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120 Was der Bers, mit dem Umstellen der Schriftzcichcn im Gegen satz zum Verändern meint, ist nns nicht klar, und vcrmuthlich ihm selber nicht. Denkt er dabei an rhetorische oder poetische Lizenzen in Versetzung der Wärter (die natürlich auch Versetzung der Zeichen erfor dert), so versichern wir ihm, daß er dergleichen, wenn er jemals Chine sisch studiren sollte, weit mehrere finden wird, als ihm angenehm scyn dürfte. Will er aber die Chinesischen Charaktere, zu Forderung der Znlellienz, in buchstäblichem Sinne umgcstellt wissen, so braucht er ein Chinesisches Buch nur schräg oder verkehrt in die Hand zu neh men. Auch diese Art von Neuerung wird in China Keinem verboten sehn, der Geschmack daran findet. Wir lassen den Verfasser weiter reden: „Die Masse dieser Zeichen macht für die, welche das Idiom dieses Volkes studiren wollen, eine ungeheure Anstrengung des Ge dächtnisses erforderlich; die ganze Intelligenz Hal sich hier auf das Gedächtnis« konzcn tritt." Wir wolle» einmal scherzweise zugeben, cs käme beim Studium der Chinesischen Sprache wirklich Alles, oder wenigstens das Meiste, aufs Gcdächtmß au, und dieser Umstand wirke drückend auf die Intel ligenz. Was würde nun der Verf. zu erwiedern haben, wenn ein Chi nese, der von dem Charakter unserer Europäischen Sprachen eiuigc No tiz genommen balle, ihm ungefähr so entgegnete: „Ihr beklagt uns, daß wir ein paar lausend Charaktere im Kopfe mit herumtragcn müssen, und rechnet es für nichts, daß jede Eurer Sprachen nicht bloß cin Lexikon von zwanzig- bis drcißigtau- scnd Wörtern, sondern außerdem noch eine Grammatik mit einem Wüste von Flexionen, Regeln und Ausnahmen Hal? Schon gegen die simpelste Europäische Sprache empört sich unser Gedächlniß; Euch aber füllt noch nicht einmal die Muttersprache den Kopf zur Genüge; schon in zarter Jugend müßt Ihr damit anfangen, noch zwei andere Spra chen bmunterzuwürgm, von denen jede einen viel größeren Reichthum an Wörtern und grammatischen Beugungen haben fall, als die Mut tersprache selbst. Was für Wundermänncr des Gedächtnisses müßt Ihr Europäer sehn, daß man Euch drei Wörterbücher und eben so viele Sprachlehren in den Kopf schieben kann, und welche Elastizität muß Euer Genius besitzen, daß eine solche Riesenwucht ihn nicht zermalmt?! Oder sind fünfzig- bis sechzigtausend Wörter mit einer ange messenen Zukost grammatischer Regeln leichter zu verdauen, als dreitausend oder selbst fünftausend Schriftzcichcn, neben welchen wir eine mündliche Sprache besitzen, die in formeller Hinsicht so ein fach ist, als sie nur erdacht werden könnte; die von Dcclination, Con- jugation und Allem, was Eure schwerfällige Formenlehre ausmacht, keine Spur zeigt?" Aber Wörter sind doch wohl viel leichter zu merken, als Schriftzeichen? Dies würden wir herzlich gern zugeben, wenn die Chinesischen Charaktere ein verworrenes Durcheinander von Zügen und Schnörkeln wären. Nun aber läßt sich auch das komplizirtestc Chine sische Zeichen sehr gut sn seine Urbestandthcile auflösen; ja, in dieser Zusammensetzung liegt oft eine sehr glückliche Definition, die den Be- griff lebendiger vor die Seele führt, als bloße artikulirte Laute zu thun vermögen. Das Gedächtnis; des Europäers ist nur darum — wenigstens in der ersten Zeit — für die Chinesische Schrift minder empfänglich, weil er viel weniger gewohnt ist, das Material seiner Erudition nur durch s Auge in die geistige Vorrathskammcr zu fördern. Sv viel zum Tröste derer, denen das Auswendiglernen Be dürfnis; scheint. Wir für unseren Theil halten diese Plackerei im Chine sischen für eben so überflüssig und zwecklos, wie in jeder anderen Sprache. Muß man denn die Chinesische» Charaktere im Fluge weg- schnappen, oder aus einem Chaos herausfischen, daß Einem so viel daran gelegen sehn könnte, sie geistig einzupferchen? Giebt es etwa keine Chinesische Wörterbücher, in welchen alle Charaktere unter Schrift wurzeln gebracht und in schönster Ordnung disponirt sind? Etwas Bekanntschaft mit den sogenannten Wurzelzeichen und einige Ucbung setzen uns bald in den Stand, ein Chinesisches Wörterbuch eben so be quem zu handhaben, wie alphabetische Wörterbücher. Die wahren Schwierigkeiten der Chinesischen Sprache stän den uns immer noch in frischester Kraft gegenüber, wenn auch der ungeheure Gedächtnißkampf längst durch,gekämpft wäre; denn das Gedächlniß ist bloße Munition, nicht kämpfende Mannschaft. Man hat in keiner Sprache so viel Noth, unter den oft sehr verschiedenen Bedeutungen, die ein und dasselbe Wort Zeichen) in sich ver einigen kann, diejenige herauszufinden, welche in den Zusammenhang paßt, und in keiner anderen Sprache sind die grammatischen Katc- goricen so schwer zu erkennen, wie im Chinesischen. Hier kommt es also nur auf Intelligenz an. Wer — was den, Ausländer nur durch "lange Uebung möglich wird — im Verstehen Chinesischer Texte einen sicheren Takt erlangt hat, der kann mit weit größerem Rechte Meister genannt werden, als ein Anderer, dem diese Gewandtheit fehlt, hätte auch der Letztere zehn Mal mehr Charaktere im Gedächlniß. Das ist ein Gemeinplatz, eine triviale Wabrheit! hören wir die meisten Leser hier ansrufen; aber ist man nicht oft wider Willen ge- nöthigt, an die trivialsten Wahrheiten zu erinnern? Allein warum haben denn die Chinesen auf eine ideologische Schrift sich versteift und nicht lieber ei» Alphabet crsimdc»? Antwort: -Weil sie recht wohl gefühlt haben, daß ihnen ein Alphabet ihre eigene Muttersprache zum ewigen Räthsel gemacht und alle Art von Li teratur schon im Keime erstickt hätte. Der GcuinS der Chinesischen Sprache empört sich gegen Buchstabenschrift, imd wer die Chinesen mit einem Alphabet beschenken wollte, der müßte auch eine ganz an ders organisirte mündliche Sprache für sic erfinden. Besondere ge sür diese Behauptung würden hier zu weit führen, und so kom- wir denn wieder auf Herrn Chasles zurück. „Man Hal die Menschen nach der größeren oder geringeren Anzahl von Zeichen, dw sic zu behallcn vermocht, klassi- fizirt; wer ZlXM Wörter weiß, ist Mandarin zweiter Klasse; wer 4000 weiß, Mandarm erster Klaffe." Diese mit Zuversicht ausgesprochene Meinung hat ungefähr eben so viel objektive Wahrheit, als die bekannten Notizen Martin Bchaim's auf dem Nürnberger Globus. Refer. hat mehr als einen biographische» Artikel über berühmte Gelehrte oder Staats-Beamte des von den Eu ropäern sogenannten himmlischen Reiches") gelesen und nirgends von Einem derselben gerühmt gefunden, daß er so oder so viele Charat- tcrc in seinem Kopse beherbergt habe. Man lese nur die bekannte Iugendschrift San dszö ki»g,°") die dem Europäischen Publikum schon seil vielen Jahren in einer Englischen und jctzl auch in einer Russischen Ucbcrsctzung vorliegt, und in welcher dem Schüler sein gan zer Sludicnplan vorgezrichnet ist. Da fehlt es zwar nicht an Ermah nungen zu Fleiß und Ausdauer im Studium der kanonischen Bücher, der Philosophen, der Reichs-Historiker u. s. w.; aber nirgends wird man geschrieben finden: „juche Dir drei, oder vier, oder zehntau send Zeichen einzuprägcn: dann bist Du ein Mann onmmo il laut! Dann steht Dir zu den höchsten Acmteru Thor und Thüre offen!" Res. hat einen Chinesen ans Macao kennen gelernt, der nie viel mehr als gemeiner Matrose war und also schwerlich jemals daran dachte, ein Staats-Examen zu machen. Die geringe Schulbildung, die ' er als Knabe genossen, halte gleichwohl so gute Früchte getragen, daß nur sehr wenige Charaktere'ihm völlig fremd ware»^ und daß cp sogar mehrere Tausend derselben aus dem Gedächlniß niederschreibe» konnte. Dieser Mann würde also in dem China dcs Herrn Chasles vielleichl schon ein Mandarin zweiten Ranges geworden scv»! Er selbst war jedoch weit enlscrut, sich für einen Gelehrten zu erklären, und ver sicherte treuherzig, er könne in dem gelehrtesten Chinesischen Werke zwar die meisten Zeichen, so einzeln genommen, verstehen, aber es fehle ihm die rechte Zusammenfassung! Sehr natürlich! Man lege dem gemeinen Plan» in Europa ein tiefcs philosophisches oder streng wissen schaftliches Werk seiner Muttersprache vor — gewiß wird er bekannte Wörter genug darin berausfindcn; aber sein Gestandniß wegen der Zusammenfassung wird ziemlich eben so ausfalle», wie das jenes Chinesen. So viel wir bis jetzt von deni Examen der Chinesischen Amts- Bewerber wissen, so zerfällt cs, wie bei uns, in ci» mündliches und» schriftliches. In dem schriftlichen Examcn werden den Kandidaten Themata zu Ausarbeitungen gegeben. Diese Themata sind gewöhnlich Aussprüche der kanonischen Bücher oder klassische» Philosophen über Gegenstände der Moral und Politik. Den Werth solcher Aussätze be- stimntt aber nicht die in denselben znr Schau gelegte Fülle erlernter Schriftzeichen, sondern Scharfsinn und Klarheit der Auseinandersetzung und Eleganz dcs Ausdrucks. °"°) Zcder Chinese, der nicht gerade zum Pöbel gehört, hat auch von seiner geschriebenen Muttersprache so viel Kemttniß, als seine Stel. lung im bürgerlichen Lebe» ersordert, und "will er diese Kcnnlniß erwei tern, so fehlt eS vielleicht in keinem Lande weniger an Hülfsmilleln zu diesem Zweck. Nirgends hat man so eifrig sür Kommentare und Wörterbücher gesorgt, in denen nicht bloß alle seltener vorkommende Schriftzcichcn erläutert, sondern auch alle minder gewöhnliche Bedeu tungen der häufig vorkommendcn verzeichnet sind. Sollten gleichwohl künftige Statistiker zu dem Resultate kommcii, daß es in dem unge heuer bevölkerten Chinesischen Reiche sogar verhältuißmäßig mehr unwissenden Pöbel giebt, als in irgend einem Enropäischcn Lande, so wird man dies auch mit anderen Gründen zu motiviren wissen, als mit dem eigenchümlichen Charakter der Chinesischen Schrift. Bis jetzt haben wir noch unberücksichtigt gelassen, daß es in China sogar verschiedene Schriftarten giebt, ff) von denen das soge nannte Zao, in seiner bizarrsten Fornis dem Gedächlniß ohne allen Vergleich mehr zu schaffen macht, als die gewöhnliche Schrift. Wir wissen nicht, ob man jemals den Versuch gemacht bat, das Zao unter Wurzelzeichen zu bringen, und haltcii cs für beinahe unmöglich, denn hier sinh die Elemente der Zeichen mit wahrhaft zügelloser Freiheit in einander geschlungen, und wir würden cs Niemand verdenken, der beim Anblick eines Zaö-Textes ausriese: „dazu gehört übermenschliche mne monische Kraft!" Wenn 3000 Zeichen der gewöhnlichen Schrift ein Individuum zum Mandarin zweiten Ranges befördern könnten, so würden ihm schon ZOO von den bizarrsten Zeichen des Zao gewiß mit vollem Rechte auf den Mützcnknopf ersten Ranges Ansprüche geben. Aber gerade diese Schrift ist nichts weniger als klassisch, und man würde es einem Kandidaten sehr übel nehmen, der seine Probe-Disser tation in derselben abfaßte. Sie dient am hänfigstcn im Geschäfts leben oder überhaupt in Briefen. Dann und wann findet man auch Vorreden zu Büchern in gemäßigtem Zoa geschrieben, das sich bequemer entziffern läßt, ffff) l>r W. Sch.. , ') Bei Len Chinesen wird man sich veracbenS nach diesem Ehrentitel uM- sekem Er verdankt seine Eristen, den Briten, die das Komvosttum Tkian, hia, „was unter Lem Himmel (liegt)" durch -unpirv übersetzen ") Eine Notiz über dieselbe findet sich im voriahngen Magazin lieber die Grundsätze der Chinesische» Nhetorik und Stilistik sehe man besonder« Premare's bintiii» lioumio «imcac lS. 188 ff., und Goncalves 4rti OK,»» (S. «22 ff) ff) Es versteht sich von selbst, dah wir hier bloß an formelle Verschie- denheit denken. ffff) Der Pater Goncalves, aus dessen sehr gehaltreiche oum» wir noch oster zuruckkommen werden, hat», dem genannten Buche unter der lieber- schrist „korinnl.iri»» Uc (iS. 48» ff.) zwölf Chinesische Briefe in ae wohnlicher Schrift und in Zoa-Charakleren, mit beige,ügt-r Portugiesischer llebersetzung, mttgetheilt. HerauSgegebcn von der Redaction der Allg. Preuß. Staats-Zeitung. Gedruckt bei A. W. Hayn.