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320 wen» der Himmel einmal ein Sümmchen Schlummer auf meine müden Augen senkte, stahl sich die Alte von meiner Seile aus dem Belt fort, hinaus auf den Kirchhof, dort zu weinen am Grabe ihres Sohnes. Neulich, in einer kalten feuchten Nacht, gewahrt' ich, als ich plötzlich erwachte, ihre Abwesenheit und stand aus, sie zu suchen oder vielmehr zu finden, denn ich wußle wohl, wo sic war. Ich komme auf den Kirchhof, ich rufe, sic antwortet nicht; ich eile zum Grabe, sehe sie nicht — da entdeck' ich sie am Boden liegend, regungslos und ohne Bewußtsev». Goll! schon dacht' ich, daß der Tod auch sie mir genom men. Mein Weggehen aus dem Hause hatte ei» paar von meinen Leuten munter gemacht, die waren mir von fern gefolgt und eilten nun herbei. Sie trugen sie nach Hause, ich wurde nachgesührt. Noch halte ich nicht Alles verloren, sie kam wieder zu sich — die Leute gingen — wir blieben mit einander allein. Ich las in den Zügen meiner Fran eine ungemeine Aufregung ihres Innern. Ihre Augen leuchteten mit einem so eigcnlhumiichcn Glanze, wie ich nie an ibr wahrgenommen. „Unser Sohn ist vielleicht nicht todl", sagte sie, indem sie mir die Hand druckte. „Liellcicht ist sein Grab leer/' Diese Worte erfüllten mich mit neuer Unruhe; ich fürchtete, die Verzweiflung tonne ihren Verstand verrückt haben. „Hore", fuhr sie fort, mit fester Stimme, wie Einer, der den An deren zum Glauben zwingen will, „Du weißt, wie ich stets die heilige Jungfrau verehrt und Alles beständig vermieden habe, was sie mir u,,- gcncigl Halle machen können. Nun! an sie habe ich mich gewandl in drm Unglück, das uns betroffen, und nach allen Anzeichen bat ihre himmlische Gnade meine Hoffnung nicht unerfüllt gelassen. — Ich habe sic schon zweimal gesehen." „Heiliger Gott", ries ich, „wen denkst Di! gesehen zn haben ?" „Sie selber", versetzte sie mit höchster Ruhe, „und vor dem Glanze, der sie umgab, sind mir die Sinne vergangen; daher rührte der Zu stand, in dein Du mich eben auf dem Kirchhofe gesunden. Aber ihre Worte klingen noch vor meinen Ohren, als wenn ich sie in diesem Moment erst vernähme. Du hast mich angcfleht, sprach sie zu mir, und ich bin nah denen, die zu mir sichen mit reinem Herzen. Schick deinen Mann auf den Weg inS Gebirge, dort wird er das Kind Wie dersehen, das ihr verloren habt." — Was würden Sie gelhan haben an meiner Stelle, mein Herr? Dennoch war ich anfangs unschlüssig, denn der Umgang mit gebil deten Leuten und Lektüre hatten mich von den Vorurthcilcn des großen Haufens frei gemacht. Soll ich's ein Glück nennen? SS muß wohl eins sehn, da die Philosophen so ungeduldig sind, cS Jedermann kosten zu lasse». Aber die Erscheinung wiederholte sich mehrere Male an dem selben Orte und mit denselben Umständen. Ich kannte die HcrzeiiS- Einsalt, die strenge Gewissenhaftigkeit meiner Frau und wußte, daß sie keiner, auch nicht der kleinsten Düge fähig seh; auch stand diese Erschei nung ganz allein in ihrer Seele, ohne alle weitere Visionen oder Illu- sivnen, ohne die geringste Störung ihres Gemüthes oder Verstandes; im Gcgcutheil, ihre Verzweiflung, durch diese himmlische Verheißung beschwichtigt, ließ nach und gewann zu meiner großen Freude von Tag zn Tag mehr und mehr die Heiterkeit der Seele wieder, die seit drei Monaten von ihr gewichen war. Ihr von Natur guter Sinn batte wieder Kraft und die Oberhand gewonnen, seit ihr diese überirdische Offenbarung, in der Sic wahrschcinlich nichts als rinc Tborheit schcn, zur Gewißheit geworden war. Was soll ich Ihnen sagen? Ob Täu schung oder Wahrheit. Ihr Traum schuf ihr doch einen Trost, wie ihn alle Weisheit der Menschen ihr nicht zn geben vermochte, und ich ließ mir angelegen scvn, in ihre Hoffnungen cinzustimmcn und dieselben auf alle Weise zu unterstützen, mehr allerdings dabei auf die lindernde Macht der Zeit als aus die wirkliche Ersüllung des Wunders vertrauend. Mich ich bedurfte des Wunders, und welcher Mensch bedürfte desselben nicht, um sich mit dem Leben zu versöhnen! aber ich rechnete nicht darauf. Doch brach ich auf, als der durch die Erscheinung bezeichnete Zeitpunkt da war, und heuchelte beim Abschied vor meiner Frau selber eine Ucbcrzeugung, die in meiner Seele doch nichts weniger als einen festen Boden batte. Von dieser Zeit an bin ich nnaushörlich im Ge birge nmbcrgeirrt, vergeblich, wie ich mir's vorhcrgedacht halte, und schon wollte ich morgen nach Hause zurück, der Unglücklichen, ach! viel leicht den Tod zu bringen, als heute früh..." — „Nun! Herr Despiu, als heule früh?..." — „Als ich Heine früh meinen Sohn aus dem Bock Ihres Wagens sitzen sah, aber er Hal mich nicht erkannt." — „Paul, Ihr Sohn, sagen Sie k" „Ja, so ist der Name meines Sohnes, ja, es ist auch mein Sohn, aber er hat mich nicht erkannt. ES ist mein Sohn, obwohl er mich nicht wieder erkennt und ich den Grund davon nicht begreife. Ich habe ihn während des ganzen Weges genau betrachtet und beobachtet. Eben habe ich ihn wieder gesehen lind mit ihm gesprochen unten im Hose — eS ist mein Sohn. Ich habe mich nach seinem Alter erkun digt. Er ist genau so alt wie mein Sohn. Er Hal seine Züge. Er Hal den Ton seiner Stimme, seinen Accent. Mein Sobn hat ein Mahl aus der Wange. Auch er. Wenn er nach Gaujac käme, Jedermann würde meinen Sohn in ihm wieder erkennen. Erkenne ich ibn doch wieder, ich, der sich hierin nicht täuschen kann, ich, der ich sein Vater bin! aber er erkenn! mich nicht." Dcspin'e Thräncn flossen von neuem, und er versank in ein düste res Stillschweigen, die Arme über einander geschlagen und den Kopf in die Hände gestützt. Herr von LouvoiS war aufs tiefste bewegt. > „Glauben Sic mir", sagte er zum Greise, „sepn Sic überzeugt, mein Herr, daß ich von Her zen gern den Irrchum verlängern wollte, der Ihren Kummer für den Augenblick gehoben hat, wenn cs von mir abhinge, ihn zu unlcrhalten, ohne gegen die Wahrheit zu verstoßen. Em unglaublicher Zufall Hal jenen Irrthum ins Leben gerufen, und ich weiß noch nicht, ob er nicht mehr geeignet sepn möchte, Ihren Schmerz zu vermehren, als ihn zu lindern." „ES hängt von Ihnen ab, Sie sind es im Stande, mein Herr, mehr als Sie denken, diesen Zufall, diesen Schein zur Wirklichkeit zu erheben", versetzte Herr Despin und sah Herrn von Lonvois mit flehen dem Blicke am „Sic verwundern sich über meine Worte, und ich finde Ihre Verwunderung begreiflich, abcr hören Sie, worin meine letzte Hoffnung besteht, worauf sic sich gründet. Paul's Familie ist offenbar nicht wohlhabend, da er hat in Dienst gehen müssen. Er ist nicht mein Soh», ich glaube cS, aber seine Aehnlichkeit mit meinem Sohne hat di« Verzweiflung um ihre Gewalt über mich betrogen und würde die näm liche Wirkunfl auch auf seine Mutter auSubcn. Ist er nicht der Sohn, den ihr die Gnade des Himmels giebl? Ich biete ihm eine Mutter, einen Vater, die beide nur seinem Glücke leben wolle»; ich biete ihm mein ganzes Vermöge», ich will es ihm gerichtlich vermache», der Herr Graf von Marcellus kann und wird Ihnen bezeugen, was ich vorhin davon gesagt habe; der Jüngling soll nur sich selber angehörcu, nur sich leben, keine andere Pflichten übernehmen, als die, weiche un sere Neigung, die nichts Anderes wiedcrforderl als Neigung und nicht schwer zu befriedigen ist, ihm auferlegt; er war arm, er soll reich sehn; er diente, er soll bedient werden; Ihre Güte Hal sicher sein Glück, sein Wohl im Auge gehabt; wir wollen es machen und für immer begrün den durch unsere Zärtlichkeit für ihn; er wird uns dafür lieben, ich bin dessen gewiß, denn wir habe-» ihn ja schon früher, schon längst ge liebt, in einem Anderen, und wer wahrhaft liebt, wird immer wieder geliebt. Alle« verbürgt mir's, cS hat jenem Vorgefühle, jener Ver heißung ein Sinn zum Grunde gelegen, dessen Wahrhaftigkeit sich gestern meinen Augen offenbart hat. Dergleichen Wunder läßt der Himmel nicht umsonst geschehen; an Paul hat er ein llnrecht dcS Zufalls, an uns ein Unrecht der erbarmungslosen Natur, die uns unseren Paul mt- riffcn, auSgleichcn wollen. Der Arme soll einmal reich werden, die trauernden Aeltern wieder einen Sohu haben. Däucht cS Ihncn nicht auch, mein Herr, daß e§ so ist? O, versagen Sie mir nicht, ich be schwöre Sie, Ihren Beistand und Ihre Vermittelung! Die Großc» der Erde können ja, ohne sich was zu vergebe», sich theilnchmcnd einem Schmerze zuwendcn, für den die Himmelskönigin selber Partie ge nommen! Ich bin dem Tode verfallen, wenn Sic mir meine Bille abschlagcn." (Schluß folgl.) Bibliographie. Oictionnairo historuzno el iccwoIrnzchigu« <Ie loutos los oziör.i- tinns et sic» insl.rumens, banflaAvs el a;>z,.i,eils sie la ohirur- gie ancionne et mnsierno, l'nmuant le cnmnlement sie tuns les «ukres clictinnnaires sie meclecine. — 2 Bde. mit I3VO Ab bildungen. Von Eolombat de l'Isere. I.'/lnueau sie p-üllo. — Von H. Bonnclicr. 2 Bdc. IS Fr. Ga Gönne ste Ist. sie Dalsae. — Von Mad. Emile de Girardi». Im Garavano ries Aoris. — Von E. Fouinct. 2 Bde. 13 Fr, Guo iillo naturelle. — Noma» von Fclir Davin. 2 Bdc. I» Fr. Gin,; ans sie rezne. — Gedicht von Napoleon Ercvcl de Charle- magne. 2 Fr. Inti,uites. — Ecdichtc von Michel Pallas. 6 Fr. Poem« hmlesgue, <>u Galin. — Von Chauvin i Fr. 30 E. keesies. — Von dem Bäcker Jean Rebaul in Rimes. Mit einer Vorrede von Alex. Dumas und einem Schreiben von Al. de La martine. 7^ Fr. Ges Vnix stu 8iöcle. — Von Victor Lcrour. Fr. Gne ssamille nu temzis sie Guklier. I'rageflie en nn aclo. — Bon Casimir Delavignc. 3^ Fr. I-es sslvurs et los panillons. Vauäovillo en un acke. — Voit CH. Paul de Kock. 1^ Fr. Ülasielino la 8ahnlievo. Gomesiie-vmulevillo en «lenx acles. — Von Bahard, Lafitte und Desnoher. 2 Fr. Mannigfaltiges. — Der König der AshantecS. Dieser König beherrscht einen der mächtigsten Neger-Stämme Afrika'« und ist von einer wahrhaft barbarischen Würde stets umgeben. Zu den Emblemen, die über seinem Throne aufgchängt sind, gehört unter Anderem auch' ein Mciischcn- Schädel. Er darf gesetzlich 3333 Weiber besitzen, eine mysteriöse Zahl, auf der seine eigene so wie die Wohlfahrt seiner Unterthemen beruht. Bei seinem Tode werden seine Diener, über hundert an der Zahl, auf seinem Grabe geschlachtet, damit er i» der anderen Welt mit einem seinem Range entsprechenden Gefolge ankomme. — Der Bicnenflug. Wie weit die Bienen zu stiegen vermö gen, geht unter Anderem daraus hervor, daß uns achtbare Seeleute ver sichert haben, sie hätten an der Küste der Normandie Bienen cmkom- mcn scbcli, die seewärts von den Inseln Gucrnscv und Jersey, also aus cinrr Entfernung von mehr als fünfzehn (Engi.) Meilen herkamcn. Die Bienen fliegen von diesen Inseln nach dem festen Lande, um die Blumen zu plündern und bcutcbcladen nach ihren Stöcken zurückzukeh- rcn. Daß die Sehweite des Bienen-Auges nicht auSreicht, um den Thieren ihre Richtung anzuweisen, ist wohl nicht zu bezweifeln, und doch stiegen sic, wie man bemerkt haben will, den geradesten Weg, ohne daß cs ihnen vergönnt ist, untcrweges eine Station zu mache», da ihr Flug über das Meer hingeht. (Goml. Osts.) HcrauSgcgeben von der Redaktion der Allg. Prcuß. Staat«-Zeitung. Redigirt von I. Lehmann. Eedruc.l bei A. W. Hayn.