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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration«! Preis 22^ Sgr. (L Thlr.) vierteljährlich, Z Thlr. ftir da« ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen Ler Preußischen Monarchie. Magazin für die Man prilnumerirt auf dieses Bcidlatt der AUg. Pr. Stase«- Zeitung in Berlin in der Expedition (Mohren - Straße Nr. Z4); in der Provinz so wie im AuSlande bei den Wohllöbl. Post - Acmtern. Literatur des Auslandes. 66. Berlin, Mittwoch den I. Juni 1836. Frankreich. Die beiden Tage. Der 20. März 1811 und 1815. Von dem Grase» Theobald Walsh. Ls war am 20. Marz I8II, als man in Paris einem großen, be deutungsvollen Ereignisse entgegenharrle. Schon am Abend vorher ward in einer Beilage zum Moniteur den Bewohnern der Hauptstadt die offizielle Anzeige gemacht, daß Ihre Majestät die Kaiserin Marie Louise die ersten GedurlSwehen empfunden habe. Die Kanonen des Invaliden hauses sollte» sofort ihre glückliche Entbindung anzeigcn, und zwar soll ten bnndert Schüsse eine» Prinzen, einundzwanzig aber eine Prinzessin verkünden. Ler Morgen war herrlich; die „Sonne von Austerlitz" erhob sich au einem unbewölkten strahlenden Himmel, als ob sie eben einen neuen Triumph zu beleuchten sich anschictie. Ich befand mich in dem bevöl kertsten Theile der Straße St. Honvrö auf der Höhe vou St. Roch; es war zehn Uhr; eine Menge von Fußgänger» streifte überall umher, und zahlreiche Equipagen durchkreuzten einander unaufhörlich; um mich her war Alles Lärm und Bewegung.... Endlich ertönte der Ka nonendonner; auf einmal entstand ein allgemeines Stillschweigen; Vor übergehende, Wagen und Karren, Alles stand auf einmal still, wie vou einem Zauber berührt; einige Equipagen, die ihre» Weg noch weiter fortsetzen wollten, wurden durch gebieterische und drohende Stimmen ge zwungen, Hall zu machen. Alle Krämer und Portiers stürzten zu den Thüren heran«; die Fenster waren mit Köpfen übersäet; mit Blitzes schnelle verbreitete sich unter der Menge jene instinktmäßige Aengstlich- keit, die Vorläuferin aller großen Volksbewegungen, bei denen die Ein drücke der Masse auf die Eindrücke des Einzelne» zurückwirken und die Gewalt derselben unendlich vervielfachen. Aus alle» Gesichtern war ein und dasselbe Gefühl, da« Gefühl einer ungeduldigen und ängstlichen Neugier, oder vielmehr einer herzliche» Theilnahme zu lesen. Unterdessen wiederholte sich der Kanonendonner, die Gcmülhsbe- wegung stieg mit jedem Augenblicke; man zählte mit lauter Stimme, und so wie sich die entscheidende Zahl näherte, vernahm mau einen immer heftiger werdenden Widerspruch unter der Menge. — Achtzehn! — Nein, siebzehn. — Zwanzig, einundzwanzig! — Dreiundzwanzig.... Kein Zweifel mehr! Ein lebhafter Ruf: „Es lebe der Kaiser! drang mit Einem Male durch die Massen, die bis dahin voller Erwar tung stumm und unbeweglich geblieben waren. Das, was unmittelbar unter meinen Augen vorging, wiederholte sich in demselben Augenblicke auf allci, Punkten der weile» Hauptstadt; die Lust wiederhalltc von dem gewaltigen allseitigen VolkSgcschrei; es war, als wen» man das Him melsgewölbe selbst erschüttern wollte. Man umarmte sich, man wünschte einander Glück, ohne sich gegenseitig zu kenne»; ma» fing an, mit Eiser und Hitze das Ereigniß zu kommentiren, dessen Bedeutung und unbe rechenbare Folgen zwar nicht vou Allen begriffe», aber doch wenigstens geahnt wurden. Der noch immer anhaltende Kanonendonner kündigte Frankreich und Europa an, daß die neue Dynastie begründet und daß die Bestimmung der „großen Nation" eine Garantie mehr erhallen hätte. Der Wiederhall des friedlichen KanonenfcuerS sollte das benach barte Englische Reich in Schrecken setzen, den Verbannten von Hartwcll die letzte Hoffnung rauben und den Mächten des Kontinents die Ueber- zeugung liefern, daß nun die Autorität des Soldaten-Kaisers auch für alle Zukunst gesichert sey. In der That hatte Napoleon s Stern nie glänzender geleuchtet, als gerade jetzt. Wer hätte wohl damals an der Beständigkeit seines Glückes zweifeln sollens Alles war ihm nach Wunsch gegangen, und erst in dem vergangenen Jahre hatte er die Tochter eines Römisch- Deutschen Kaisers au de» Brautaltar geführt. Nie Halle Napoleon das Gefühl seiner hohen Bestimmung lebhafter empfunden, nie war ihm das Bewußtseyn seiner ganze» Gewalt in kräftigeren und markirtercn Züge» vor Augen getreten. An jenem Tage schien er den Anlauf zur all gemeinen Weltherrschaft zu nehmen, und nun ward ihm ei» Sohn geboren, der sein Geschlecht sortpslanzen und seine Werke verewigen sollte! Das ausgezeichnete Glück des größten Mannes der neueren Zeit Halle dem Nationalstvlze geschmeichelt, die edlen Leidenschaften des Volks angeregt und den ehrgeizigen Träume» der Jugend ein unbcgranzles Felb eröffnet. Zn den Augen der Menge Halle der Ruhm die Kraft, Alle« ais legilim zu stempeln und selbst den unterwürfigsten Gehorsam zu adeln. Die kalte, vorsichtige Vernunft und der erliste, unintcressirle Patriotismus wurden nicht gehört. Ihre Unglücks-Verkündigungen hatten, wenn sie auch schon einmal zu Worte kamen, meist da« Schicksal der bekannten Worte der Trojanischen Priesterin. Der Kaiser Halle zu jener Zeil alle wirksame Kräfte der Nalion für sich; die Männer der Bewegung standen auf seiner Seile. Und dies war mehr als geling, um einige Ideologen zum Schweige,i zu bringen, die allerdings mit schwacher Stimme zu behaupten wagten, daß cS dem System, so fest es auch dem Anschein nach begründet seh. an einer reellen Basis fehle, daß der Mißbrauch dec materielle» Gewalt gegen die Freiheit de« Ge dankens und gegen alle moralische Interessen keinen Bestand haben könne; daß die Ideen keineSwcgcS in dem Maße wie die Konskribirte» unter die Zucht des passiven Gehorsams zu bringe» wären, eine Zucht, die übrigens von selbst ihre drohenden Gefahren habe; daß man end lich in unseren Tagen mit der Gewalt des Schwertes nicht« Dauerhaf tes gründen könne Versetzen wir uns mm nach demselben Tage vier Jahre später, »ach dem 20. März 1815. Die Zeiten hatten sich geändert. Der Kaiser hatte bereits seinen Stern erbleichen sehen, dec Reiz war gewichen, die Idee» reiften Hera», der Freiheitsdrang erwachte, und seit langer Zeit schon halte der Bruch zwischen der Nation und seinem militairischen Oberhaupte begonnen. Nachdem er einmal au« seiner Stellung vertrieben worden, Halle er für das Volk aufgehört, der Mann des Schicksals zu scpn. Die Interessen Napoleon'« waren fortan von denen Frankreichs geschieden, und der auf der Rückkehr aus Elba, von Cannes bi« Paris, von einem Glocken- thurm zum anderen fliegende Adler verkündete hier iiicht« weiter, als das Faktum der materiellen Besitznahme des Landes. Am 20. März befand ich mich vou acht Uhr Morgens an aus de» Straßen. In Paris hatte sich noch gar nichts verändert; nirgends eine neue Gestalt. Nur einige Königliche Freiwillige, die von ihren EhesS abgedankl oder von ihren in aller Eile in der Ülacht aufgebroche nen Corps zurückgelaffen worden waren, schliche» sich in aller Still« »ach ihre» Wohnungen. Sie waren unbewaffnet, aber die Lilien, die ihre Uniformen schmückten, verriethe» sie der neugierigen übelgesinnten Menge. Ihre unruhige Haltung, ihr eiliger Gang bezeugten hinlänglich, daß die Hauptstadt in die Gewalt eines neuen Herrschers gerathcn sch; in der That halte Rovigo bereilS die Verwaltung der Polizei übernom men, und der Kaise? wurde noch im Laufe des Tage« erwartet. Ich nahm den Weg nach den Tuilerieen; die Zugänge waren öde und still. Durch schwache Rathgeber hintergangen, durch die Vorspie gelungen einer ohnmächtigen Partei, die ihm den wahre» Zustand Frank reichs stet« verberge, hielt, cingeschläfert und getäuscht, endlich durch seine eigenen Marschälle, Truppen-Ches« und andere hohe Beamten, die sein Vertrauen zu erschleichen gewußt, schändlich verrathen, war der un glückliche Ludwig XVIIl. in aller Eile de« Nachts aus dem Palaste ge flohen, den er vermöge seines Geburisrechtes eingenommen und den er, nachdem er ibn kaum ein Jahr lang im Besitze gehabt, ohne Widerstand dem kühnen Nebenbuhler überlassen mußte. Es war die bittere Frucht einer reagirendcn, engherzigen und zweideutigen Politik, die ihm die von der Declaration von St. One» so abweichende Einleitung zur Charte in die Feder diklirt hatte. Durch diese Einleitung hatte er sich den Geist der Armee entfremdet und die Mittelklassen, die ihre Interessen gefähr det hielten, weil ihre Gleichheits-Ideen verletzt worden waren, von sei nem Thron entfernt. Als König der Emigranten, mußte er selber »och einmal emigriren, um etwa« von seinen alten Vorurtheilen, wäre es auch nur das, daß die Monarchie Ludwigs XIV. die beste gewesen, zu vergesse» und dagegen etwas Anderes, nicht minder Wichtige« zu erlernen, daß nämlich Herr von B ganz unfähig sey, da« Schicksal einer großen Nation zu lenken. Unterdessen hallen sich die Straßen, die öffentlichen Plätze und die Boulevard« mit einer unzähligen Menge gefüllt, die au« den verschie denartigsten Elementen zusammengesetzt war und eben so verschiedenar tige Gesinnungen zeigte. Die Vorstädte hallen ihre gesammle Bevölke rung auSgesandt, deren fremdarliger, abschreckender Anblick Jedem be kannt ist, der Pari« in einer seiner politischen Krisen gesehen hat; die große Masse schien aus ihren Schlupfwinkeln und Raubnestern hervor- gckrochc» zu seyn, um einen ihrer Festtage zu feiern. CS waren offen bar Leute au« jener Klaffe, die bei derselben ein Ansehen hatten. Was die besser gekleideten und anständiger aussehenden Männer betraf, die der Bürgerschaft oder der begüteilen Klaffe anzugrhören schienen, so war auf ihren Gesichtern eine Mischung unruhiger Neugierde und Nie dergeschlagenheit zu lesen, die gegen den ausgelassenen Frohsinn der nie deren Bevölkerung aus eine merkwürdige Weise abstach; alle diese düste ren Physiognomie«» erschiene» als eben so viele stillschweigende Pro-