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488 von allen Wissenschaften Etwa« treibt: so wird die Achtung vor Sol chen, die nur in Einer Kunst, in Einer Wissenschaft Meister find, gar sehr geschwächt. Man überlegt aber nicht, daß die einseitige Kennt- niß der Letzteren mit einer Gründlichkeit verbunden seyn kann, die jede oberflächliche Bielwifferei beschämt. Freilich giebt es auch selten Geister, die in alle Fächer des mensch lichen Wissens tiefe Blicke lhun und überall, wohin sie sich nur wenden, anregend wirken tonnen, die weitere Entwickelung und Anwendung ihrer fruchtbaren Ideen der Nachwelt überlassend: zu diesen gekörten I o- Hannes v. M ü l l e r und H e r d e r in Deutschland, Voltaire in Frank reich, Algarotti und Soave in Italien. Solche vereinzelt stehende Riesengeister revolutionniren eine ganze intellektuelle Welt und schaffen eine neue Zeit. Wenn die bürgerliche Gesellschaft doch bedenken wollte, was sie solchen außerordentlichen Menschen schuldig ist, denen sie so oft Andere vorgezogcn hat, die ihr besser zu schmeicheln, ihrem kleinlichen Ehrgeiz besser sich anzuschmiegcn verstanden! Wenn aber schon die Geister so viele psychologische Anomalicen zeigen: wie viel mehr die Gemächer! Ein außerordentlich schwieriger Berus ist also der eines Richlers, den die Gefahr einer falschen Seclen- Ausleguug von allen Seiten umlauert. Wenn ich bedenke, wie man cher Richlerspruch gefällt wird, ohne daß inan den Gegenstand von allen Seiten beleuchtet und Alles überlegt, was uns in Täuschung wiegen kann, alle die zahllosen Mysterien der Menschensecle: da sträubt sich mein Haar zu Berge. O! welche treffliche Ansichten hört man aus dem Munde derer, denen dieses bedeutendste aller Aemter anvertraut worden ist: Ansichten, die doch nothwendig bei den Sprüchen zum Grunde liegen, welche aus dem Hciligihum der Justiz ergehen! Da giebt es Manchen, der auf Widersprüche mit sich selbst, in die ein In- quisit verfällt, auf ein Erröthen oder Erbleichen hohen Werth legt! Da sagt Mancher: o! dieser Mensch hat ein duckmäuserisches Gesicht! Er kann Niemanden gerade in die Augen sehen; er grüßt nicht, wenn er nicht gegrüßt wird; immer schielt ec nach der Seite: lauter Kennzeichen eines verworfenen Gemüths. Wie werden sich Leute dieser Art, wenn sie vor Gericht stehen, gegen den Einfluß irriger Voraussetzungen genugsam Vertheidigen könne» ? Wir Alle haben unsere Antipathie«,, betrübende Merkmale unserer geistigen Beschränktheit und Eitelkeit. Den Einen hört man ausrufen: hüte dich vor jenen bleichen, trocknen und Hagern Menschen, es ist das döse Gewissen, das ihnen ein solches Ansehen giebt; es sind die verzeh renden Leidenschaften, die sie zum leibhaften Konterfei der Sünde machen! Ein Anderer sagt wieder: ich traue Keinem, der immer so gesund, fröhlich und wohlbeleibt ist, wie N. N.; die beständige Heiter keit seiner Miene ist eine Verhöhnung leidender Empfindsamkeit. Solche Leute sind bart, kalt und denke» nur an sich; sie haben kein Mitge fühl, keine Achtung für die Meinung Anderer, kein Gewissen! Gesetzt nun, es zeigte sich ein Mensch so edel, so tadelfrei und unsträflich al- möglich: gewiß würde man ihn für einen Heuchler, einen gekünstelten Menschen erklären. Viel lieber achtet man Leine, die sich iald gut, bald böse zeigen, oder im Grunde keines von Beiden sind. Welches Benehmen wird nun das beste seyn? Folgen wir dem eigene» Herzen, sofern Recht und Wahrheit zu seinen Entscheidungen ihre Stimme gebe», und stellen wir das klebrige dem Schicksal anheim. Ihr Alle aber, die ihr euch berufen glaubt, die Werke Anderer abzuwägen, um euch von ihrer Unschuld oder Strafbarkeit zu überzeugen, stützet euer Uribeil ja nicht auf eine jener vagen Induktionen, womit man die Wesenheit irgend eines Geiste« oder Gemüths zu desiniren ver sucht: hallet vielmehr fest an den positiven Spuren des konkreten Fak tums, an den Ucbereinstimmungen physischer und realer Data, und hütet euch besonder« vor dem unmerklich wirkenden, gebieterischen Einfluß vor gefaßter Meinungen. Es wäre sehr übel, wenn ihr um eurer Vorur theile willen Schuldige lossprechcn, und noch übler, wenn ihr aus dem selben Grunde Unschuldige verdamme» müßtet. Oh! wen» wir dock der seltsame» Mischung heterogener Elemente im Mcnschenherzen größere Aufmerksamkeit schenkten! wenn wir die Phänomene berücksichtigten, welche damit zufammenhangen! Warum wurde Nero, der in den ersten fünf Jahren seiner Herrschaft so mensch lich, so sanstmülhig war, mit einem Male der grausamste Tyrann? Wäre dieser Kaiser am Ende seines ersten Lustrums gestorben, so hätte ihm die Nachwelt einen Platz neben Titu« angewiesen. Wurde Nero urplötzlich ein Bösewicht, oder hatte er bis dahin einen edlen Charakter geheuchelt? Sollte vielleicht Ler Saame seiner edlen Thate» auf so steinigen Boden gefallen seyn, daß die Erbitterung darüber sein Herz umwandelte? Und wer löst uns das Problem, wie Augustus als Herr der Welt so große Menschlichkeit und Gerechtigkeit zeigen konnte, nach dem er ein herzloser und selbst blutdürstiger Triumvir gewesen? War er ein wirklicher Bösewicht, al« er das Vaterland mit Blut rölhete, oder ein wirklich guter Mensch, al« er auf dem Throne Aller Herzen gewann? Heuchelte er, oder fchlug er um? Glaubte er Gutes zu chnn, auch wenn er Böses that, zur Sckande seines scharfen und umsichtigen Geistes? Leute dieser Art sind mir Räthsel, ich gesteh' es; allein ich erwarte auch keine Lösung derselben von jenen Klüglern, die Alles sonnenklar durchschauen wollen, und die gleich mit den Worten bei der Hand sind: „O, da ist gar kein Zweifels Wer kann das nicht einsehen?" Arme Pinsel! Wie viele Fragen könnte man euch stellen, auf die ihr nim mermehr «ine Antwort wüßtet? Was in aller Welt mochte Cato den Aeltere», diese« Muster aller Tugenden, dazu bestimmen, daß er zur See Wucher «rieb? Wie konnte er, der löwenberzige Mann, in sein Bet« sich verkriechen, wenn ein Gewitter am Himmel ausstieg? Ist Waller Scott, der Gewaltige, in einem psychologischen Irrthum befan gen, wenn ec einen alten Kriegsmann, der in so vielen Schlachten dem Mordstahl kecken Trotz geboten, verdutzt und unthätig da stehen läßt, während eine alte Gastwirthin mit ihrem Besen auf ihn losschlägt? Racine, derselbe Racine, der vor Gram starb, weil ibn Ludwig XlV. einmal seines Königlichen Gruße« nicht gewürdigt hatte, zeigte einen eisernen Trotz gegen Alles, was ihn von seiner dramatischen Laufbahn abschrecken konnte. Beachten wir die Schilderung, welche Chateaubriand von einem seiner Bedienten entwirft, der ihm nach Griechenland, Aegypten und Syrien folgte. „Er war", so sagt der Schriftsteller, „ein ekelhafter Schmeichler, auf niedrige Weise dienstwillig, ein Ränkemacher und Lügner — kurz, er besaß alle Eigenschaften, die zu einem schlechten Bedienten erforderlich find; und dem Alien zum Trotz war er — ein guter Mensch." Wer kann mir sagen, wie es zugeht, daß Mancher nicht an Golt glaubt, das Dogma von einem künftigen Leben verachtet, zwischen Tugend und Verbrechen keinen Unterschied erkennt und gleich wohl nach einer verrätherischcn Handlung vor Gewiffenspein stirbt? Ist diese Gewiffenspein ein Merkmal versteckter Tugend, oder ein na türliches Erzcugniß der Schuld, ein Vergeltungs-Schmerz, den der Un endliche an da« Herz des Gottlosen gefesselt? Haben die Recht, oder Unrecht, welche behaupte», cs scy mit dem Gewissen wie mit dem Kitzel, der von Einigen empfunden wird und von Anderen nicht? Ich halle hier ein, denn wenn auch die Bewegung einer Feder sich vervier fachen könnle, so würde ich doch nicht fähig seyn, Alles aufzuzeichnen, was mir bei dieser Gelegenheit Merkwürdiges einfüllt. Und es kann auch nicht ander« scpn, wenn die Tbat des Menschen in Harmonie stehen soll mit seinem geheimen psychologischen Triebwerk, das so vielen Stoff dargebotcn hat zum Streiten über den Ursprung der Ideen, über ihr Verhältniß zu den Sinnen, über den Instinkt, da« Vergnügen und den Schmerz, über die Beziehung zwischen de» Ten denzen und der Bildung der Organe und hundert ähnliche Dinge, die sämmtlich Quellen so vieler Voraussetzungen, so vieler Vergleichungen zwischen uns und den Thiercu sind. Ich wollte nur einiger Sonder barkeiten des individuellen Lebens gedenken und werde eben deshalb noch einen Umstand hervorheben, der das Tändeln mit dec Religio» betrifft. Werfen wir einen Blick ans den ganzen Haufen, der metho disch sündigt, bereut und beichtet, um gleich wieder zu fündigen, zu be reuen und zu beichten, und so durch'« ganze Leben forlfährl; der sich im Tempel nicdcrwirft und mit Gott versöhnt, während das Gewerbe, zu dem er sich bekennt, und seine gewöhnliche Lebensweise, die er in keinem Stücke aufgeben will, den Geboten der Religion schnurstracks zuwider laufen. Man betrachte nur jene Buhlerin, die vor dem Bilde der keuschen Madonna tagtäglich eine Oellampe brennt; man betrachte jenen Verbrecher, der, im Begriff, eine grausame That zu begeben, beim Ertönen des Glöcklein«, das den Segen verkündet, sich andächtig bekreuzt. In unseren Lebens-Fibern müssen doch wohl Regungen, die un« unbekannt find, vereinig« wirken! Diese dem Menschen ganz eigenthüm- liche Eigenschaft, die mich jetzt über unsere inneren Phänomene nach zudenken zwingt, ist doch wunderbar! Woher kommt es aber, daß eine an sich so schöne Eigettschafl die Ursache vieler Verirrungen ist, von denen das vernunsllose Thier verschont bleibt? Ze mehr Einer an da« Triebwerk denkt, da« ihn handeln läßt, um so mehr vermindert sich seine Energie; und zuweilen wird er eben durch Anwendung der Re- flerion in seinen eigenen Handlungen taktlos. Hierin liegt vielleicht der Grund, warum die Thiere bei gewissen Verrichtungen, die zur SelbsterhaUung gehören, sicherer zu Werke gehen, al« wir. Wir Men schen möchten un« Regeln vorschreiben, untere Leidenschaften und An lagen in besseres Geleise bringen, und doch werden wir meistens nur Psuscher, die Alles lähmen und zu Grunde richten. Daher kommt e« vielleicht, daß die Frauen, denen der philosophische Forschergeist öfter abgeht, al« un«, in den gewöhnlichen Handlungen de« Lebens geschickter und gewandter zu seyn-pflegen. Die Länge meines Artikels erinnert mich daran, daß unter den vielen psychologischen Phänomene» auch Phänomene der Eigenliebe sind, wie z. B. dasjenige, welches unsere eigenen Ideen in den Augen des Konzipienten bedeutend erscheinen läßt, während sie recht herzlich fade seyn können. Dieses Phänomen läßt uns nicht einmal die sehr gewöhn liche Thalsache erkennen, daß man lieber selbst ein Katheder einnehmen, als Andere daraus sehen will; sie macht uns vergesse», daß die Leser — ich spreche nicht von Allen — weit eher die Verirrungen eines Autors zu rügen, al« da« Gute an ihm zu lobe» geneigt sind. (kicoßlitore Italisnn.) Bibliographie. Xlcune letterv scritte »el «ocoli XVl—XVIl. (Einige nicht mehr gedruckt vorhandene Briefe aus dem I6ten und I7ten Jahrhun dert.) 4. Venedig. Xlcune po«»i« liricl»« (Lyrische Gedichte.) Bon Felice Romani. Genua. Dell' »nticfiissims constirione Aealozica e ziolitics stell alt» l-onchsrstis. (Der geologische und politische Zustand der Hoch- Lombardei in ftüherer Zeil', besonders mit Bezug aus Bergamo) Von G. B. Bazzoni. Mailand, iz Lire. 6enni xenlogici sull» kormsrionv stei terreni primitive e »«- constarii. (Ueber geologische Formationen.) Dissertation von Pietro Döderlein au« Ragufl. Padua. Ohi L il I'sr>s (Betrachtungen über die Päpstliche Suprematie.) Bo» dem General-Cvmmiffair der Römischen Curie, Pater Cle mentino Cini. Rom. Dells cliies» cattalic» ste^li 8t»ti Uniri st'Xmerics. (Die katho lische Kirche in den V. St. von Nord-Amerika.) Verona. Herausgegeben von der Redaktion der Allg. Preuß. Staat«-Zeitung. Gedruckt bei A. W. Hayn.