be mühungen ist es gelungen, den berühmten Experimental- physiker Herrn W. Amberg zu einem Vortragscyklus in Lichtenstein zu gewinnen. Es ist das überhaupt die letzte Gelegenheit, Herrn Amberg zu hören, da derselbe seine bisherige Thätigkeit schon im Mai aufgiebt, um eine ehrenvolle, feste Stellung an der Urania zu Ber lin auzunehmen. Wer diese Vorträge über Elektrizität, Magnetismus, die Lehre vom Schall und vom Lichte schon gehört, für den bedarf es keiner neuen Em pfehlung, sie selbst empfehlen sich mehr als alle Worte. Für alle die aber, welche dieselben noch nicht kennen, verdientes bemerkt zn werden, daß sie das Beste ihrer Art sind. Herr Limberg besitzt eine äußerst klare Sprechweise und eine so reichhaltige Sammlung physi kalischer Apparate, wie man sie kaum in den Kabinetten unsrer größten Universitäten vereinigt findet. Seine Experimente mißlingen nie und es ist somit allen eine vorzügliche Gelegenheit geboten, in interessanter unter haltender Form sich mit den Wundern der Naturkräfte bekannt zu machen, die der Mensch verstanden hat, in und zu seinem Dienste zu fesseln. Je zahlreicher die Beteiligung für die 3 Vortragsabende ist, um so billigere Preise wird man für dieselben zu stellen in der Lage sein. Jedenfalls wird der Preis für sämtliche Vor träge die Höhe von 2 Mk. nicht überschreiten. * — Heute Sonntag abend 8 Uhr findet im hie- Graf lebhaft, während die Farbe auf seinem Gesicht ging und kam. Dann klingelte er und befahl dem eintretcnden Diener, den Haushofmeister herbeizu- rufcn, welchem er dann allerlei Aufträge gab, die sich hauptsächlich auf den zn erwartenden Bestich am Nachmittag bezogen. Wenn der greise Bedienstete des gräflichen Hauses nun auch den Ausdruck seiner Gesichtszüge zu beherrschen wußte, so eutgiug es doch besonders Baron Wilchingen nicht, wie sehr der alte Mann erstaunt darüber war, daß Se. Erlaucht auscheineud so großen Wert darauf legte, daß der Generaladministrator und Hilda Stettmüller sich bei ihm gefielen. So sollte der Kaffee, noch dazu gegeu alle Ge wohnheit, im Garten eingenommen werden, in dem wundervollen Pavillon, dessen Betreten Graf Kurt aus Pietät gegen seine verstorbene Gemahlin jedem Fremden bisher auf das strengste untersagt. Gräfin Vera hatte sich das luftige Svmmcrhäuschen nach eigenem Geschmack erbauen lassen. Nach ihren An ordnungen waren Wände und Decken mit meergrünem Cröpe ansgeschlagen und die kleine Hand der Dame hatte selbst die prachtvollen Marmörvasen auf die vergoldeten Säulen gestellt, die das Innere des Pavillons schmückten. — — Es war merkwürdig, welch seltsame Unruhe heute den Grafen beseelte! Zum ersten mal seit langer, langer Zeit schlug er sogar dem Bruder ab, die gewohnte Schachpartie mit ihm zn machen. Und als zufällig gerade an diesem Mor'ben ein Brief Leo von Guntruns eintraf, erbrach er nicht wie sonst mit freudiger Ungeduld das Siegel desselben, sondern reichte das Schreiben zuerst Richard hin: I sigen Schützenhause ein großes humoristisches Gesangs-- I Concert der Chemnitzer Quartett- und Coupletsänger I statt, worauf auch an dieser Stelle hingewiesen sei. * — Mit Genugthuung bemerkt man, daß die von der hiesige» Stadtkapelle veranstalteten Abvnne- mentskonzerte eine stetig wachsende Beliebtheit ge winnen. Das gestrige zweite hatte sich wieder eines regeren Besuchs zu erfreuen. Ein untrüglicher Be weis von der wohlverdienten Anerkennung, die die gediegenen musikalischen Leistungen unserer Stadt- Kapelle finden. *— Bei der dieser Tage stattgehabten Auslosung der Hauptgeschworenen für diel. Sitzungsperiode des in diesem Jahre zusammenzuberufenden Schwurgerichts in Zwickau wurden hierbei die Namen der folgenden Heren aus unserem Bezirke aus- der Urne gezogen: Herr Lohgerber Theodor Nötzold in Lichtenstein, Herr Fabrikant Rudolf Bochmann in Mülsen St. Jakob, Herr Kaufmann Prut Fankhänel in Lichtenstein, Herr Ziegeleibesitzer Otto Becker in Lichtenstein, Her Bäcker meister Richard Seidel in Lichtenstein, Herr Seminar oberlehrer Ernst Moritz Reichel in Lichtenstein und Herr Fabrikant Friedrich Louis Berger in Callnberg. — Einer fast unglaublichen Gefühlsroheit machte sich Montag, so schreibt das „Dr. St.", eine an scheinend den höheren Ständen angehörende Dame in Dresden schuldig. Der Polizeibericht meldet über den betreffenden Vorfall folgendes: AufderOstra- allee ist ein die Straße kehrender Arbeiter von einem Personenwagen umgerissen, überfahren und sehr schwer verletzt worden, der Kutscher ist, nach den Angaben der Zeugen, im scharfen Trabe gefahren. Eine in dem Wagen sitzende Dame rief, als der Kutscher von einem nacheilendeu Arbeiter nach dem Unglücksfall angehalten: „Kutscher, fahren Sie nur zu, meine Zeit geht vor", worauf derselbe im scharfen Trabe bis zum Hoftheater weiter fuhr. Dort wurde seine Person festgestellt. Wer ist nun strafbarer, der Kutscher, der seinem Broderwerb nachgehend, sich zu solch einer Pflichtverletzung verleiten ließ, oder die Dame, der das Leben eines Arbeiters so wenig erscheint, daß ihr das Theater vorgeht! — Die in Untersuchungshaft befindliche Mörderin der Frau Caroli, Schach, ist lebensgefährlich erkrankt, sodaß ihre Ueberführung aus der Dresdener Gefan- genanstalt nach dem städt. Krankenhause hat erfolgen müssen. — Eine kleine Weihnachtsgeschichte. Vor einiger Zeit erkrankte der Diener eines in Dresden wohn haften älteren Herrn. Der Erkrankte wurde s. Z. in das dortige Stadtkrankenhans gebracht und ging dann als er später entlassen wurde, weil das Uebel chronisch war, zu seinen in Meißen wohnenden Eltern. Der alte Herr unterließ es nicht, seinen ehemaligen Diener mit namhaften Geldbeträgen zu unterstützen. Seit kurzer Zeit unterblieben zum nicht geringen Leidwesen des Armen diese Geldsendungen. Der Kranke wagte nicht, sich an seinen ehemaligen Herrn bittstellend zu wenden und machte sich mit dem Ge danken vertraut, vergessen zu sein. Am ersten Weih nachtsfeiertag erschien in seiner Wohnung ein Neffe des alten Herrn und teilte ihm mit, daß sein ehe maliger Herr vor einiger Zeit gestorben sei und der selbe in feinem Testamente, durch welches er, der Neffe, zum Universalerben eingesetzt sei, die Bestim mung festgesetzt habe, dem ehemaligen Diener 3000 Mk. zu übergeben, mit welcher Summe er ein kleines Geschäft, das ihm die Zukunft sichere, anfangen solle. Die Freude des Arinen war natürlich nicht gering, wenn sich in dieselbe auch Wehmut über den Tod des ehemaligen Herrn mischte. „Lies Du nur und erzähle mir dann, was der Junge mir mitgeteilt", sagte er kurz. Mit einem langen, forschenden Blick schaute Richard Wilchingen zn dem Bruder auf. Dann hob ein tiefer Seufzer seiue Brust uud langsam öffneten die merkwürdig bebenden Hände das große Kouvert. Aber kaum hatte der Kranke die ersten Zeilen ge lesen, so erhellte sich auch schou der trübe Ausdruck seines Gesichts. „Ach, das ist schön!" rief er fast lebhaft. Und als Graf Kurt fragend zu ihm hinübersah, erwiderte er in freudiger Erregung": „Leo kommt, Brnder! In acht Tagen will er bei uns sein! Er schreibt, daß er Dir eine Bitte vor zutragen hätte und es scheint mir, als wenn es sich um eine Herzensangelegenheit handelte. Nun, sei dem wie ihm sei, die Hauptsache ist' Dein liebes, geliebtes Pathenkind und unser dereinstiger Erbe —" „Erbe!" stieß der Graf zornig hervor zum Er schrecken seines jüngeren Bruders, mit dem er doch schon so oft mit der größten Ruhe davon gesprochen, daß nach ihrem beiderseitigen Tode das Rittergut Bergenhorst nebst dem Vorwerk, sowie das fast fürst liche Barvermögen Graf Kurts an Leo von Guntrun übergehen sollte. „Mein Gott", stammelte Richard deshalb auch ganz befremdet. „Dn hast Leo bisher ja selbst und mit besonderer Vorliebe „Deinen Erben" genannt! Das Testament zu seinen Gunsten ist aufgesetzt, und nun —" „Nun wünsche ich nicht, daß Du mich immer fort daran erinnerst, wo ich doch im Grunde ge kommen nichts weiter bin, als ein Greis, dem das Grab nahe liegt. (Fortsetzung folgt.)