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598 aus der Höhe ter Wissenschaft fleht, besucht sie täglich und ist unab lässig bemüht, die Strahlen der Vernunft zu belauschen, die etwa hcrvor- tringen bei denen, deren Krankheit heilbar ist, jeden schwachen Funken dieser Art anzufachcn und zu hegen, diejenigen aber, für die alle Hoff nung verloren ist, saust zu beruhigen, jeder ein freundliches Wort zu sagen, und die, welche zu dosen Streichen getrieben werden, nnr daran zu verhindern, nicht sie etwa zu strafen, denn, ach! sie wissen ja nicht, was sic ihun. Sie haben auch einen Priester und eine eigene Kapelle, wo sie beten, und zwar, wie uns die Nonne sagte, mit vieler Andacht beten, und wo die Wüthendflcn ruhig werden. Ich war voller Ungeduld, sie zu sehen. Die Nonne ließ uns in einen Korridor cintrelen, im ersten Stockwerk, von dein ein Balkon auf einen Hof binausführle, und von dem man in hübsche Zellen hincintrat, die ausgcweißt und gedielt und mit einem Bell und einigen leichten Modeln versehen waren. Es sind dies die Schlasgemächer derjenigen Geisteskranken, die keiner speziellen Aussicht bedürfen. Wir sahen zwei derselben, die uns in verschiedener Beziehung interessant waren. Die Eine war glücklich in ihrem Irrsinn. Außer einem ziemlich beträchtlichen Einkommen, dessen sic genoß, und das ihre Bedürfnisse weil überstieg, erfreute sie sich einer größeren Zufriedenheit in ihrem Zustande, als die meisten von uns im vollen Besitze der Vernunft. Als wir in ihre Zeile cinlrate», sanden wir sic sitzend und mit einer weiblichen Arbeit beschästigt. Sie stand auf und begann mir lächelnder Miene allerhand gewöhnliches Zeug zu reden, das sich von der Eonversaiion einer Frau iiiililercr Klaffe durch nichts unterschied, als durch den Mangel an rich tigem Zusammenhang und Gehörigkeii. Diese arme Frau war ungefähr siinszig Jahr alt. Zwanzig davon halte sie in diesem Hause zugebracht, immer heiler, immer glücklich, bei vollkommenster körperlicher Gesundheit, durchaus zufriedc» mii der Freiheit, die man ihr gewährt; nie balle sie sich beklagt, immer nahm sie die Nonnen mit Lachen und Freude auf, so ost sie kamen, und der einzige Vorwurf, den sie ihnen machte, war nur der, daß sie sie nicht ost genug besuchten, gleich als wenn die Arnie ein Bedürfniß gefühlt hätte, vom Urbersiuß ihres Glückes Anderen mit- zutbkilcn. Ihre Geisteskrankheit besteht in dieser absoluten Zufriedenheit, zu der sie vielleicht durch große Leiden gekommen ist. Si?ist ein glück, tiches Wesen, aber nur, weil sie nicht bei Sinnen ist. Ein Blick in die öde Nacht ihrer Vernunft, wenn sie ihn Ihun könnte, würde sie unfehlbar lödtcn. Ich habe nichts Zufriedeneres, nichts Fröhlicheres und in sich Süßeres gcfchcn, als dies gute Flamändifche Gesicht; es war ein Ausdruck darin, als wollte die Seele, die daraus sprach, uns alles Gute und Liebe znwcnden! und doch ließ sie uns hinaukgehen, ohne uns mit einem Worte zurückzuhallcn, nahm ihren Strickstrumpf wieder vor und setzte mit diesem ihr Gespräch fort, als ob es ein Hörer und Mitsprcchcr, gerade wie wir, für sie wäre. Ich sah sie von außen durchs Fenster — sic lächelte unaufhörlich, offenbar aber ohne das ge ringste Bcwußtschn von dem, was eben um sic vorgcgaugen war, ohne irgend eine Erinucnmg an unseren Besuch. Nichts in ihren Zügen »erriech ihren Irrsinn, wenn nicht freilich ein stetes Lächeln das sicherste Zeichen von Irrsinn ist auf einem menschlichen Antlitz. Die Andere war ein Mädchen von einigen dreißig Jahren, ziemlich häßlich, aber mit einem klugen Gesicht, das den Ausdruck einer gewissen Charakterfestigkeit trug. Mit großen Schrillen spazierte sic den Korridor auf und ab, schweigend und stolz, mit der Miene einer Frau, die einem unglücklichen Geschicke verachtend Trotz bietet. Liebe über ihren Stand hat sie verrückt gemacht. Sic ist in de» Gouverneur der Provinz ver liebt, den sie mc gesehen hat, und dcr, wenn ich glauben darf, was man mir über ihn berichtet, durchaus gar nichts von dem Anziehenden eines Romanhcldcn an sich haben soll. Die unglücklichste Lcidcnschasl Hal sie also verrückt gemacht — eine in doppelter Hinsicht ungehörige Liebe: Liebe eines Mädchens über ihren Stand, und eines häßlichen Mädchens. Wer möchte uns sagen, was dicsc arme Kranke gelitten hat, ehe sic dcr Irr sinn befreit bat von ihrer Quälcrin Vernunft, und ob cs nicht vielleicht das Mißgeschick, rincn jungen Mann ihres Standes, den sic vielleicht im Stillen geliebt, nicht zum Gatten kriegen zu können, und dcr täglich sich erneuernde Schmerz, daß is ihr versagt worden, ihre Seele durch dic un seligen Züge ihres Antlitzes hindnrchblicken und bindurchsprechen zu lassen — 'ob cs nicht vielleicht das Mißgeschick und dieser Schmerz gewesen, was sie in diesen Wahnsinn einer ehrsüchtigen Liebe zu einem hohen Staats beamten bineittgelricben k Trauriger Zwiespalt der Natur! dic Eine ist schön wie cin Engel, und ihr Aenßcrcs verspricht das herrlichste Innere — und sie ist herzlos und bohl; und eine Andere verbirgt den köstlichsten Schatz von Zärtlichkeit und Liebe und wonnevollster Hingebung in ihrer Brust — aber ihr Gesicht ist von zurückstvßendcr Häßlichkeit. Und doch ver langt solcher Reichthnm der Seele nach Lust und Raum, sich zu enl- salten und auszubrciicn, und findet er ibn nicht, so zersprengt er das arme Geschöpf, in welches Golt ibn gelegt. Ist das Hirn eines solchen WcsenS schwach, so löst sich sein Verstand und entfliegt ihm, und mit dem Verstand diese wirkliche Welt, in dcr es durch Häßlichkeit verdammt war, das Glück der Liebe nicht zu empfinden; und eine Welt sanfter mitleidiger Täuschung öffnet sich ihm dafür, wo es dann schön ist, wo es zu lieben wagt und jeden Tag erwartet, daß dcr Geliebte kommen wird. Widerlicht solch gezeichnet Haupt aber allen Aengflen des Miß-' gcfchicks, so schleppt cs wohl noch eine Zeitlang seinen Verstand mit sich herum, ringt in den f.hlasloscn Nächten mit dem finstern Verhäng- niß — aber mit einem Male brennt die Lebcnsflamme so dunkel, so schwach — dic Welt sagt, cs scv ein Fehler in dcr phvflschcn Organi sation — von Jugend auf habe sic den Keim zum Siechlhum, zur Schwindsucht in'sich getragen; warum nichts habe sic doch auch ihre -Häßlichkeit schon mit auf die Well gebracht; dcr Arzt geht ans und ein und vcrsthrcibt und verordnet, bis eines Abends dic arme Sccle ruhig und glücklich, ans dem Leibe, dcr sic so unbarmbcrzig unterdrückt hat, davongeflogen ist — mit Ansprüchen auf nanicnlose Entschädi gungen, o mein Gott! denn welche Qualen sind schmerzlicher und un nützer, wie uns wenigstens scheinen muß, als die sic gelitten? — Unsere arme Kranke mit ihrer firen Idee ist nur geistig dieser Welt und den Qualen derselben entrückt. Eie träumt von nichts als von ibrcn künftigen Prachizimmern im Gouvernements-Palast, von ihrem Titel, ihren Ehren, von Karossen und Livreen, und schreitet stolz einher, nicht anders, als wenn sie wirklich schon das wäre, was sie ihrem Wahne nach sehr bald werden muß. Jeden ihrer Tage belebt und erheitert die Hoffnung; ihre Haft bcirachlet sie als die letzten Machinationen und Kabalen der Familie des Gonvernrurs und erwartet jeden Morgen aus's neue, daß man sic aus derselben erlösen und mit einem Prachtzesolge in das Haus ihres Bräutigams binwtgsührcn werde. Von ihrer Häß lichkeit Hal sie gar keine Ahnung; in dein einzigen Spiegel, der ihr schmcichcll, in ihrem Irrsinn nur betrachtet sie sich, un> La findet sie sich schön gerade in dcr Art, wie, ihrer Meinung nach, eine vornehme Dame sehn muß, Züge und Ausdruck mehr würdevoll und edel als lieb lich und hübsch, dic Gestalt majestätisch, und was dergleichen mehr ist. Gleichgültig mit Geringschätzung sah sie uns an; sic erwartete ohne Zweifel das Gefolge, das sie zur Trauung abholcn sollte, und da sie uns nun in unserer einfachen Kleidung ohne Degen und EpaulcttcS ge wählte, schien sic zu sich selber zu sagen: Das sind nicht die, die ich erwarte. Der lcbbasle Wunsch, sie reden zn hören, wurde in mir rege, und ich ersuchte unsere Führerin, sie hcranzurufen. Es geschah; unwillig, mit stolzer Verdrießlichkeit kam sic auf uns zu. — „Diese Herren wün schen Sie zu sprechen", sagte die Nonne zu ihr mit freundlichem sanf- lcm Tone. Mil theilnrbmrndcr Miene näherten wir uns. — „Mich?" erwicdcrte sie. — „Ja, Sic." — Eie zuckte rin wenig die Achseln und wandle uns den Rücken, durchaus als wäre es unter ihrer Würde, uns ein Wort zu gönnen. Die Nonne führte uns darauf in den Saal, wo dic gutmülhigen Irren sich aufhaltcn, dic, welche fromm sind, wie sie uns mit ihrer lieblichen Stimme sagte. Kciuc Arbeit ist ihnen auferlcgt. Die Einen stricken, weil sic eben Lust dazu haben; Andere sitzen ruhig da; wieder Andere stehen ganze Tage lang, fast ohne sich zu rühren, ohne das geringste Zeichen von Ermüdung. Wie man sic Morgens gesehen, in denselben Stellung findet man sic Abends wieder, unbeweglich starr stehen sic da, sehen nichts, börcn nichts, reden nichts, alle Willens- rcgung, alles Bcwußlscpn wie erstorben und verloschen in ihnen, und mit dem Willen zugleich sein äußeres Zeichen, die Bewegung. Sie schlafen weder, noch wachen sie eigentlich; cs ist förmlich das vegctirendc Leben dcr Pflanze, das sie führen, die sich nur bewegt, wenn der Hauch des Windes sie trifft; sie rühren sich nicht von dcr Stclle, und man muß sie nach ibrcn Bellen hinzichc», wenn sie sich nicdcrlcgcn sollen. Ein Theil hält de» Kopf aus die linke Schuller geneigt, ein Theil auf die rechte; Andere wechseln Worte mit einander, ein förm liches Gespräch, dem äußeren Anschein nach, aber ohne allen Sinn und Zusammenhang; Einzelne murmeln, aus ihren Stühlen kniccnd, Gebete, in die sie dic ungehörigsten Dinge mit hincinmischcu; Andere reden ganz leise mit sich'sclber. Es ist ein Zusammcnschn von Wesen, die einem Geschlechte angehörcn, aber weiter auch nichts; eine Gesellschaft ist cs nicht zu nennen; sie berühren einander und verharren in dcr vollkommensten Isolirung gegen einander; sie reden mit einander, und Keiner weiß, was dcr Ändere sagt; sie sehen sich alle an einem und demselben Orte und fragen nicht, warum sic da sind. Weder Neigung, noch Haß, durchaus gar kein Gefühl von Unterschied, ron irgend einer Verschiedenheit oder Ungleichheit giebt sich kund; nicht einmal den Instinkt einer Heerde Thicrc haben sie. Nur cin Paar sahen aus, als wir durch den Saal gingen; dic Arbeitenden schienen noch dic meiste Aufmerksamkeit zu vcrrathcn; um dic Hände mit Ord nung zweckmäßig zu bewegen, wie sic lbun, dazu muß allerdings ncch-cine Art von Verstand, wen» auch nnr dcr Verstand einer Maschine, gc- hörcn. Zwei oder Drci traten an uns heran und betrachteten uns mit scheuem, ängstlichem Blicke, seh cs nun, daß wir ihnen als Wesen einer ganz anderen Art erscheinen, oder sie an irgend Etwas crinnem moch ten, das sie in einer Welt, in dcr sie nicht mehr waren, einst gekannt hatten. Trotz des tiefen Gefühls von Erbarmen und- Mitleid, das mich bewegte, war ich doch in beständiger Furcht»' ob meine stolze Vernunft mitten unter diesen Trümmern nicnschlichen Verstandes auch ja nicht unbemerkt, im demülhigsten Inkognito so zn sagen, bleiben würde, und konnte cs kaum glaubcn, daß diese armen Frauen wirklich zn keiner schmerzlichen Vergleichung ihres Zustandes mit dem nussigen aufgcsor- derl werden dürsten durch unsre Anwesenheit. Die Nonne versicherte es mir. Keine dieser Unglücklichen besaß das Vermögen dcr Vergleichung; — von Schmerz oder Neid in ihnen konnte also keine Rede scyn. Ich war der Gegenstand dcr Neugier für sie, nicht sie für mich. Ent setzen ergriff mich bei dem Gedanken, daß diesen Armcn cin vcrnünstigcs Wesen vielleicht gerade als das Seltsamste und Thöiichlste erscheine» möchte, und daß sie, wenn cin solches in ihre Gesellschaft hingegcben würde, leicht wohl über die Vernunft spotte» dürsten und sich darüber aufhalten als über die ärgste Verrücktheit! Die eigentlich Kranken und die, welche an das Zwangsbctt gefesselt sind, befinden sich in einem abgesonderten großen Schlafsäal, der mäßig erhellt ist — denn die Mehrung oder Minderung ihrer Leiden hängt vom Grade des Lichlcs ab. Wir sahen hier alte Frauen, die Hohrs Alter oder lange Dürftigkeit und gesteigerter Mangel in dicsrn Zustand gebracht hallen; als ich diese Tobten sah, in denen das physische Leben das geistige überdauert halte, die nur eben noch athmcn, konnte ich doch, trotz aller Ergebung in eine höhere Nothwendigkeit, cin schmerzliches Warum? an das Geschick nicht zurückhalicn in meiner Seele — wa rum der Tod so lange diesen Betten, wo jene Armen schon kalt und stcis wie Leichen liegen, fern bleibt und im Ncbcnhausc vielleicht — doch still! Es ist so. — Diejenigen, welche auf den Iwangsbcllcn la gen, waren jünger. Die Arme durch dic Jacke gefesselt, das Auge bren nend und feucht, das Gesicht voller Schweißtropfen, den Ingrimm dec Bezwungenen in den Zügen, als wären sie in einem ungleichen Kampfe besiegt worden, lageu"sic nicht sowohl sondern waren vielmehr dahin-