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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration-- Prcis 22; Sgr. (L Thlr.) vieritlsöhrlich, 3 Thtr. für da- ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. a g a für die Ma» pränumerirt auf dieses Beiblatt der Allg. Pr. StaalS- Ztitung in Berlin in der Expedition (Mohren - Straße Nr. 34); in der Provinz so nie im Äuolandc bei de» Wohlldbl. Poft - Amütrn. Literatur des Auslandes. 3. Berlin, Mittwoch den 6. Januar 1836. Frankreich. Victor Hugo, nach Mistreß Trollope.') Ich höre hier merkwürdige Detail- über den gegenwärtigen Zustand der Französischen Literatur. "Wenn wir recht ist, so habe ich Ihnen schon erzählt, daß ich von der neuen verzweifelten Schule allgemein mit der tiefsten Verachtung sprechen gehört, und zwar nicht nur die ehr würdigen Vertreter der guten alten Zeit, sondern ebenfalls und in einem gleich hoben Grade die durch Stellung oder Talent ausgezeich netsten Männer der Gegenwart. In Betreff Victor Hugo s, des Einzigen der in Rede stehenden Klaffe, welcher in England bekannt ist, um für un- als berühmt gelten zu können, erscheint diese Stimmung noch viel bedeutungsvoller. So oft ich noch über ibn oder seine Werke, mit wem cs war, nur freilich Personen von moralisch tüchtiger Kestnnung und gebildetem Geiste, zu sprechen Gelegenheit gesunden, immer mußte ich hören, daß ibn, selbst der Grad von Schätzung verweigert wurde, den ihm unsere besten Kri tiker angedcihcn lassen. Ich möchte sagen, Frankreich scheint sich seiner schämen. Oft hab' ich bicr und dort hcrumgefragt, was man von diesem oder jenem seiner Stücke hielte,immer aber zur Antwort bekommen: — Die Wahrheit zu gestehen, kenne ich cs gar nicht; ich hab' es nie gesehen. — Haben Eie cs nicht gelesen? — Nein; ich könnte mich nicht entschließen, Victor Hugo zu lesen. Einer, der von meinem fielen Fragen und Forsche» nach Viclor Hngo's scheiststtllcnschcm Rus in Paris Zeuge gewesen war, sagte mir rndlich, er säbe webl. daß ich, wie die Ausländer meistens alle, und na mentlich die Engländer, Victor Hugo und seine Schriften als eine Art von Typus des hcntigc» Frankreichs betrachtete. „Erlauben Sie mir indessen. Ihnen zu versichern", setzte er ernst und mit Nachdruck hinzu, „daß nicht- irrigrr ist, als diese Meinung. Er sicht an der Spitze einer Sekte; er ist ter Papst einer Verbindung, die alle moralische und in tellektuelle Gesetze, von denen die Bestrebungen de- Menschen - Geistes bisher gelcilei wurden, aufgehoben hat. Das ist da- Ansehen und die Gewalt, die er erlangt hat, und ich hoffe wenigstens, daß ihn kein Verständiger darum beneidet. Aber keincswege- ist Victor Hugo ein Schriftsteller, dessen Werke in Frankreich populair wären." Dies Unheil, gleichlautend oder ähnlich ansgedrückt, mußte ich von neun oder zehn verschiedenen heuten, an die ich mich wandte, über ihn vernehmen, und es gilt mir als ein Beweis von gesunder Vernunft und gutem Geschmacke, der den Franzosen Ehre macht. Ich war um so mehr darüber erfreut, je weniger ich dergleichen erwartete. Da» Falsche und Unwahre in scincu Schristcn ist mit so viel Glanz auSgestallct und hier und da so viel wirklich Echte- und Schöne- mit eingesireut, daß ich sicher darauf rechnete, namentlich unter der Jugend bei minder reifem Urthcil, nur enthusiastische Verehrer diese- Schriftstellere zu finden. Seine Neigung und Vorliebe für Schilderungen des Laster- und Schreckens-Sceuen, und seine bodenlose Verachtung alles dessen, was die Zeil im Schönen oder in der Moral als gut geheiligt hat, konuten, so dachte ich cs mir, gar leicht gemeinschaftliche Sache wachen mit dem unruhigen empörten Geiste des Jahrhundert-, und mußten dle Sym- xathie und da- Lob derer, die von diesem Geiste ergriffen waren, un bedenklich gewiunem Doch dem ist nicht so. Man erkennt die wilde üppige Naturkrast, die sich in einigen seiner Beschreibungen geltend macht, rühmend an, aber das ist auch da- einzige L-b, das ich über Victor -Hugo'- Productioncn in seinem Vaterland« vernommen habe. Die überraschenden Tbeaterconp- in seinen Dramen, bei der Keck heit, wie er sie anzubringcn, und dem Glanze, den er ihnen zu geben, weiß, müssen natürlich, wenn man sie da- erste Mal sieht, die Auf merksamkeit bis zu einem gewissen Grade fesseln; cs liegt zu augenschein lich im ganz gemeinen pccuniaircn Interesse derTheater-Directionen, nach dergleichen Stücken zu greisen, als daß die Ehre der Darstellung, die sie genießen, ander- angesehen werden könnte, denn al- ein Beweis mehr für die systematische Degradation der Kunst. ES ist ein Faktum, welche» durch die Komödien-Zettel unleugbar konsiatirt wird, daß, so bald sich die erste Neugier des Publikum- an Victor -Hugo'- Stücken *) Aus dem so eben erschienenen Werke dieser Schriftstellerin „Paris und die Pariser Bckannrlim ist e- Mistren Trollope, die in England alS der T»vus einer neuen Art von Reise-Literatur angesehen wird. Wenig stens gelten dort — und »war mit Unrecht, denn ste find bekanntlich älter — die »^Briefe eines Verstorbenen" als eine auf England übertragene Parodie der Trottovcfchen Schilderung von Nord-Amerika, welche letztere auch in Deutichtand mitunter als das Musterbild des Nicoiaischen „Italien, wle es wirklich ist", angesehen wird. satt gesehen, von einer Wiederholung derselben nicht mehr die Rede ist, und daß sich kein einziges auf dem Repcrloir erhalte» hat. Dies Faktum, das mir sogleich im Anfang meines Aufenthalts von einem in diesen Angelegenheiten sehr bcwandcrtcn Manne milgelheiit wurde, ist mir später durch viele Andere bestätigt worden, und lcbrr besser, als e» die gründlichste Kritik vermöchte, welche» das wahre Unheil über diese Slücke ist. Der Roman Nolre Dame von Pari- wird immer al- Victor Hugo'- beste- Werk genannt; dennoch, obwohl e« offenbar einzelne Stellen enthält, in denen sich sein Talent für die Beschreibung zu einer bewundernswürdige» Höhe erhebt, habe ich auch von diesem Werke im mer mit mehr Mißbilligung al- Bewunderung reden gehört; in Zirkeln, wo ein einzige- Lob genügt hätte, seinen Ruf zu gründen, wurde es nur bespöttelt und bewitzelt — das sicherste Gegengift, wirksamer als der Tadel der strengsten Kritik. Aber dieser Herold des Laster-, der'd-e Ehronik der Sünde, des Elends und der Schande schreibt, dürste sich vielleicht aus das Sprüch- wort berufen und sagen: „Kein Prophet gilt was in seinem Vatcr- lande." Und in der Thal erinucrc ich mich in einem Englischen Jour nal (tlw jsxammeo) gelesen zu haben: „Nolre Dame von Victor Hugo ist dc» besten Rvmancn de- Verfassers de» Wavcrlcy au die Seile zu stellen, und übertrifft sic sogar an Leben und Fcuer und Kennt, niß der Sitten des Jahrhunderts, das darin geschildert wird." Was nun den fctzwrcu Punkt betrifft, so habe ich gerade in dieser Beziehung in Paris selbst ein sehr gewichtiges Icngnrß vom Gegenlbeit gehört. Ein gclehncr Jurist, ein Plan», ebenso liebenswürdig als auS- gezcichnct und hochgestellt, sührte uu- im Justiz-Palast herum. Indem er uns dcn Saal, in welchem die Kriminal-Prozesse abgehallen werden, zeigte, bemerkte cr, daß cs dieser Saal scy, den Victor Hugo in seinem Roman beschreibe, und sügic hinzu: „Aber er hat hierbei ei» Versehen begangen, wie in dec Regel, so ost cs aus Kenntniß der Zeiten an kommt, die cr beschreibt, und so oft cc sich die Miene geben will, als besitze cr jene Kenntniß. Unter der Negierung Ludwigs XI. wurden die Kriminal-Prozesse gar nicht in diesem Palasic verhandelt; die ganze Beschreibung, wie sic Victor Hugo giebt, ist offenbar von den Zustän den der Gegenwart entnommen und paßt durchaus nicht aus die Ge- wohnhcilcn der Zeit, in welchcr der Roman spielt." Wären die Fehler, die wir an den Schriftstellern jener verzweisel- teu Schule rügen, nur literarischer Act, so wurden wir, meiner Mei nung nach, uns kaum erst die Mühe nebmcn, sic zu krilisiren, und ihre Absurditäten würden in alle vier Winde verwehen, sobald sic dem Ta geslichte der Oesseutlichkcit ausgesetzt würden; aber Schriften wie Vic tor Hugo s sind ihrer Natur nach höchst schädlich und gefährlich für schwache Gcmüther, und müssen jeden tüchtigen Eharaktcr, jede würdige Gesinnung gegen sich erbittern und empören. Sie wollen uns glauben machen, daß nnscrc reinsten Neigungen, die zartesten nud lieblichsten Gefühle uns nur zu Schmach und Verbrechen führen. Ich zweifle, wenn wir Ailes nchmcn, was cr geschrieben hat, daß sich ein einziger reiner, hoher, heiliger Gedanke darin wird aufwcisen lassen. Die Sünde ist seine Muse; Schrecken und Entsetze» sind seine Begleiterinnen; Schaaren von Ungeheuern bilden sein Gesolgc und leihen ihm die wi derlichen Züge zu dcn schauerlichen Masken, an deren Zeichnung »r sein Leben vergeudet. Und in diesem Autor haben kranke Köpfe einen ucnen Shakespeare sehen wollen! Einen Shakespeare! Um einen Schriftsteller, der das menschliche Geschlecht durch Schmäh- und Schandschiiften, die cr gegen dasselbe drucken läßt, förmlich zum Kampf heraussorkert, uni eine» solchen Schriftsteller zn züchtigen, wie cr cS verdient, wäre allerdings eine mächtigere und schärfere Waffe erforderlich, als die Hand einer Fra« sie zn fuhren im Stande ist; aber wenn man die Unverschämt heit so weil treibt, ihn mit Shakespeare zu vergleichen, so dürfen wir auch sprechen; denn wenn irgend wer, so sind die Frauen Shakespearr Dank und Liebe schnldig! Nie Hal ein Mensch, weder vor noch nach ihm, wie er das weibliche Herz erkannt und durchdrungen, und keiner es so dargestellt in Meisterwerken wie er in den unsterblichen Zügen seiner Porzia, Julia, Hermione, Eordelia, Volumnia, Isabella, Desde. mona und Imogen. Betrachten wir dagegen einmal die Gestallt» dcs modtrnt» Fra», zose». Wtlchcs st»d seine Heidinnen? Lucrezia Borgia, Marion De lorme, Blanca, Magclonc und all' die übrige», die Heldi» seines Ro mans noch ungerechnet, die Herr Hcnrv Lytton Bulwcr „die zarteste weibliche Gestalt, die je aus der Feder eines NvmandichterS geflossen" nennt! die Esmeralda! deren einzige Reize darin bestehen, daß st« auf der Straße singt nnd tanzt, und die... bei ihrer zartesten Zartheit!. „