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190 ander nicht fremd sind. Die Unwissenden und Ungebildeten gehören — gleichviel in welchem Stande sie sich finden — dem Pöbel an. Zn welchem Winkel der Well giebt es nicht Französische Hosmcister, Tanz- meister, Gouvernanten, Gesellschafterinnen, Haus-Secrclaire, Xiui» ci« la nmison, llnd endlich Modehändlcrinncn, die von der höheren Gesell schaft in Umgang nnd in Sitten nicht etwa» angenommen haben soll ten ! Die Franzosen sind, so zn sagen, die Makler nnd Eolponeurs des guten Tons, des angenehmen Umgangs, der Gewandtheit in der Cou- versativn. Dies sind unerreichbare Dinge für den Deutschen Burger, ja für den Englischen Dandy und eben so auch sür Nüssen, die nicht in der großen Welt lebten, nicht reisten und Europa nicht in Pclers- burgischen Gastzimmern höherer Klassen, oder in Paris sahen, indem, von allen Residenzen, nur die Petersburger Gastzimmer im gesellschaft lichen Ton Paris nicht nachsteben. Man lese in den Schriften des Fürsten Pücklcr-Muskau (Briefe eines Verstorbenen) die Beschreibung Londoner und Deutscher Gastzimmer, und man wird sich überzeugen, daß man dort nicht vorsindct, waS man bei uuS und in Paris steht. Dec Unterschied besteht nur darin, daß bei uns das seine WelUcben auf einen kleinen Kreis beschrankt ist und sich nicht ansbreilel, sondern wie ein Geheimnis; bewahrt wird. Wo sollen nun nnsrre Schauspieler und Schauspielerinnen den Wcltton, mit Allem, was ihm verbunden ist, kennen lernen? Diejeni gen, die dazu Gelegenheit hallen, cignclen sich ihn zu, und den klebrigen darf mau nichls zur Last legen. Schon früher einmal bemerkte ich, daß in unserer Literatur jetzt eine Art von Gährung cingelretcn scy. Wir wollen etwas Neues, Na tionales, Russisches schaffen. Wir sehen, daß die alten Französischen Formen uns eben so wenig passen, als die alten Französischen Habit» Imlnllös nnd der Puder. Wir schneiden sür unsere Literatur ein neues Kleid nicht ganz im Gegensatz des alten, sondern etwas nach dem alten und etwas nach dem netten Schnitt zu. Unsere dramatische Literatur spricht jetzt in hohen Russischen Phrasen, nennt glänzende historische Namen, beleuchtet (mit Lampcnschein) große vaterländische Begeben heiten. — Journale (d. h. besreuudete) erheben die neuen Erzeugnisse bis in die Wolken, und mangelt ihnen fremdes Lob, so loben die Ver fasser sich selbst, und zwar ohne Charlatancrie, mit voller Unterschrift ihres Namens. DaS Parterre klatscht, der Autor wird mit großem Zubcl auf die Bühne gerufen. Alles ist etilzückt. Was will man mehr? Weder Schiller noch Shakespeare feierten solche Triumphe! Folglich erschufen wir in unserer Zeit eine nationale dramatische Literatur, erschufen ein Cbakespcarcschcs Drama nnd warfen das Zoch des Fran zösische» Klassizismus von uns. Gul wäre es, wenn es so wäre. Un glücklicherweise aber ist Alles nur optische Täuschung, nur'Phan- l a S m a g o r i e! Will man Beifallklatschen, Herausruscn aus die Bühne in Frank reich, in England, in Deutschland, in Ztalicn, mit einem Wort, überall, ja sogar in Zapan und auf dem Vorgebirge der guten Hoffnung? Man schreibe ein Stück aus der National- Geschichte, bringe bekannte histo rische Personen auf die Bühne, lasse sie über Liebe zum Vaterland« i» hohen Phrasen deklamircn, in denen der Name Vaterland in lausend verschiedenen Laulen sich hören läßk. Man lasse diese Personen die Feinde des BalcrlandcS schmähen und ihre eigene Nalion über Alles erheben — und man kann überzeugt sehn, Entzücken und Beifallklatschen zu erregen, wenn auch das Stück ohne Gefühl ist, wie das Papier, auf welchem die Geschichte geschrieben ward, wenn auch dem Stücke Leiden schaften, regelmäßiger Gang und Zusammenhang schien, wie ungefähr auf einem Marionetten-Theater, wo die Personen auslreten, sprechen, mit den Armen umbersahren und wieder verschwinden, llnd werden dergleichen Stücke außerdem noch zur rechten Zeit gegeben, so ist ihr Erfolg gewiß und gewisser als bei Schillerschen und 'Shakespcarc- schen Stücken. Als im Zahre 1813 Napoleon s Armee, nach den Verlusten in Rußland und Deutschland, über den Rhein zog, gab man in Straß burg ein kleine«, ganz unbedeutendes Stück (bransniso st« I'oix ä la «nur clo b'r-mxom I.). DaS Theater war voll. Man Hörle anfangs gleichgültig zu; als aber rin Schauspieler die bekannten Worte Franz I. nach der Schlacht von Pavia: Pont ost ^«ostu, sors sihnnnvur! her- sagle, geriethen die Zuhörer fast außer ych. Man klatschte, schrie, weinte! Der Schauspieler mußte die eine Phrase hundert Mal wieder holen, nnd das Stück konnte vor lauter Zubcl nicht ausgespicli werden. Zn Folge dessen gab man auf allen Französischen Theatern dicsc« Stück hundert Mal nach einander. Die Gegner Napoleon s wagten cs nicht, sich zn rühren; man hätte sie in den Theatern in Stücke zerrissen. Halle der Versaffcr diese« Slückcs sich damals gczeigl, so würden die Franzosen ihn über ihren Racine und über alle Schriftsteller der Well erhoben haben. Zn dem nämlichen Zahre 1813 Halle auch in Deutschland jede« Stück, in welchem da« Wort Vaterland vorkam und einige Schmähreden gegen die Franzosen angebracht waren, eincn siche ren Erfolg. — Zhrc Versaffcr triumphirlcn. Von allen Gattungen von Ruhm erwarb sich Rußland bis jetzt nur dcn kriegerischen. Wir sind ein neue« Volk. Unser politisches Leben beginnt von der Schlacht bei Poltawa. ZenseitS dieser Schlacht liegen viel Unglück und Trübsal. Man muß ganz ohne Gefühl sev», wenn man gleichgültig bleiben kann bei der Erinnerung an die glück lichen Ereignisse, die in jenen Tagen des Leidens das unglückliche Ruß land tröstlten und beruhigten. Larin liegt der Grund, daß National- Slücke, so schlecht sie auch sey» mögen, immrr Tbcilnabme und lauten Beifall finden werden. Die« macht aber nur dem Gefühl der Zu schauer Ebre und nicht dem Talent de« Vcrsaffers, wenn das Stück nicht zugleich auch an und für sich wesentliche Vorzüge hat. Hier ist das Publikum selbst der Verfasser. Mit seinen Erinnerungen, mit seinem Gefühl füllt es die Lücken de« Slückcs aus und klatscht scinen Beifall der Geschichte, dem Valcrlande, seinem Herzc», und nicht dem Versaffcr. Unsere neuen Dramaturgen werden vielleicht auf mich zürnen, mich in Zeitschriften ausschrllcn (was ich übrigens gewohnt bin); ich gestehe aber aufrichtig, daß wir nicht ein einziges Ratio nal-Drama besitzen, welches die Kritik eines unparteiischen und sachkundigen Re zensenten aushalten könnie. Nicht ein einziges — man höre wohl. Sollte dies die Wahrheit scy»? Es ist meine Meinung. Zn Boris Godunoff finden wir die Verse eines National- Drama's vor, auch ganz vortreffliche Sccncn. Dieses Stück ist aber zum Lesen, und nicht sür die Bühne gischriebcn. Wir sind überzeugt, daß A. Puschkin, wenn er gehörig arbeiten wollte, ein Nationai- Drama liefern und sich dadurch einen Ehrenplatz auf dem Russischen Parnass erwerben könnte. Bis jetzt sind die literarischen Astronomen »och nicht im Stande, die Stellung dieses glänzenden Sternes erster Größe am literarischen Horizont mit Bestimmtheit anzugebcn. Alles, was hier vom Drama gesagt ist, gilt größtcnlbcilS auch dem höhere» Lustspiel, mit Ausnahme des Stückes: „Oooo »tb/ma"") (von Gribojcdoff), eines Gemäldes der Sillen unscrcr Zeit. Ich will sogar den Tadlern desselben zugeben und mit ihnen darin llbercinstimmcn, dass es gut wäre, wenn cs mehr Handlung hätte. Dem srv nun aber wie ihm wolle, so bleibt cs immer, mit Rücksicht auf Sprache, Eharakicrc und Witz, das erste Stück und dabei ein wahrhaft nationales. Man frage nur einmal, ob nicht fast jeder Russe wenigstens zwei Verse daraus auswendig weiß. Wir haben übrigens einige sehr gute komische Stücke vom Fürsten Schachowskoi, bon Ssagoskm nnd namentlich auch von Z. Kiiloff (dcr Modelnden). Wenn unsere komische Bübnc auch nicht reich ist, so hat sie doch immer einen Sparpsennig für schlechte Zeiten. Für da« Schauspicl besitzen wir zwei ansgczcichncle Künstler: die Herren Karatigin und Bränski, aber keine Künstlerin, die dcn genann ten Talenten entspräche. Mad. Karangina ist eine verständige, gebil dete Schauspiclcrin: sic dringt in ihren Gegenstand ein, suhlt alle Schallirungcn, aber ihre Darstellung ist wcii von ihren Begriffen von dramatischcr Kunst entfernt. Die Natur schuf sie sür das hohe Lust spiel, sür die Rollen der vornehmen Damen im Privatlcben. Sie hat eine ihrer Natur entgegengesetzte Bahn betreten. Es »Hut wehe, eine geschickte Schauspielerin in einer ihr sremdcn Nolle zu sehen! Ein schönes ausdrucksvolles Gefickt, ein Heller Blick, ausgezeichnete Ma nieren, die herrlichste Stimme, ein gewählter Anzug — Alles geht in dem tragischen Spiel Karatigina'S verloren. Zm Lustspiel ist sie bei uns, was Lille. Mars in Paris, aber im Trauer- und Schauspiel — gar nicht mehr dieselbe! ES ist uns nicht angenehm, einer wahrhaft gebildeten, verständigen Künstlerin eine bittere Wahrheit sagen zu müssen, aber es gehl nicht anders. Einmal muß man doch die Wahr heit sagen. Niemals sah ich Herrn Karatigin so vollkommen, als im erste» Akt des Wilhelm Lell, wo er sich als ruhiger Familienvater, als schlichter Landmann zeigt, aber in jedem Wort, in jeder Bewegung dcn künftigen Helden verkündet. Herr Karatigin besitzt ein hohes Talent nnd ausge zeichnete Mittel: Stimme, Wuchs, männliche Schönheit, und dabei Verstand und seltene Bildung. Dergleichen Schauspieler sind sehr selten! Schade, dass er sein Talent ost dem Geschmack des großen Hansens opfert und ohne Noth außer sich gereich. Diese« kräftige Mittel bringt aber Beifallklatschen, nnd wie sollic sich ei» Schauspiclcr seinen Kamc- radc» zeigen, ohne applaudirt zu scyn? Schade! b« gicbt Sccnen ruhigen, aber mächtigen Gesühl«, in denen Herr Karatigin uuübcrlrcff- lich ist. Wcii» er ansängt, zu schreien, mit dcn Füße» zu stamvsen und zu brüllen, so verlasse ich jedesmal das Tbcatcr und kann daher sein Spiel dieser Galtung nicht bcurcheilen. Bränski ist glcichsalls cm ausgezeichnclcr und in manchen Nollen ein unübcnrcfflichcr Schauspieler, wie z. B. als Ludwig XI., Franz Moor, Müller (in Kabale und Liebe) u. s. w. Er besitzt mehr Ruhe nnd viel, vicl Gefühl. Eben so vorzüglich ist er in edlen Rollen des höheren Lustspiel« und besonder« in den Nollcn treuherziger Seeleute, rechtschaffener Offiziere u. s. w. Zch sehe Herrn Bränski mit ganz be sonderem Vergnüge» auf der Bühne, nnd gebe sehr oft nur seinctwcgcn in'« Theater. Da« ist einmal meine Schwäche! Zch kann seine Stimme als Müller nicht vergesse-, wenn da« gekränkte Vaterqcsühl seiner Seele Vorwürfe entreißt. Noch in diesem Augenblick höre ick die Stimme. Gleicherweise tönt »och i» mci»e» Obren die Stimme Zakowlew's (in dcn Hussitcn vor Naumburg), als cr nnicr scineii Kindcr» dasjenige auswäblt, da« al« Geisel in« scindlichc Lager gehen soll. Zhr zu Hause erzogenen Herren Oanntilianc, schmäht nicht so ohne Grund auf Kotze bue! Er schrieb unsterbliche Sccncn, weil cr da« mci,schliche Hcrz kaimlc. Diese Kcnntmß ist einem guten Schauspieler eben so unent behrlich, wenn cr im Andenken dcr Menschen sortlcbcn will. Bränski, entweder durch Studium oder durch Znstinkt, kennt da« menschliche Herz nnd vcrstchi cs, dessen empfindlichste Saite» zu rührcn. Die Herren Ssoßnitzki und Djur sind vortreffliche komische Schau spieler, aber nur zn ost immer dieselben. Herr Ssoßnitzki ist schon ein reise« Talent, aber Djur kann weiter kommen, als cr. Wir biltc» Herrn Djur, keine Grimassen zu schneiden, um applaudirt zu wcrden! Sollte man. denn wirklich nichls von dcn Vaudcvillistc» sagens Wie ist das möglich? Meine verehrten Herren Baudevillistc»! Glauben Sie in der That, daß unsere Russischen Bauern zu nichts Anderem taugen, als zum Tanzen und Singen in Divertissements? Nach mrincr Ansicht sind die Russischen Bauern vicl mlcrcffanlcr, al« die Hcrrcn Vaudcvillistcn selbst! Kan» man diese Bauern denn nicht auf die Bühne bringen? Haben Sic die Güte, verschonen Sie »ns mit Zhrc» Taugenichtsen, Windbeuteln, Schelmen und Narre», au« bene» Sie Zhrc Stücke zusamincustoppel». Gebe» Sie uns ein Russisches, cinsache« Leben, da« viel interessanter ist, als ein Französisches Alltags-Vaudeville. ') serei nach dem Inbatt des satirischen Stuckes übersetzt- „Leiden eine- SuvceNügen."