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178 *i»d jU den eisernen Tbürcn der Bastille, so wollen wir es auch keines- weges unter die Beweisstücke aufnehmen, oder überhaupt nur die Wahr scheinlichkeit der Sache vcrlhcidigeii. Erklärlich wäre es jedoch, daß der Fund eines Papiers und einer neuen Ansicht über die eiserne Maske kein so großes Aufsehen erregte, denn die Einnahme dec Bastille hatte die Gemüther an das Unvcrmulhete und Wunderbare gewöhnt, und die republikanischen Gefängnisse sollten bald noch unerklärlichere und schau- Lervollere Geheimnisse darbictcn. Der maskirte Gefangene war noch einmal ein Gegenstand der Mode und eine Lieblings-Beschäftigung der Pariser Presse geworden. Herr Charpentier, Lingncl's Freund, von dem er aufgemuutert wurde, ein historisches Werk über die Bastille zu schreiben, wozu dieser ihm merk würdige Aufschlüsse versprach, kam auf den Gedanken, die Ungerechtig keiten, welche diese Beste in ihrem Dunkel verborgen hatte, ans Tages licht zu bringen, und gab „die enthüllte Bastille" in Lieferungen heraus, die im Jahre I78S begannen und damals ungeheures Glück machten. ES war dies ein mit Erläuterungen versehener Äbdrnck des Hanpt-Re- gistcrs jenes Gefängnisses, worin die Ankunft und der Abgang der Ge fangenen in chronologischer Reihefolge regelmäßig verzeichnet waren. Die neunte Lieferung enthielt die Nachrichten, die man über den ver- larvten Gefangene» halte anstrcibcn können. Der Ursprung dieser Nach richten wäre verdächtiger gewesen, hätten die angeführten Tbatsachen nicht so viel Aehnlichkcit mit den von dem Pater Griffel cirirlen Stellen aus dem geschriebenen Tagebuche des Herrn Dujnnca gehabt. Da Folio 120 des Hanpl-RcgisterS nicht von so aller Schrift war, wie die folgenden Blätter, und da auf jenem Blatt, welches das Jahr 1608 umfaßte, der Ankunft des Mannes mit ter Maske gar nicht er wähnt war, so schöpfte man Bcrdacht, der auch durch andere Lücken bestätigt wurde, und man gelangte bald zu der Gewißheit, daß im Jahre 1778 Herr Amelot, Polizei-Präsident der Stadt Paris, sich alle mittel bar oder unmittelbar aus de» maskirtcn Gesangencn bezügliche Aktcn- fiücke hatte ausliefcrn lassen. Der Major der Bastille, Herr Chevalier, der dies Amt seit 1712 bekleidete, erklärte selbst, daß er aus Befcbl des Präsidenten jene Dokumente berauSgefucht und die aus dem Haupt-Re gister gerissenen Blätter an Herrn Amelot geschickt habe. Man halte Grund, zu glauben, daß diese Blätter vernichtet scven, aber, heißt cs, man sand sic wieder; Herr Duval, ehemaliger Polizei-Scccctair, war so glücklich, nach vielem Suchen diesen Fund zu machen, und ihre Echt heit wurde nicht bezweifelt, als Charpentier sic in feinem mit Besonnen heit und weiser Kritik redigirlen Buche, welches nach nnd »ach, so wie es erschien, i» Deutschland und England überseht wurde, abdruckcn ließ. Bemcrkenswcrlb ist es, daß das Blatt, auf welchem die Ankunft des Gefangenen in der gewöhnlichen Form vermerkt ist, aus mehrere» abzelheiltcii Kolonnen besteht, wovon die eine für die Aufzeichnung der Hinweisungcn aus den Band und die Seitenzahl eines Tagebuchs, einer Korrespondenz oder einer Sammlung, die nicht mehr vorhanden, be stimmt war, was ziemlich mit der Abfassung des in dem „Zeitvertreib eines Französischen Patrioten" beschriebene» Zettels übercinstimmt. Dies aufgesundene Blatt ist aber offenbar unecht, cs mag nun das. Ganze ein bloßes in den Polizei-Büreaus geschmiedetes Machwerk, oder cs mag von dem ehemaligen echten Blatt mit bedeutenden Verfälschun gen kopirl sehn, denn unter der Rubrik „Bemerkungen" liest man: „Dies ist der vielbesprochene Mann mit der Maske, der noch von Nic- iiiaiid euträchsell worden." Wie bälte man fv etwas wohl im Anfänge des litten Jahrhunderts schreiben können, da dieser Mann erst im Jahre 1783 nach dem Erscheinen von Boltairc'S „Zeitalter Ludwig s XIV." viel besprochen wurde. Bei dieser Gelegenheit schlug Jemand salzende derichtigte Lesart für die Zahl des in der Bastille gcfundcricn Zettels vor: 0 — 4 —37 —8 —WO, indem er vermittelst Hinzufügung einer ein zigen Ziffer eine annehmbare Erklärung derselben bcrausdringcn wollte, nämlich so, daß dieser Zettel nach dem Tode des Gesangencn geschrieben worden wäre und sür die Ankunft Fouquets in der Bastille im Jahre 1663 auf den 6ten Band, für dessen Entfernung im Jahre 1664, als cr nach Pignerol gebracht wurde, auf den 4tcn Band, für seine Rück kehr nach der Bastille im Jahre 1008 auf den 37stcn Band, sür seinen Tod im Jahre 1703 auf den 8len Band verwiese» und endlich die Zahl 000, als die der vor ihm eingetragenen Gefangenen, enthalte» hätte. Zn dieser Auslegung gaben zwei ans jenem Blatt befindliche Hinwei- lungcn auf den 37stcn und 8icn Band des von Herrn Dujnnca geführ ten Journals, welche beide Bände sich aber nicht mehr vorfandcn, die Veranlassung. Der Herausgeber der „enthüllten Bastille" nahm jedoch zu solchen problematischen Berechnungen nicht seine Zuflucht; cr prüfte kurz und bündig, aber mit Einsicht, die verschiedenen Ansichten, welche man bis dahin mit Bezug auf die eiferne MaSke geltend gemacht hatte, und er kam auf die Meinung Voltaire s oder des Verfassers der „Liebschaft Anna'« von Oesterreich" zurück, indem er zu beweisen suchte, daß der Gefangene ein natürlicher Sob» Anna's und Buckingham's gewesen scv. Es öffnete sich jetzt den Muthmaßungen ein um so weiteres und freieres Feld, als die Königliche» Censorcn ihr Imprimatur vom ersten Jahre -der Freiheit daiirtc». Die eiserne Maske überschwemmte das Publikum noch einmal mit mehr oder minder hypothetischen Abhandlungen, und auch die augrse- bcnsten Englischen Kritiker beschäftigten sich mit diesem Gegenstände. .Herr Quentin Crawfurd verglich im Jahre 1700 die bis dahin verthei- rigten Ansichten mit einander und erklärte sich so sehr von der Rich- lizkeit der Boltaireschen überzeugt, daß er nicht im geringsten zweifelte, der maskirte Gefangene scv der Sohn Anna's von Oesterreich gewesen, nur konnte cr sich über die Zeit seiner Geburt nicht entscheiden. Herr Crawfurd schrieb später noch ei» Französisches Werk über diesen Gegen stand, bediente sich aber nicht sowobl schriftlicher Dokumente, als Hiera tischer Gründe zu seiner Beweisführung. Dieser vermeintliche Svbn Anna's von Oesterreich schien damals die meiste Wahrscheinlichkeit sür Fck zu baden und den Muthmaßungen, die der Mann mit der Maske seit 48 Jahren veranlaßt hatte, ein Ziel setzen zu sollen; man beschäf tigte sich auch nur noch damit, de» Vater, dieses Unglücklichen ausfin dig zu machen. Herr von Saint-Michel, der im Jahre I7W eine Broschüre in Oktav unter dem Titel: „Der wahrhafte Mann genannt mit der eiserne» Maske, in welchem Werk aus unwiderleglichen Beweisen dargethan wird, wem dieser berühmte Unglückliche das Lebe» verdankte, wann und wo er geboren wurde", herausgab, wollte eine „geheime Ehe" zwischen der Königin Muller und dem Kardinal Mazarin glanblich machen. Dies wäre in der Thal ei» vorlrefflichcs Beispiel gewesen, auf das sich die dem Cölibal abgcneiglc» Geistlichen hätten berufen können; aber die Kritik mochte von der Lcgitim-Erklärnng des Ursprungs der eisernen Maske nichts wissen und an Mazarin s Hochzeit keinen Theil haben. Wäre es nicht vernünftiger gewesen, lieber dem Advokat Bouche zu folgen, der in seinem „Versuch über die Geschichte der Pro vence" zwei Bände in Quart, erschienen im Jahre 1788, die Geschichte der eisernen Blaske als eine von Voltaire erfundene Fabel betrachtete, oder gar nicht weil davon entfernt war, zu glauben, dieser Gefangene seh eine Frau gewesen. Von historischer Wahrheit konnte in jenen Zeilen der gesellschaft lichen Umwälzung, wo die Begebenheiten des Tages denen des vorigen Abends widersprachen, wo die Menschen sich selbst nicht mehr kannten, wo die Gegenwart, gleich einem ausbrechenden Vulkan, ihren Wider schein und ihre Lava auf die Vergangenheit warf, keine Rede mehr sehn. Falschheit herrschte in den Gesinnungen, in den Gedanken, in den Sitten; Ucbertreibunz verdarb das Trefflichste, und Niemand ward eS gewahr, weil Jeder vom allgemeinen Strudel mit forlgerissen wurde. Bis dahin war die merkwürdige Geschichte von der eisernen Maske gleichsam einer chemische» Analyse unterworfen und von allem falschen Zusatz, de» die Ueberlieferung darunter gemischt halte, entbunden wor den. Im Jahre 1700 aber erörterte inan nicht mehr, sondern schob ein Dokument unter, wonach die Frage ohne Appellation unter dem Deckmantel jenes Marschalls von Richelieu, der um das Geheimnis? Ludwig« XIV. gewußt habe» sollte, ontschicde» wurde. Der Abbö Soulavie nämlich, der sich darauf verstand, die authentischste» Akten stücke in eine» Roman zu verwandeln, und der seine gröbste» Betrü gereien sür Wahrheiten auSgab, verfehlte nicht, die eiserne Maske in die „Denkwürdigkciten Richelieu s" hineinzubringcn, und behauptete, diese „Geschichte" unter den Papiere» des Marschalls entdeckt zu haben. Letzterer war wirklich so unvorsichtig gewesen, Soulavie seine Bibliothek, seine Schriften und seine Korrespondenz anzuvertraurn; aber cs ist ge wiß, daß Soulavie die lächerliche Geschichte, welche im diiltcn Bande der Denkwürdigkeiten erzählt wird, i» den Mappe» des Herzog« von Richelieu nicht gefunden bat. Nach dieser Erzählung, die von dem Gonvernenr der eisernen Maske herrührc» soll, wären, al« die Königin guter Hoffnung war, zwei Hirten zu Ludwig XIII. gekommen und hät- tc» ihm verkündigt, daß Anna von Oesterreich Zwillinge zur Welt brin gen werde, die durch ihre gegenseitige Eifersucht große Kriege verursachen würden, und Ludwig Xlll. hätte, seine Vatcrpflichtc» dem Glück seines Volke« opsrrnd, auf der Stelle den Entschluß gefaßt, die Geburt des zweiten seiner Söhne sür immer geheim zu halten. An dieser herrlichen Geschichte sand man solchen Geschmack, daß Champfort, al« er über die „Denkwürdigkeiten Richelieu s" im fflercure Bericht erstattete, mit einer zu seinem sonst so beißenden Charakter nicht wohl paffenden Gutmüthigkcit ausricf: „Endlich ist es enthüllt, die« Gcbcimniß, das so lebhafte und so allgemeine Neugier erregt hat!" Aus Lügen kam es Soulavie nicht an „bei der patriotische» Gesinnung, die ihn beseelte." Er gab vor, dcr Regent habe die Erzählung des „Goiivcrnrurs" dem Fräulein von BaloiS als Preis für eine Gefällig keit anderer Art anvertraut, nnd diese Fürstin habe jenes mit sehr schmutziger Münze bezahlte Manuskript dem Herzoge von Richelieu, ihrem Geliebte», für dessen Neugier sic sich geopsert, übergeben. Was kostete dem Abbü Soulavie eine Uukcuschheil mehr oder weniger, wein; cr seinen nach vortrefflichen Eruiidsätzcn redigirlen Offenbarung'» nur eine Würze mehr ertheilen konnte. Dcr Authentizität dieses Mährchens wurde indeß nicht widersprochen, weil man im Angesicht des Schreckens und bei dem Donner dcr Lärmkauone keine Zeit hatte, sich mit einem so frivole» Gegenstände abzugebcn. klebrigen« warf sich Soulavie zu gleich zum Kämpen für die Tugend Anna'« von Oesterreich auf und erklärte die Ansicht für falsch, die in der eisernen Blaske eine» natür lichen Sohn dieser Königin und Buckingham s erblicken wollte. Senac von Mcilhan, der sich durch die erdichteten „Denkwürdig keiten der Pfalzgräfin Anna von Gonzaga" in ter Literatur einen Na men gemacht halte, schlug gerade die entgegengesetzte Richtung von Soulavie ei», als ihm die Lust aRam, sich auch an der eisernen Maske zu versuchen; er wählte nämlich die am wculgstc» romauhafte und am besten durch Beweise unterstützte Ansicht aus nnd verbreitete sich dar über in einem sehr verständig geschriebenen Artikel in seinen im Jahre 1708 zu Hamburg gedruckte» philosophischen und literarischen Werke», zwei Bände in Duodez. Er versetzte sich wahrend seiner Emigration in Gedanken nach Frankreich zurück, geführt von dem maskirtcn Gesa»- gcneii, den er nach dcm in der „kurzen Geschichte Europa s" übersetzte» Jtaliänischen Briefe sür den Secrelair des Herzogs von Mantua hielt. Senac von Meilhan bekräftigte jenes Zeugniß durch das der Jlaliäni- schen Journale von 1782, die nach den Manuskripte» eines in dem ge- nannteii Jahre zu Turin verstorbenen Marquis von Pancalicr de Priö die Anekdote von Mattbioli'S Entführung erzählt batten. Die Ansicht Senac « von Meilban erhielt sich durch da« Gewicht der Aktenstücke, die man in den Archiven des Ministeriums der auswär- lige» Angelegenheiten entdeckte, und sie ist i» der Thal fast die einzige, die sich noch bi« auf den hentigcn Tag mit einigem Anschein von Wahr heit behauptet hat. Herr Roup-Fazillac war der Erste, der im Jahre 1800 i» den „historischen und "kritischen Untersuchungen über den Mann mit der eisernen Maske, mit sicheren Ergebnissen über diesen Gefangenen", 142 Seiten in Oktav umfassend, jene authentischen Dokumente heraus-