Volltext Seite (XML)
Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration-! Preis 22^ Sgr. (Z Ühlr.) »ierteljährlich, Z Thlr. für da« ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumerirt aus dieses Beiblatt der AUg. Pr. Staat- Zeitung in Berlin in der Expedition (Mohren - Straße Nr. 34); in der Provinz so wie im ÄnSlandc bei den Wohllöbl. Post - «cuttern. Literatur des Auslandes. 48 Berlin, Mittwoch den 20. April 1836. Rußland. Ein Blick ans die Russische Buhne. . Von Th. Bulgarin. Ein gutes Russisches Theater sollten wir, scheint es, haben! Der Liebhaber giebt es wcnigsiens eine zahllose Menge. Leute, die in ihrem ganzen Leden nicht fünf Rubel für rin Buch ansgeben, zahlen SO und 100 Rubel für eine Loge zu einer Bencfiz-Vvrstcllnng. Leute, die nie etwas (gedrucktes ausalmi, hören einem Sluck zu bis zum Ende: Einig«, weil es sic belustigt, und Andere, damit man cs bemerke, wie sie hören und sehen. Genug, alle unsere Theater, in Petersburg und in Moskau, ^uf der Messe von Rischnei-Nowgorod und in Orcl so wie in anderen Städten, wo es lemporaire und stehende Theater gicbl, werden fleißig besucht. Und nun höre man, was über das Theater gesprochen wird! Ueberall eines und dasselbe. Klagen über Mangel an guten Schauspielern, Klagen Uber die Stücke, Klagen, nichts als Klagen! Da sage man, was man wolle, an etwas muß es doch liegen, wenn alle Well klagt. Schauspieler und Schauspielerinnen tragen nicht die Schuld. Dies ist klar wie der Tag. Leide ihun, was sie nach ihren Kräften können, und so gut sie cs verflrhen. Was nicht in ihrer Macht ist, ist das, daß die Scene» nicht ansprcchen: daran sind die Dichter schuld. Auch daran sind Letztere schuld, daß wir nur wenige Künstler für aus gezeichnete Rollen besitzen; denn Charaktere, wie sie Moliöre, Racine, Corneille, Cröbillon, Shakespeare, Iffland, Schiller schufen, bildeten von selbst geschickte, oder besser gesagt, große dramatische Künstler. Im Russischen Volke liegt der Keim zu einem großen DarstcllungS- Talent. Wer sah wohl einmal unsere Russischen Grenadiere an Feier tagen Russische Rationalstücke i» den Kaserne» spiele», oder unsere Rus sische» Bajazzos? Man sehe nur, wie unsere Kinder in den Kadetten- häuscrn spielen: es ist eine Freude! Weder in Paris noch in London, Berlin und Wien wird ein Sliick besser gegeben, als es auf unseren Theatern mit den Bolksstücken, „der Müller", „der Ssbitenschik" (Ver käufer eine» aus Honig verfertigten Getränkes), „das Unglück durch eincn Wagen" und „Nedoroffl", der Fall ist. Diese und noch einige andere Stücke sind die besten aus unserer Bühne, weil sie national sind, und unsere Schauspieler und Schauspielerinnen spielen sie deshalb so vor- krefflich, weil ihnen die Charaktere der handelnden Personen so bekannt sind, weil sic sie vor Augen sehen und nach der Natur studircn können. Aber, wird man sagen, wie kann man National-Charaktere in Dra men und in Trauerspielen schaffen, wo die handelnde» Personen der älteren oder mittleren Geschichte Rußlands entnommen sind? Wo sol len die Schauspieler die Muster hernehmcn, nach dene» sie ihre Nollen zu bilden haben? Fürstinnen und Bojarinnen des ISten und lüten Jahrhunderts finden wir ja jetzt weder in höhere» Zirkel» noch im bür gerlichen Leben u. s. w. Hierauf antworte ich den Herre» Schrifistellern u»d Kritiker»: modellircn Sie Ihre Cbaraklere nach der Natur, und nicht »ach Grieche», Franzose», Deutschen und Engländern. Den na türliche» Gang und die Ausbrüche der Leidenschaften, die natürlichen Lagen des Lebens werde» »ttscre Schauspiclcr begreifen und richtig dar stellen, wenn ihre Dramen in einfacher Sprache und nicht bombastisch und gesucht geschrieben sind, wen» Ihre Dialoge» und Monologen von wahrem, nicht erkünsteltem Gefühl diktirt und nicht durch gedrechselte Phrasen entstellt find. Sehn Sie natürlich, und man wird Ihre Werke gut darsteücn. Man kann eben sowohl die Geschichte, als das Privatleben mit der Nalnr in Uebereinstimmung bringen und eine gewöhnliche Sprache bis zur Poesie erheben. Wie man es anfangen soll, Sitten, die nicht mehr die unsrigen sind, mit der Gegenwart zu identifizire»? Ma» frage Schiller: er giebt uns Ausschluß, auf welche Weise er Wallenstein, Wilhelm Tcll, Don Carlos u. s. w. ins Leben rief. Sollte denn aber in der That unser jetziges Leben in seinen ver schiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen, mit seinen Eigenheiten, Bor, uktheilen, Thorhcitcn und Schwächen, keinen hinlänglichen Stoff zum höheren Lustspiel, zu dem angenehmsten, kurzweiligsten Vaudeville dar bieten? Man sage, was man wollt, des Komischen findet man haufen weise bei uns, und unsere heutigen Vaudeville-Verfasser — liefern selbst das Material zum unterhaltendsten Vaudeville! Man blicke auf den Senior unserer Literalur, dcn Fabeldichter I. Kriloff! Er Hal nur Rußland ini Auge, schreibt »uc originell Russisches und ist noch nicht erschöpft, immer noch so neu, so eigcnihümlich, so unterhaltend, so witzig und so naiv in seiner letzten Fabel, wie er es in seiner ersten war. Dies ist das Privilegium des wahren Talentes! Aber unsere Drama turgen können nicht das kleinste Stückchen zusammen stoppeln, ohne Deutsche und Franzosen zu plündern. Daher mit ihnen selbst — in das Lustspiel! Wenn Ablassimoff (der Verfasser des Müllers) tiefer in seinen Gegenstand eingedrungcn wäre und die ihm von der Natur ange wiesene Bahn weiter fortgesetzt hätte; wenn Knjaschnin nicht blind de» Franzosen nachgeahmt hätte; wenn von Wisin geiziger mit mora lischen Gesprächen gewesen wäre und nicht so schnell cingehallcn halte; hätte nicht Fürst A. Schachowskoi (unser Zeitgenosse) sein wahrhaft komisches Talent in frühreifer Arbeit erschöpft; würde Gribojcdoff noch leben und für die Scene arbeiten"), und Sagoßkin seine Gegenstände aus unserem intividuellcn Sehn cutuehmcu und das Französifche Joch abwerfen; könnte Oscroff dcn Entschluß fassen, sich mit der Deutschen, Englischen und Spanischen Literatur genau bekannt zu machen und nicht länger sklavischer Anhänger der Französischen Schule zu sevn; mit einem Wort, wenn alle diese Wenns und Hätten und Würden nicht wären, so könnten wir jetzt eine National-dramatische Li teratur besitzen. Die wohlthätigcn Wenns u. s. w. ginge» aber nicht in Erfüllung, und solchergestalt können wir an ausgezeichneten, einzelnen Scenen höchstens eine» oder zwei, und an ganzen Na tiv nal-Stücken kaum zwei, drei, und, wenn cs hoch kommt, vier Bände liescr». Schade und ärgerlich! Sollten wir denn wirklich keine dramatische Talente besitzen kön nen? Ich glaube fast; und warum nicht? Ich habe bereit» früher gesagt, daß wir keine Zeit haben, weder gründlich zu lerne», noch an- haltend für die Literatur zu arbeiten. Wir lernen schnell, um in dcn Staatsdicnst einzntrctcn, so früh wie möglich, und beschäftigen uns mit Literatur — nur wenn wir Zeit übrig haben. Das hat schon die Thal gezeigt und bewiescn, also bedarf es keiner Wiederholung mehr! Dagegen läßt sich das glückliche Darstellung» - Talent der Russen nicht verkennen. In bombastischen Trauerspielen, langweiligen Russischen Lustspielen und einem Mischmasch von Vaudevilles haben sich bei uns nur nach vortrefflichen einzelnen Scenen große scenische Talente bereit» früher ausgebildet. Noch jetzt besitzen wir einen W. Karatigin und Bränski für da» Trauer- und Schauspiel, Ssoßnitzki und Djur für da» Lustspiel, Worstnikoff für die Posse, und Madame Karatigin für da« böhcrc Lustspiel, in welchem sie unnachahmlich ist. Alle diese dra matischen Talente kann man dreist mit dcn ersten Künstlern Frankreichs Englands und Dcutfchland» vergleichen, was alle Kenner cmgcstehen und bestätigen. Wen aber von ünsercn dramatischen Dichtern will man in eine Reihe mit Molivrc und Shakespeare stellen?") Da» weiß ich nicht. Der Vorzug, den die Russischen Schauspieler vor den Schriftstellern haben, ist so groß, daß man sie durchaus nicht mit ein ander vergleichen kann. Fast alle Russische Stücke erhalten sich auf der Scene nur durch die Schauspiclcr. Diese Produkte zu lcsrn ist unmöglich, dazu gehört zu viel Geduld. Welche Grammatik. .. . zum Entsetzen! Indessen gelingt auch unseren besten Schauspielern nicht Alle«: die Rollen vornebmer Herren und Damen in ihrem Privatleben können sie nicht spielen. Besonder» belustigend sind unsere guten Künstler in den Rollen Französischer Margui« und Marquisinnen, und in Rollen von Hofleulen beiderlei Geschlechts aus dem I8lc» Jahrhundert Da» gelingt übrigens auch nicht immer dcn besten Deutschen Schauspielern und Schauspielerinnen. Darin sind nur die Franzosen und Franzö sinnen Meister. Unsere und die Dcutscheii Theater-Grafen und Barone, Herzoginnen und Marquis sind weiter nicht», als verkleidete Bürger und Bürgerinnen an Festtagen. Kein fürstlicher Anstand, keine Into. Nation der Stimme. Alles erzwungen und unnatürlich — und lächer lich bis zu Thränen. Nie werde ich dcn Eindruck vergessen, den in einer Scene (des ins Russische übersetzten Dramas von A. Duma«: Heinrich III.) die Hos-Kavalierc aus mich machten. Jene gewandte» witzigen Ritter, die Blüthe des Französische» Adels, gliche» auf unserer BÜHnc ich mag den Vergleich nicht aussprechen! Ich lachte und konnte nicht aufbörcn zu lachen! Mit de» Franzosen ist cs eine andere Sache. Unter ihnen ist der gute Geskllschasts-Ton weit verbreitet und erstreckt er sich sogar bis zum niedersten Stande. Allc Klaffen sichen sich im geselligen Leben einan der näbcr. Dort giebt es eine Aristokratie der Herkunft, eine Aristo kratie des Geldes und cinc Aristokratie des Talentes, die sicki eiu- ') Gnbo-edon endete bekanntlich selb» in einem succhtertichcn Trauer- wiele, er wurde in Teheran, wo er Russischer Gesandter war, von dem Per sischen Pobel ermordet. ") In ciuc Reihe mit Shakespeare: Welche andere Ration hat denn einen Pa>r zu diesem Geiste auftuwcisen?