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323 war auch keinc Here gemeinen Schlage-; sic balle clwas Würdevolle« in ihren Mienen, und man sah es ihr an, daß sie selber an ihre Kunst glauble. Auch mir kam eine Art von Glaube daran in den Sinn, so haß ich nicht waglc, meine Hand zurückzuzichc», als sic mil ihrer dür ren Faust danach griff und mit gevietcrischem Blick mich gewissermaßen zwang, sie auszustrccken. Ich mcincsthcils sah unlcrdessen wo anders hi», so grauenerregend war mir ihr Anblick. — Ob! Ob, was seh' ich, sprach sic mil heiserer Stimme und murmelte zwischen den Zahnen; cs wird nicht lange dauern, mein Sohn, so hast du Felder und Wiesen und Heerdt», Hammel, Kühe und Kälber, Haris nud Garic». Habt ihr Lust, dann und wann einmal iri der Stadt die Geschäfte der Wirth- schast zu vergessen, i» einem schönen Lehnstuhl von Utrechter Sammel mit breiten Streifen, im ersten Stockwerk rincs geräumigen wohl cin- gerichtcten Hauses, das euch cbcnfalls gehören wirb — auch das steht hier, auch ein Balkon mit Blumen besetzt, der die Aussicht auf den großen Platz hat — und auf dem ihr, euer Journal in der Hand,- wcnn's euch fonft Spaß macht, zum behaglichen "Mittagsschläfchen sitzen werdet. — Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, denn das Le ben, das sie mir vormalle, gefiel mir ganz vortrefflich. — Kaum bis In die Pvrcnäen werdet ihr sehn, setzte sie hinzu, indem sic meine Hand zornig von sich stieß, zo wird euch dies Glück geboten werden, und ihr werdet es von euch stoßen. — Ich verstand nicht, was sic meinte, und gab im Grunde auch so wcnig auf das ganze Geschwätz der alten Here, daß ich seitdem nicht wieder daran gedacht bade." Das Zusammentreffen dieser beiden seltsamen Ereignisse machte Herrn von LouvoiS stutzig. Nach eincm kurzen Befinnc» thcilte er, was sich zwischen ihm und Herrn Despin begeben, an Paul mil und legte ihm die Schenkungs-Akte, aus der nur noch die Unterschrift fehlte, vor. Er entfernte sich dann, nm den Jüngling seine» eigenen Gedanken zu überlassen. ES war wirklich der Blühe wcrlh. Mittlerweile war cs Tag geworden; die Wasser der Gavc waren in ihr Bett zurückgekehrl, ungeduldig stampften die Pferde im Stall, und Herr von Louvois schickte sich zur Weiterreise an. Nach Verlauf einer Viertelstunde lrat Paul zu seinem Herrn ins Zimmer, mit be scheidener, aber fester entschlossener Miene. „Nun!" rief Herr von Louvois ihm mil Lächeln entgegen, „habe ich das Vergnügen, mit dem jungen Herrn DcSpin zu sprechen?" — „Nein, gnädiger Herr", antwortete Paul, „sondern nur mil Paul, mil dem, der Ihr Bedienter gestern war, der es beule ist und der keinen andere» Wunsch Hal, als cs immerdar zu bleiben, sofern Sie mil ibm zufrieden sind " — „Hast du gehörig nachgedachl?" cntgegnelc ihm Herr von Louvois erstaunt. — „sind wenn ich zehn Jahre um und uni darüber nachdächle, meine Entscheidung würde nie anders ausfallcn." Herr von Louvois sah ihn ernst, mit gespanntester Aufmerksamkeit an. Ec fuhr fort: „Ich bin aufs äußerste bewegt von dem Unglück jener Familie, und Gott weiß es, wie gern ich zu ihrem Tröste etwas beitragen möchte. ES sollte mir eine heilige Pflicht sehn, die ich unbe dingt erfüllen würde, wenn sie sich mit denen vereinbaren ließe, die mir einmal obliegen, ganz abgesehen von meinem Vortheil, dessen cS wahr lich nicht erst bedürfte, nm mich dazu zu bewegen; aber, gnädiger Herr, was dieser gute alle Mann von mir fordert, bin ich einmal nicht im Stande, ihm zu leisten: er sucht einen Sohn, und ich habe einen Vater. Meinem Vater gehört eS, was von kindlicher Zärtlichkeit und Sorgfalt in mir ist, und das Herz eines Sohnes läßt sich weder verschenken, noch erkaufen. Der achtbare Mann, der mich bat reich machen wollen, bat Ansprüche auf meine Dankbarkeit: und mchr als Dankbarkeit kann ich ibm nicht bieten. Die Empfindungen, die Regungen, die cr von mir begehrt, gehören jenem anderen Greise, der mich ernährt und er zogen bat von dem mühsame» Ertrag seiner Arbeit im Schweiße seines Angesichts, mich an scmcm Busen erwärmt hat, weil« ich fror, geweint bat an meiner Wiege, wenn ich krank war, und der auf meine gute Führung und meine Dankbarkeit gegen ihn die letzte Hoffnung seiner allen Tage gebaut hat. Glauben Sic, cr würd' cs überleben, wenn cr ersührc, ich hätte scincn Namcn für Gcld vcrkaust, bätlc da« Andenken an seine Umarmungen und seinen Ratb von mir gelba» wie einen allen Rock, hätte meine neun Geschwister Verleugner wie ein Verrälhcr und schlechter Kerl, um mich den Freuden eines üppigen Müßiggangs un- gefiörl binzugeben? Sie werden mir ohne Zweifel sagen, gnädiger Herr, daß mein neues Verhältnis; mich in den Stand setzen würde, ihm Guics zu thun, daß Herr Despin selber gewiß nichts dagegen haben würde gegen ein solchc« Mindesten von meinem Ueberfluffc, und daß in Erwägung diese« Vorihcils meine Undankbarkcst und Schlechtigkeit vor den Menschen Entschuldigung finden würde. Wer aber rechtfertigt mich vor mir selber, vor meinem eigenen Gewissen? llebrigcns wäre es un bedingt notbwcndig, daß mein Vater in diesen schmachvollen Ersatz cin- willigc» müßte, und ich kenne ibn zu gut, als daß ich nicht wissen sollte, daß cr ihn mit Unwillen von sich wriscn würde. Ich höre ibn förmlich: Wit, würde cr ausrufcn, wie kommf denn der junge Herr DeSpin aus Gaujac, den ich gar nicht kenne, dazu, mir scine Almosen anjubiclen? Wer hat ihn denn darum ersucht? Wer bat ibm denn was von meiner Lage und meiner Armuth gesagt? Habe ich mich etwa in die Nolbwendigkeil versetzt gesehen, seine Hülse in Anspruch zu neh men für den Unterhalt meiner neun Kinder (er würde mich nicht mehr milzäblcn), für ihre Erziehung zur Gottesfurcht und zur Liebe ihrer Familie und ihres Vaterlandes? Wenn der junge Herr Despin zu viel Geld bat, wcnn cr nicht weiß, wo er damit bin soll, vielleicht diese oder jene Gewissensbisse empfindet, die ibn quäle» und mabncn, von feinem Ueberfluß zu spende» und ibn in Werken der Milde anzulegcn, warum sicbl cr sich nicht in dcr Nähe um, warum sängt er nicht in seinem Wohnorte damit an? Wird in seine», Dorf, unter seinen Nach barn keine Noth vorhanden sevn, der Hülse und Linderung willkommen wäre? — Den» ich würde, wie meinem Vater, so auch zugleich meinen Crinneriiiigkn, memen Jngendsreundcn, meinem Vaterland« fremd ge worden sehn — würde em neue« Leben «»sangen, das Leben eines Än deren, der nichts geliebt hat von alle dem, was ich licbc; und wenn cS endlich vorüber wäre, verkürzt durch das Bewußtsev» der Schande, durch nagenden Kummer, durch die Vergnügungen selber und die Lüste, in-die ich mich stürzen würde, um die Stimme meines Gewissens zu ersticken, würde ich den Schmerz und die Sehnsucht »ach mir zurück- lasse», die der Sohn des Herrn Despin hinter sich gelassen Hal? Was meinen Sie, gnädiger Herr, würde mein Vater, mein wirklicher Vater, mir's vergessen, daß ich ihn in seinem Aller verlassen, und auch das Gcbirgc durchstreifen, mei» Ebenbild auszusuchen? O, aus dem Wege gehen würde cr ihm viclmchr, wen» cr ibm bcgcgucle, denn nur an meinen Geiz, an mcinc unwürdige und niedrige Gesinnung würde cs ibn erinnern! Nein, gnädiger Herr, ich vcrlauschc meinen Stand nicht, vertausche meine Lage nicht, weil ich nicht meinen Namen, weil ich nicht meine Familie vertauschen will. Ich bleibe arm, aber blribc meines Vaters Sohn und erhalte mir so das Recht, ihn ohne Erröihcu an mein Herz drücken zu dürfen. Das ist mehr wcrlb als Geld." „Bezahl' dic Rechnung, geh mein Sohn", sagte Herr von Louvois und wandte sich um, seine Rührung vor dcm Jüngling zu verbcrgcu. Eine Viertelstunde darauf erknalltc die Peitsche dcs Postillons. Ein Wagen rollte davon. Paul saß auf dcm Bock wic Abcnds zuvor. Ein Mann, dcr aus Alles, was im Hause vorging, aufmerksam war und bangen Herzens in seinem Zimmer auf und ab irrte, einmal übcr das andere die Hülse Golles anruscnd, flog bei dem Gerassel ans Fenster — die Gcwißheil zu erhallen des neuen Unglücks, das ihm doch nicht möglich geschienen. Er sah cs nun, daß Alles verloren war für ibn, Alles, auch dic Hoffnung. Er hallc scincn Sohn zum zweitenmal sterben scheu. Paul war weg. Wie voni Donner gerührt, sank dcr Greis auf das Belt, das noch unberührt dastand, und als ein Anfwärler ihm das lraurlgc Schreiben, das Herrn von Louvois' Lebewohl enthielt, überbrachte, warf cr nur einen Blick hinein, einen trostlosen Blick des Jammer«, denn den In halt dcS Briese« kannte er schon. O, des Unglücklichen! Wo die Krast bernehmen, nach Hause znrückzukcbrcn? — vor seine Fran binzulrclcn, die so sehnsuchtsvoll aus seine Rückkunft wartete und dcs Erfolgs seiner Reise so sicher war? Wie ihr s bcibringen, diese Hoffnung weniger Stunden, die nun in ewige Trauer verwandest war? Nur durch dic Rcligidn ist cS erklärlich, wie das Herz nach solchen Prüfungen siel' fassen und noch länger schlagen kann. Wir scheu in einen Abgrund von Qualen hinein, dcr sich kaum begreifen und nicht bcfchrcibcn läßt. Hier endet dicsc Geschichte, an dcr ich auch nicht den kleinsten Umstand verändert oder hinzngcsctzt habe, weil jede Zulbal sie, mciner Ansicht nach, verderben würde — und sic kann un« wohl Veranlassung und Stoff zu ernsten Betrachtungen gebe». Stolze Philosophen, die Golle« unmittelbares Eingreisen in irdische Angelcgcnheilen leugnen, werden diese wunderbaren Umstände der Macht dcs Zufall« zuschrcibcn, denn Zufall ist der Name, den dcr kurzsichtige Verstand Golt giebt, wenn cr in seiner Verzweiflung so weit gekommen ist, nicht an ihn zu glauben- Religiöse Gemülhcr wcrden ein tröstliche res und erhebendere« Svmbol darin erblicken. Welchen Trost kann in ter Thal die mächligsic Fürbitte einem verwaisten Herzen geben, das dcr Lod zerrissen bal? Ach! nur Schein und äußere Form de« Leibe« vermag sic zu geben, denn die Seele, dic ehemals in dcr Hülle gcbaust, ist ja schon bei ibm, dcr uns den Odem cingchauchl, seinen Odem! und einzig und allein bei ibm, finden wir Alles wieder, was wir je verloren. Was auf Erden zurückblcibt, ist nur ein täuschender Schein, ter das Auge eincs Vaters auf einen Moment, aber nicht lange seine Liebe, seine Zärtlichkeit betrügen kann. Um das Leben eines geliebten Wcscns, das uns entrissen worden, von neuem wieder erstehen und beginnen zu seben, müssen wir e« in un« und au. un» selber «»sangen; und dieser Gedanke allein wäre hinreichend, dcn Tod zu verschönen, wenn der Tod überhaupt versüßt und verschönt zu werten bedürsic in irgend Jemandes Augen, ter lange gelebt bat. Aber wenigstens wird da« Leben doch nicht vorbei sevn mit dem Lote und doch wictcr von neuem anbebcn? O wahrlich! zweifle Keiner daran, cS wirdb ES ist in dieser Schöpfung nichts, wa« barmcnisch und voll kommen wäre, wcnn es nicht das Herz dcs Menschen ist; die Rolle eines Tages, die cs auf Erden spielt, wäre dic jämmerlichste Epifodc in dcm erbärmlichsten Drama, wcnn das Entc dieser Handlung voll Spott und Hobn und Grausamkcil nichts Anderes wäre als dcr Tod, das dumpsc taube Nichts. Für einen Zweifel ist hier gar kein Raum, weil ein solches Geschick absolut unmöglich ist. Man sagt mit Recht, daß inan sich erst umgcsehen baden müßte in jener Wcll, nm hicnieden bestimmte Begriffe über jene gcbeimniß- volle Zukunft aufstcllen zu können, und solche Fälle Pflegen nicht ost vorzukommcn- Einen indessen kann ich «nfübrc», den Isländer Brssc- stedl, dcr nach acht Tagen wirklichen Totes au« seinen' Sarge lebendig herausgeboben wurde und noch zehn Jahre lang in llcbunz gute- Wrrkc, aber außer dcr unmittelbaren Gemeinschaft dcr Menschcn lebte. Dicscr Weisc, murr dcm Namen oder vielmcbr Beinamen Lazarus Neodius (Nenleben) — denn die Kritik ist übcr diesen merkwürdigen Punkt dcr Lilcrarhistoric noch nicht im Reinen — Halle die ganzc Zeil übcr, während welcher er ter Erde cnlrückl war, i» der Zwischenwclt zugc- brachl, wo dic Guten dic crstcn Früchle ihres Lobncs gcnicßcu und fick' durch mildere Prüfungen, als die irdischen sind, zum würdigen Genuß dcr cwigc» Frcudc vorbcrcitcu. Er hallc dorl in dcr böchstrn Entzückung seincr Seele, die man.für unaussprechlich ballen möchte, wärc cs ibm nicht gelungen, sic in vercdlcster anschaulichster Weise zu schildern, scinc Familie und seine Frcunde wiedergcslmtcn; und als er sich nun noch einmal in die Schmerzcnsbandc dieses Lebens dcr Trübkale und Prüfun gen zurückgewoiscn sab, da belrachtcle er tiefe Verbannung auf die Erde al« eine heilige göttliche Sentung, tie Frommen in ihrer Hoffnung und Zuversicht zu bestärken und die Schwachen gegen die Süntflutb falscher Lehren zu schirmen und zu festigen. Das ist der Gcaenflanb und Inhalt dcs mcrkwürdigcn BuchcS von Lazarus Neokius, übir das