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Wöchentlich erscheine» drei Nummern. Pränumeration« Preis 22^ Sgr. (j Thlr.) vierteljährlich, » Tdlr. lür ha« ganze Jahr, ohne Er höhung, in »Ur» Theilen der Preußischen Monarchie. M Literatur a g a z i n für die Man prän'mrnrr a»st diese« Vcidlati der Ng. Pr. Staatö- Zcitung in Berlin in t«e Expedition (kvkse>rcn - Straße Nr. Zä); in der Provinz s» wie im Ausland« bei de» Wohllöhl. Pest-Armter». des Auslandes. I3i Berlin, Mittwoch den 3. Februar 1836. Frankreich. Was ist Wahrheit« Philosophische Zweifel von Charle« Nodicr. Al« besten Führer und Leitstern ans den Bahnen de« Gedanken« habe ich immer noch da« Elpmologische in den Definitionen der Wörter und ihrer Anwendung auf Ideen erfunden; nur da« ist falsch, was ma» gewöhnlich ein Angenommene« »der eine Autorität nennt, und sonst nicht«. Die ursprüngliche Form eine« Worte« ist der naive Ausdruck eine« Gedanken«, alt wir die Sprachen. So zum Beispiel drängen sich alle Ideen, die über menschliche Weisheit kursiren, nm elpmologische Wurzeln zusammen, die sich aus den Begriff de- Mittleren beziehen. Die Griechen hatten den Ausdruck de« Maaßes daraus gebildet; sic nannten die Weisheit /-i'-r (Maaß). Es war die« einer der Namen der Minerva. Die Lateiner, sich von diesem Slammwort entfernend, haben c« nichtsdestoweniger dem Sinne nach beibehalten. Alens bedeutet Ver stand, die klare bewußte Vernunft, und inensuru heißt Maaß. Nach einer anderen Stammform bedeutet innstiurn ein Maaß, und most»» die allgemeine zweckmäßige Form der Dinge. Die beiden Gipfelpunkte menschlicher Weisheit gehörten in den Sieffort dieser Wortform, die Be scheidenheit (mncleslis) im Urlheilen, und die Mäßigung (mustcnaliu) im Verkehr mit Anderen. Die Prädikate, die wir dem Weisen erthci- Icn, sind: INNilosle und niostörö. Die Ideen von moclium (das Mittlere) und iniliou geben die nämlichen Analogieen. Die Nöll!tat!c>», da« forschende'Sinnen, da« Nachdenken, ist das Denken in seiner Eigcnthnmlichkcit und Wesentlichkeit als thätig in und au« sich seiber; und die Nölliation, die Vermittelung, ist das angelezcnlUchste Geschäft der Vernunft. Alle Operationen des Geistes und des Unheils liegen in den beiden Ausdrucken: Nosuro und »no^en (Maaß und Mittel), und diese kaffen sich wieder zusammeu- faffcn in den Begriff de« Ülilieu (des Mittleren). Die verständigen und sinnvollen linier den Menschen haben von jeher das Gluck de« Lebens einzig und allein in die Beschränkung und in das Mittcl- maaß (moclioitv und inöllioaxiG) gesetzt. Unsere alten Sänger gaben sehr sinnig dem König Modus die Königin Ratio zur Frau; es ist dies eine der geistreichsten Mythen de« Wortes. Das Absolute bat nur in den geoffcnbarten Religionen eine Basts. Mit der Annahme, daß da« Wissen vom Wahren der menschiichcn Ver nunft durch eine höhere zugekommen, hat der Mensch die Ohnmacht seiner Vernunft eingestanden und sich selber zum Bewußtsein, gebracht. Da« Doglila ist kein menschliches Wissen, und doch kann sich anderer seits der Glaube der Vernunft nicht mitlhcilcn, als durch Vermittelung des Gedankens. Die Moral ist dir Extrakt der Religionen, und die Stifter von Religionen haben sie in der Regel als das Acquivalent des Glaubens anerkannt. Ls ist die« Christus Maxime; eben so wie des Evangelisten Johannes, der da ,agt: „Alles, was ich von meinem Meister gelernt habe, ist, daß ihr euch lieben mußt unter einander. Mehr weiß ich nicht." E« liegt in unserem Geiste ein unüberwindliches Streben nach positiver Lehre, und alle positive Lehren streben dem Absoluten zu. Dic Verminst, wenn sie sich selbst überlassen ist, wird ausschließend, weil sie doch immer, mau mag sie so hoch stellen al« man will, mensch liche Vernunft und als solche den Einflüssen der Leidenschaften unter worfen bleibt. Ist sic frei von Leidenschaft, so weiß sie auch, daß Nicht« absolut wahr ist, au« dem einfachen Grunde, weil der Maaß- siab des Wahren unserer Natur einmal nicht mitgcgebcn ist;°) aber sie weiß allerdings auch, daß in Allem Wahrheit ist, aus dem Grunde, weil unsere Natur uns unaufhörlich antreibt, sic zu suchen. Das Bc- dürfniß nach Wahrheit ist der Instinkt unseres Geschlechts; in der Un möglichkeit, sie zu erreichen, liegt unser Elend. Dieser Satz ist so alt wie die Welt. Der Weise, der die Wahrheit fände, wurde ein Gott seyn auf Erden und bedurfte, um ihr Eingang und Anhang zu ver schaffen, weder Moses Wunder noch Muhammed s Schwert, weil das eben die Natur der Wahrheit ist, daß sie sich aller Welt vo» selber als das Echte uud Beste kenntlich macht und aufdringt, Kein Menfch glaubt, daß die gesellschaftlichen Verbindungen aus ihrer Quelle fließen, au« ihrer Fülle da sind. Wer Andere seinen Ansichten untcrordnen will. Da« beißt also: Sie weiß von nicht« Absolutem, wetl Ke von nicht- Absolutem weiß: aus dem Grunde, weil er glaubt, seine Ansichten seven die wahren, ist folglich ein Narr, wenn es ihm an Macht gebricht, seinen Willen zu realistren, und ein Tvrarm, wenn er diese Macht gegen die Freiheit der Utberzeiigung Anderer zu gebrauchen versucht. Was sucht dec Atheist, der Goll leugnet k Da« Wahre. Wa« sucht der Wilde, der seinen Fetisch anbeiet? Da« Wahre. Wa« will der erperimemirende Politiker, der das Glück der Völker nur iu einer blinden Unterwerfung unter die einmal bestehende Gewalt siebt? Wa« anders als das Wahre. Wonach strebt jede hitzige Partei, die für die Emancipation der Völker kämpft und die Freiheit nur iu einer absolu ten Schrankenlostgkeit findet? Nach dcm Wahre». Ist nun in irgend einem unter allen den Genannten das Wahre? Ich glaube e« mcht; weil ich glaube, daß da« Allereinzige, wa« die Menschen positiv wisse», dic« ist, daß dic Wahrheit ihnen nicht eignet, und daß. wenn sie ihnen eignete, sie eben nicht mehr Menschen wären. Aber! Ist gar nicht« Wahres in alle dcm Genannten? Das glaube ich eben so' wenig; denn das Streben, der Trieb unseres Geistes ist, es immerfort zu suchen, und seine Bestimmung ist, dic schimmernden Strahlen desselben unaufhörlich zu verfolgen, ohne e« doch ganz erreichen und erfassen zu können. — Das Falsche ist cinzig und allein das Absolute, weil der Mensch einmal nicht zum absoluten Wahren gelangen kann. In allen Zwischen-Glie dern uud VermittelungS-Siusen ist Wahre« und Falsches vermischt, und hierdurch eröffnet sich die Möglichkeit, die Anzahl der Strahlen, durch die wir mit dem Wahren, indem wir uns dcm Cenirum nähern, in Verbindung sichen, fort und fort zu vermehren. In diesem Mittel punkt nun selbst wollen wir da da« Wahre anuebmcn und sagen, da sev es? Ich denke nein; denn dic Wahrhcit ist in keiner einzelnen Bestimmung; wo wäre dic Nolhwendigkeit, daß sie in irgend einer seyn müßte? Aber diese« Cenlrnn, ist der Punkt, wo mau am weitesten von allen Punklcn der Peripherie, von allen Extremen, dic am Falschen fest- kleben, entfernt ist. Es ist also da« eigentliche Allcrhciligstc der mensch lichen Vernunft. Ich habe gesagt: Falsch sev einzig und allein das Absolute. Mir graul ordentlich, zu sagen, dis zu welchcm Grade der Evidenz sich diese Behauptung durchfuhren läßt; denn muß ich nicht ciugestehen, daß die absolute Wahrheit selber falsch seyn würde, wen» sie nämlich in Ver bindung uud Beziehung mit unserer Organisation und unseren Trieben gedacht — obgleich dies Pascal schon vor mir gesagt und zehnmal besser al« ich cs je sagen könnte? Der Theil von ter allgemeinen Wahrheit, den jeder von uns erfaßt, bietet uns immer nur relative Wahrheiten dar. Eine Idee, (!) die in unseren Breiten für ganz wahr geltcn kann, würde unter den Tropen ost nur eine Lüge seyn. Und doch qiebt e« nicht zwei Wahrheiten. Aber da« Vermögen, da« Wahre zu fassen, ist den Bedingungen untergeordnet, denen wir selbst unter- than sind, und die, wenn uns. da» kläre ungetrübte Licht der Wahrheit plötzlich überstrahlen sollte, erst völlig umgestallel werden müßten, wa« ohne eine totale Umgestaltung der ganzen Wcltordnuug gar nicht zu deuten ist. Ein konkaves oder konvexes Glas verändert die Dimensto- uc» der Gegenstände, ein in Facetten geschliffenes ihre Zahl, ein cpliu- drischcs ihre Gestalt, zwei einander cnigegcngcsctzte ihre Entfernung. Die eigcnlhumliche Organisaticn jedes Geschlechts, jeder Menschengat- inng, die Natur des Mittele, durch welches sic die Gegenstände be- trachict, bringen genau dcn gleichen Effekt hervor. Was will das sagen? Ls existirt kein Mensch auf Erden, dessen Lcrnunst-Systcm, ohne daß er sich vielleicht davon Rechenschaft zu geben vermag, nicht dem näm lichen Einfluß gewisser Eindrücke, die äl« feste Bedingungen und Bor- anSsetzungen in ihm mächtig sind, unterworfen wäre. Jeder trägt sein ZaubcrglaS in sich und urtheilt »ach sich. Jeder hat somit bä« Bc- wnßtscyn, dic Wahrhcit auf seine Weise zu schauen, und Keiner sicht vielleicht dic Wahrheit wie der Andere. Und darum sage ich denn, alle diese sogenannten Wahrheiten sind relativ, ja, wa« noch mehr ist, sin ken bis zu individuellen herab, und wer nun noch Lust bat, seine An sichten den Menschen aufzudringen und cinzuimpfen, und zu glauben, sic triumphiren, wenn die Menschen sagen: „ES ist die Wahrheit", der mag c» aus seine Gefahr Ihuu. Wir wissen, daß dieser Beifall der Menschen nicht« weiter bedeutet, als daß sie das Wahre ungefähr in denselben Kreisen, nicht aber, daß sic das nämliche Wahre sehen, wa« Jener zu sehen glaubt. Alle« dies ist nicht« Neues, glücklicherweise! denn wär' es etwa« Neue«, so wär' e« sicherlich absurd; nur da« Absurde könnte neu sepu — obgleich hiermit kcineswege« gesagt ist, daß nicht auch in dem Alten und Bekannten viel mehr Falsche- als Wahre« enthalten seyn dürfte. Die Prälension de« Neuen ist «ine Eitelkeit — eine der vielen, mit denen wir gesegnet sind — da« wußte man schon zu Salomo'« Zeit;