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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. PränumeratlonS- Prei« 22^ Sgr. «; Thlr.» vierteljährlich, 3 Thlr. für ha« ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen ter Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumerirt auf tiefe» Beiblatt ter Allg. Pr. Staati- Zeitung in Berlin in der Expedition «Mohren-Straße No. 34); in der Provinz sv wie im Ausland« bei de» Wohllöbl. Post-Aemtern. Literatur des Auslandes. 91. Berlin, Freitag den 31. Jnli 18SS England. Charles Lamb über Shakespeare'« Charaktere.") Man hört im gemeinen Leben ost genug sagen, Shakespeare « Stücke sepen so natürlich, daß Jedermann sie verstehen könne. Natürlich sind sie allerdings — sie sind lief in der Natur begründet, aber auch so tief, daß sie außer dem Bereiche der meisten Beuriheiler liegen. Man hört Lie nämlichen Leute George Barnwell sehr natürlich, und Othello sehr natürlich, und auch Beide sehr tief nenne»: der Eine gilt ihnen so viel wie der Andere, lieber den Ersteren vergießt man Thränen, weil ein gutgeartetcr junger Mensch durch ein lüderlicheS Weib zu einer kleinen Sünde verleitet wird — etwa seinen Onkel tödlet «der wa« Aehnliche« — und in Folge dessen — ei, wie rührend! — rin vorzeitiges Ende nimmt; über den Anderen aber, weil ein schwar zer Ehegcmahl, von wüthender Eifersucht fortgeriffen, seine unschuldige weiße Gatlin mordet. Ich möchte wellen, daß neunundneunzig Leser von Hunderten dem Mohren eben so gern — ja noch lieber — einen Strick zum Lohne wünschle», als Barnwell. Bon dem Scelen- Lriebwerk Othello'«, das uns so wunderbar erschlossen ist mit alle» seinen Kräften und Schwächen, mit seinem beldenmüthigen Vertrauen und echt menschlichen Argwohn, mit dem Todeskampse'seines Haffes, Ler au« den Tiefe» seiner Liebe hervorbricht — von allem diesen ge. wahren sie nicht mehr^ al« andere Schaulustige, die für ihren Penny in das Teleskop zu Leicester-Fields gucken dürfen, von der Topographie Les Monde« gewahren. Sie sehen einen Schauspieler, der irgend eine Leidenschaft p'ersonifizirt, und erkennen in seinem Spiel die triue Kopie ter gewöhnlichen äußeren Wirkungen dieser Leidenschaft; oder sie bemer ken wenigste»«, daß er dem Symbole derselben treu bleibt, welches auf gewissen Bühne» stall echter Leidenschaft im Eourse ist; was aber Lie inneren Gründe der Leidenschaft und ibrc Beziehung zu einer groß artigen, heroischen Natur, — den einzig würdige» Gegenstand der Tra gödie — betrifft, so Halle ich es für rein unmöglich, daß der gewöhn liche Zuschauer durch Vie bloße Lungenkrast des Schauspieler« davon eine Idee erhalten, daß ein Sturm von der Bühne ihm Ahnungen ein- jlößen könne, die er nie gekannt hat. Wir reden so gern von Shakespeare « wunderbarer Beobachtung Les Lebens, während wir fühlen sollten, daß er »ichl einem kleinlichen Studium der Alltags-Menschen, die ihn eben so wohl umgaben, als sie uns umgeben, sondern seinem eigenen Innern, dieser „Sphäre der Menschheit", wie Ben-Jonson sagt, jene titanischen Gestalten verdankte, Lie ein Jeder ganz erfassen zu können vermeint, weil er ein Stück davon schauen und fassen kann Ich will keinem Schauspieler zu nabe treten; allein derjenige Ge nuß, den Shakespeare'« Stücke auf der Bühne gewähren, scheint mir gar nicht verschiede» von dem, welchen das Publikum empfindet, wenn es die Dramen anderer Dichter aussühren sicht. Da nun Shake- speare'S dramalische Schöpfungen von denen aller anderen Dichter wesentlich verschiede» sind, so muß ich den Schluß ziehen, daß in der sccnischcn Darstellung Etwas liege, das jeden Unterschied aus- hebt. In der Thal, wer lobt nicht den „Spieler" und Macbeth gleichmäßig als schöne Rollen? Wurde unsere Siddons weniger geprie sen, wen» sie Mr«. Beverley, al« wenn sic Lady Macbeth gab? Belvidcra, Calista, Isabella, Euphrasia, stehen sie in gerin gerer Gunst, als Imogen, Julie oder Desdemo na? Ist nicht dir Künstlerin (wie man zu sagen pflegt) in der einen Rolle so groß wie in der anderen? Glänzte nicht Garrick in jeder erbärmlichen Tragödie, Lie sein Zeitalter bervorbrachte — j» de» Produkten der Hill'S, Murphy s und Brown'« — »»d soll dieser Mann die Ehre haben, Ler unzertrennliche Begleiter Shakespeare s, oder gar ein ihm verwand ter Genius zu heißen?! Die Charaktere Shakespeares si»d weit mehr Gegenstände der Betrachtung, al« der Neuester oder desjenigen Interesses, das sich an dramatische Handlungen knüpft. Beim Lesen seiner großen verbre cherischen Charaktere — Macbeth, Richard, und selbst Jago — denken wir weniger an die Verbrechen, die sie begehen, al« an die Ehrsucht und den wild emporstrebcnden Geist, der sie alle moralische Bande zu sprengen treibt. Barnwell ist ein elender Mörder; sein Nacken paßt zum Strick und der Strick zum Nacken — er ist legitimer Erbe des Galgen«; kein Mensch, der Gedanken hat, kann in Barnwell'« Fall irgend einen mildernden Umstand erdenken, Vst ihn des Mitleids wür dig wachte. Oder, um ans der höheren Tragödie ein Beispiel zu wäh - . ") Ms den L»»»,» ,s LU». len, wa« ist Glenalvon anders, al« ein gemeiner Mörder? Können wir: bei seinem Auftreten an etwas Andere« denken, als an sein Verbreche» und an die Strafe, die er verdient? Ganz anders ist es mit den ent sprechenden Charakteren in Shakespeare, wo die Handlung selbst uns vergleichungsweise so wenig asfizirt, daß das Verbrechen vor unseren Augen beinahe zu Nichts einschrumpst, wogegen die Seele in ihrer ver kehrten Großartigkeit als das eisizig Neale erscheint. Sehen wir aber diese Charaktere auf der Bühne, so sind ihre Handlungen Vergleichung«- weise Alle«, die Impulse aber Nichts. Wenn wir nicht mehr im Buche selbst jene Bilder de« Grausens lesen, die Shakespeare seinem Macbeth in den Mund legt, oder jenes schrcckbar feierliche Präludium, womit er die Zeit aussüllt, ehe die Glocke ihn zur Ermordung Duncan'« ruft — wenn wir da« vortheilhafte Feld der Abstraclion, die nur beim Lesen möglich ist, verlassen haben und nun einen Mann, der sich zum Morde anschickt, leibhaftig vor uns sehen: so versetzt uns (wenn der Schau spieler so wahr und eindringlich spielt, wie z. B. Kemble) da« allzu treue Bild der Wirklichkeit und ein natürliches Sehnen, die Ausführung der Thal zu verhindern, in eine peinliche unrubvolle Stimmung, die jeden Genuß, de» die Worte des Dichters gewähren könnten, zerstört. Lesen wir aber die Scene auf unserem Zimmer, so beklemmt uns nicht das Gefühl der unmittelbaren Gegenwart, und die Katastrophe steht mehr al« vergangen und unvermeidlich vor uns. Dann erst können wic den Bollgenüß der Dichtung haben. Eben so ist es mit Lear. — Ein alter ManU, der, von seinen Töch tern aus dem Hause gestoßen, in einer stürmischen Nacht mit seinem Wandersiabe über die Bühne schlottert, ist ein schmerzlicher unerquick licher Anblick. Wir möchten ihn unter Obdach bringen, ihm Stärkung reichen — kein anderes Gefühl hat der theatralische Lear jemals in mir erweckt. Aber Shakespeare'« Lear kann nicht aufgcfübrt werden, weit leich ter trüge das Bretterwerk der Bühne de» Satan Milton'« oder eine von Michel Angelo'« furchtbar hehren Gestalten. Lear'« Größe zeigt sich nicht in körperlichen Dimensionen, sie ist ganz intellektueller Ärt; die Ausbrüche seiner Leidenschaft sind schrcckbar wie ein slammcnspciender Vulkan — cs sind Stürme, die den Ocean seiner Seele aufwühlen und alle die reichen Schätze, die er birgt, tief unten erblicken lassen. Wir sehen fast nur sriir Innere«; diese Hülle aus Fleisch und Blut erscheint uns — wie auch ihm selber — zu bedeutungslos, als daß sie Beachtung verdiente. Auf der Bühne sehen wir nur Schwächen und Gebrechen, nur ohnmächtige Wuth; lesen wir ihn aber, so sehe» wir Lear nicht mehr, wir sind Lear — wir leben in ihm — es nährt und stärkt uns eine Größe, durch welche die Bosheit der Töchter und der Elemente zu Schande» gemacht wird. In den Verirrungen seines Verstandes entdecken wir eine gewaltige, nur ungeregelte Kraft de« RaisonnementS. Wie könne» Blicke öder Worte jenen erhabenen Vergleich seine« Alters mit dem Alter des Himmels selbst treffend darstcllen, wenn er dem Himmet Borwürfe macht, daß er mit dem Frevel seiner Kinder Nachsicht habe, und ibn daran erinnert, daß „er selbst alt sey?" Das Stück ist wirk lich über alle Kunst erhaben; dies bezeugen schon die Verstümmelungen, die man sich erlaubt hat. Es ist zu hart und steinern — cs mußte noch Liebe hinein und ein glückliches Ende — Ende gut, Alles gut! Es ist nicht genug, daß Cordelia eine vortreffliche Töchter sey, sia muß auch verliebt seyn können. Zum Besten Garrick s und seiner Kon sorten hat Tate diesem Leviathan seinen Angelhaken in die Nase gesteckt, damit das Ungethüm beweglicher würde und sich bequem hcrumzerreil ließe. Ein glückliches Ende! Als ob das Märthrerthum, welche« Lear bei seinen Lebzeiten bestanden — das lebendige Schinden seiner Ge fühle — einen guten Abschied von der Schaubühne des Lebens nicht wünschenswerth und seiner Schicksale einzig würdig machte? Wenn er hiemedcn noch fortleben und glücklich werden soll — wozu dann alle diese geräuschvolle Vorbereitungen? Warum quält man uns mit all' dieser unnöihigen Sympathie? Al« ob da« kindische Vergnügen, seinen Szep ter und Königsmantel wieder zu erlangen, ihn verlocken könnte, den geschändeten Sitz wieder einzunehmen? Al« ob ihm in seinen Jahre» und »ach solchen Erlebnissen etwa« Andere« übrig bliebe, al« der Tod? Bibliographie. Journal os a resickenco in tün Dniteck 8late«. (Die Vereinigte!» Staaten von Nord-Amerika.) Bon E. S. Abdy. 3 Bde. 30 Sh. kllnlfle Oazinne's nonazo. (Erziehungslehre eine« Mönchs.) 3 Sh. 1'he coczuetle. — Roman von Mr«. Norton. 2 Bde. 2k Sb. Oortos — oder Mexiko'« Fall. Bon vr. Bird. 3 Bde. 27 Sh. Volkers lenm ranne anfl 8cvitzerlan<I. (Briefe aus Frankreich und der Schweiz.) Bon I. Davies. 8; Sh. Harcück sie Luruo. — Semidramatische« Gedicht ho» Driver, Sb,