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Wöchentlich erscheint» -r,j Nummern. Prännmeralions- Prei« 22^ Sgr. (- Tble.) vierteljährlich, Z Mir. für da» ganze Jahr, ohne Er- höhung, in allen Meilen -er Prenkischen Monarchie. für die Man pränunrerirt auf dieses Beiblatt der Allg. Pr. Slaais- Zeitung in Berlin in der Cxpedüion (Mohren - Straße St» 34); in der Provinz so wie im Ausland« bei de» WolMbl. Post.Acmxrn. Literatur des Auslandes. Berlin, Mittwoch den 27. Juli 183«. ««kV Frankreich. Em Wort zur Vertheidigung der Fronzösischen Literatur unserer Zeit. Von Sai n te-B e»v e. Seit geraumer Zeit «Meisern ausländische Literalen und Kritiker in heftigen Diatriden gegen unsere heutige Literatur, unsere Dramen, Romane n. s. w. England vor Allen, England, das jetzt so baar und arm an dichterischen Namen und Ehren ist, vergilt uns die emhnstasti- sche Bewunderung, die wir seinen letzten großen Geistern gezollt haben, mit mißgünstiger Strenge gegen alles Französische; und doch, seitdem Schiller und Goethe, Byron und Scott von hinnen gegangen, wo an ders als in Frankreich wäre noch eine reiche Generation von Dichtern, eine fruchtbare Mannigfaltigkeit poetischer Kräfte zu findens Da wir es hier auf keine systematisch-patriotische Apologie abgesehen habe», so lassen wir uns auf das Kapitel von der Dramatik nicht erst ein; die Mehrzahl der neueren Schauspiele ist so sehr filr's Auge gemacht, daß auch der stachlig voriiberziehende fremde Gast ans den erstell Blick mit feinem Unheil zu Stande kommen mag. Ein Artikel in der Haartorl^- tievieev aber erhebt gegen unsere gejammte gegenwärtige Literatur eine so unerhörte Kriminalklage, daß ein Manu von bescheidener Einsicht und feinem Sinn, dergleichen bisher bei uns zu Lande immer zu fin den gewesen, unmöglich verschweigen kann, wie sehr ihn dergleichen aus der Fremde herübergebrachle Schmäh-Artikel verdrießen, in denen alle Unterscheidungen über den Haufen geworfen, alle Verhältnisse und Be ziehungen, wonach sich das Talent und die Production bestimmt, unter einem Strom von Schmähungen unkenntlich gemacht werden.") Die Kompetenz eines Fremdelt zur Beurtbeilung einer durchaus gleichzeitigen Literatur läßt sich überhaupt bestreiten, und zumal wenn von Franiösischer Literatur die Rede ist. Wenn solche fremde Gäste nicht durch häufige« Reisen, durch einen längeren Aufenthalt im Lande und durch zahlreiche Erfahrungen aus dem Leben gleichsam bei uns ein gebürgert sind, so kann Alles, wa« sie sagen, nur zur Hälstc Wahrheit sey» und nur für de» Augenblick gelten. Im I8ten Jahrhundert wür den wir freilich das Unheil von Bolingbroke, Horac? Walpole, Hume und Grimm respcklin haben: diese Männer waren mit Frankreich wohl- vertraut, hatten in der ausgezeichnetste» Gesellschaft gelebt und sich nicht, wie vermutblich der Beurlheiler in der Huarcerl^-lievierv, damit begnügt, sechs Monate in der Touraine zugedracht zu haben. Noch in unsere» Tagen würde» wir mit Freuden solche Richler aner kennen, wie Mackintosh war, Männer von einsichtsvollem, scharfsichti gem, treffendem Geiste, die gleichwohl die unerläßliche Einführung und. Anleitung durch einen befreundeten Cicerone nicht verschmähten. In zwischen sehen wir auch ausgezeichnet begabte Fremde bei längerem Ver weilen in unserer Milte einer richtigeren Eckenntmß unzugänglich blei ben. Der berühmte Kritiker A. W. v. Schlegel hat Jahre lang in Paris gelebt, ist »ach wie vor ungerecht gegen n»S gewesen und hat eigentlich nie recht Bescheid über uns gewußt. Soll ich meine Meinung lmumwundcn aussprechcn? Die Vorgänge der Gegenwart, die sich vom gestrigen zum heutigen Tage zulragen, erfordern, wenn man sie recht begreifen will, eine so lebendige, unermüdliche, bis ins Einzelnste drin gende Beobachtung und kombinircnde Auffassung, daß der gescheidteste find gelehrteste Ausländer aus seiner entfernte» Stellung nur ein an näherndes, mangelhaftes, beschränktes, ja ein ungeschlachtes Urtheil, wie man zur Zeit Ludwig'S XIV. zu sagen pstegle, kurz ein eben so unge schicktes fällen würde, wie Einer, der aus dem entlegensten Winkel der Provinz heraus sei» Wort über die Literatur der Hauptstadt dareingeben will. Den Ucbelstand überwinden die größten Geister »icht. Der klar blickknde, sür Alles empfängliche Goethe äußert sich über die junge Lite ratur unserer Zeit überaus geistreich, aber etwas schief; seinen Urtheilen fehlt der rechte Maßstab, und in den Aussprüchen, die er vor einigen Jahren, zur Zeit des 6loho, über unsere Schriftsteller ergehen läßt, ist er selbst gar schön wicderzuerkennen, wir aber nicht. Sein ästhetisches Urtheil über unsere literarischen Erzeugnisse war etwas schwankend und orakclmäßig; zum Glück hing unser Schicksal von diese» Orakel» »icht ab. Tieck, der große Kritikers hat vor einiger Zeit unsere Literatur aufs ") Wir baden in Nr 6S —K7 deS Magazin« von d. I. zwar die wesent- licbcren Momente dieses Artikels der stufet.->7 It. vie» mitgetheilt, doch dielten wir es dabei für angemessen, manche augenscheinliche Uedertreibung und einige Angriffe, die blo» den Charakter von Schmähungen trugen, weg iulassen Die in Pari« erscheinende Kevur ltrita»»!«,»- hat -ei ihrer Ueber- seyung dieses Artikels eine solche Zurückhaltung zu beobachten nicht sür nö- thig bekunden, und deshalb lind die Bemerkungen des Herrn Ste. Beuvc auch t»m Meil gegen diese Zeitschrift gerichtet heftigste angegriffen; da er sich aber bloß an die Entartungen und Uedertreibungen in diesem Gebiete hält, so ist auch sein Bannstrahl matt. Wie gesagt, um die Erscheinungen einer gleichzeitigen Literatur, zumal der Fraiizösischen, recht zu beurtheilen, muß man an Ort und Stelle seyn, keine Schattiruug übersehen, die höheren und niederen Ab stufungen unterscheide», das Original nicht mit seinen Nachahmungen, das zart und richtig Entworfene nicht mit deklamatorischer Verzerrung verwechseln und genau merken, wo die wahre Begeisterung und Inspi ration aufhörl und die siudirie Rolle ihren Anfang nimmt; und zwar finde» diese Gegensätze nicht bloß zwischen zwei oder mehreren Schrift steller» statt, sonder» sie begegnen sich in einem und demselben Geiste und wollen da herausgefunden seyn. Aus der Ferne ist da« nicht möglich.') Für England, das bestreiten wir »icht, mag der Aufsatz in der (^»artori^-lsoviorv recht gut und zweckmäßig seyn. Wer weiß? am Ende ist's ein Stück Moral-Polizei, ein Mandat zur Absperrung gegen die Seuche in der Nachbarschaft. Frankreich, so heißt es, ist krank und giftig durch und durch; hüte sich jede gesunde und vernünftige Person vor dem Französischlese». Sehr wohl, Gcntlemen! aber thut un« den Gefalle» und laßt, wenn ihr zu uns kommt, eure Polizei zu Hause. Ihr habl'S ja mit Byron, Shelley, Godwin, mit euren ächlestcn Dich tern und herrlichste» Genien nicht anders gemacht; aus ängstlicher Prüderie laßt ihr ihre Namen auf eurem inäox exziurAalorius pran gen, und ein Franzose sollte sich die Prozedur nicht gefallen lassen? Das wäre gar zu anmaßend. Den Referenten in der tzuarterl^- ttoviow, der so gewaltig böse auf uns ist, halte ich mit Wahrschein lichkeit oder vielmehr init Gewißheit sür einen Mann von viel Gelehr samkeit, nicht ohne Verstand, sür einen tüchtigen Scholar, der sein Griechisch, seine Geschichte und seine drei neueren Sprachen von der Schule her an den Finger» Hal. Wir Franzosen könnten freilich sagen, sein Aufsatz scy — nun, wie soll ich'S in der Geschwindigkeit äus- drücke»? — ohne Intelligenz, er sey durch und durch konfus; darin» wollen wir aber auch bescheiden seyn und uns vorsichtig bedenken, ehr wir über eine Literatur, in deren Werkstätten wir nicht bekannt sind, ein absprechendeS Urtheil fällen, gesetzt auch, es lägen uns alle Akten zur Hand und wir hätten uns fleißig darin umgesebcn. Von Anfang an macht miser Autor die heutigen Romanschreiber zu Geisteskmder» derjenige», die im vorige» Jahrhundert geschrieben haben. Daran ist kein wahres Wort. Balzac leitet seine Abkunft gar nicht von Z. Z. Rousseau her; der jüngere ErLbillon hat sei» Jahr hundert nicht beherrscht, wie jener Autor meint, sondern er ist ein be liebter, kcineSwegcs aber ein berühmter Schriftsteller des zweiten und drillen Ranges gewesen. Wenn unser Freund Engländer sich mit seiner Art, die Dinge zu betrachten, ins vorige Jahrhundert zurückvcrsctzt den ken wollte, er würde es wohl mit den damaligen Romanen nicht besser als mit de» heutige» gemacht und Alles unter einander geworfen haben, wo er heule einen sorgfältigen Unterschied macht. Würde nicht der ge feierte Gil-BlaS zu seiner Feit den Herre» Puritanern drüben und den bischöftichen Theologen ein Aergcrniß gegeben haben, wenn ste ihn nur hier und dort aufgeschlage» hätten? Gott weiß, mit welchem Abscheu man damals in ehrbare» Englischen Familien von Voltaire sprach, von demselben Voltaire, den unser Autor heule im Vergleich mit Jean Jacques als ein Genie im Vergleich mit einem Verrückten darstellt. Seine ganze Schilderung des I8tcn Jahrhunderts ist unrichtig, über laden und aus politischem Eiser recht schwarz auSgemalt, damit unsere gegenwärtige Berdammniß, die sich ja von damals herschreibt, recht deutlich werden mag. Spaßhaft ist's, daß der gute Man» sei»e» Prozeß gege» uns mit einer überaus ernsten und tief gehende» Untersuchung über Paul de Kock eröffnet, und ich wollte, er könnte das feine und verschlagene Lächeln erblicken , womit die geistreichen Männer, die er verunglimpft, seinem ergötzlichen Ungeschick zusehen. Einstweilen lassen wir ihn in seinem Irrlhum Wenn man so manchmal ins Gespräch mit belesene» Fremden geräth, die erst ganz neuerlich in Paris abgesetzt und ganz heißhungrig nach der Bekanntschaft mit unseren berühmte» Namen sind, so erkun dige» die Leutchen sich zuerst nach Lamartine, nach Verenger — nun, Der Standpunkt In der Ferne gewahrt aber auch seinerseits wieder einen Bortheil, de» das unmittelbare Befanaenkeyn in subjektiven Verhält nissen nvthwcndig entbehrt. Wenn Goethe die neuere Französische Literatur eine „Literatur der Verzweiflung" nannte, so hat er allerdings damit den Total Eindruck, den diese Literatur aus das Ausland macht, sehr treffend bezeichnet KeineswegeS war aber damit jede Anerkemiunq ausgeschlossen, oderLesagt, daß in dieser Erscheinung nicht auch, wie einst in der sogenann ten «sturm- und Drang-Periode der Deutschen Literatur, der Entwickelung«? Keim einer besseren Zukunft liegen könne