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Die Weichsel in N u s s i s ch - P o l e n. Von C. Petzet. Dm vielbelobten Dreikaiserbund von 1872 symbolisirend bildet der Weichsclstrom ein bewegliches und doch ziemlich festhaltcndes Band zwischen Rußland, Oesterreich und Preu ßen. Für das Königreich Polen, dessen Gebiet von dem Strome über achtzig Meilen lang bespült, durchschnitten und in fast gleich große Hülsten getheilt wird, ist die Weichsel nicht bloß das breite Rinnsal, in welches die Gewlisser des Landes von der Linken wie von der Rechten sich zahlreich ergießen, sondern auch die wichtigste natürliche Verkehrsader, die in einem Lande des Ackerbaues von besonderer Bedeutung ist. Es braucht kein besonders günstiges Jahr für die Schiff fahrt zu sein, wenn 40,000 Last Weizen, 20,000 Last Rog gen und eine Million Stück Balken weichselabwärts über die Grenze nach Preußen schwimmen, während dafür die wohlbekannten „Verlinken" mit Colonialwaaren und Jn- dustrieproducten beladen von Bromberg und Danzig strom auf die Gegengaben des Westens bringen. Eine Handels straße, die solch einen Verkehr vermittelt, verdient gewiß einen aufmerksamen Blick. Schon von Krakan ab würde die Weichsel bei gehöriger Fürsorge für Eindeichung und Ausbaggerung zur regel mäßigen Schifffahrt geeignet sein, wenn auch nicht für tief gehende Kähne, jedenfalls aber für Flöße, da schon von hier an die geringste Tiefe bis hinab zur Mündung des San mindestens 3 Fuß beträgt. Im Mittelalter, wo der Fluß nicht wie jetzt von Jgolomia bis Zawichost die Grenze gegen einen fremden Staat bildete und dadurch mehr dazu einlud, ihm einen seine Ufer scheidenden Charakter als einen ver bindenden zu verleihen, wo aber auch andererseits bei dem reichern Waldbestand an seinen Gestaden und in seinem gan zen Gebiete für einen gleichmäßigem Wasserstand bester als heute gesorgt war, scheint die Schifffahrt bis weit oberhalb der Strecke, wo sie noch heute schwunghaft betrieben wird, sich einer lebhaftem Förderung erfreut zu haben. So blühte im 14. bis 16. Jahrhundert der namentlich auf dem Wasser wege betriebene Handel von Nowe Miasto Korczyn, einem an der Mündung der Nida in die Weichsel in einer getreide- reichen und wohlbebauten Gegend günstig gelegenen Stapel- Platze, der in jener Zeit über 30,000 Einwohner zählte. Heute ist das auf ein paar tausend Seelen zusammen- geschmmpfte Städtchen einige Werst von der Weichsel ent legen, und nur zur Zeit des Hochwassers im Frühjahr wird hier noch eine bedeutende Quantität Weizen in die Weichsel- kühne verladen: von einer regelmäßigen Handelsthätigkeit ist in dem verödeten Orte keine Rede mehr. Ein recht eindringliches Beispiel einstiger commerciellcr Bedeutung und modernen tiefen Verfalls bietet weiter ab wärts, nachdem wir an dem durch seinen trefflichen Weizen berühmten alten Sandomir und dem für Handel und Schiff fahrt noch jetzt wichtigen Zawichost sowie an Rachow-Anno- pol vorbeigekommen sind, noch gegenwärtig das den Namen seines historisch berühmten Gönners, des polnischen Baucrn- königs, tragende Städtchen Kazimierz. Eine Reihe von dreißig Getreidespeichern, größtentheils massiv und solide gebaut, in den letzten Jahrhunderten aber allmälig verfallen, zieht sich hier im Weichselthale der Uferstraße entlang. Aus diesen Gebäuden wurde im Mittelalter das aufgespeicherte Getreide direct in die Weichselkähnc verladen, die bis an die Mauern hcranfahren konnten. Heute stehen die Speicher wüst und leer oder sie liegen in Ruinen, und die Weichsel hat sich mehrere hundert Schritte weit weg nach dem gegen überliegenden Thalrande zu ein bequemeres Bett gewühlt. Derartige Abänderungen des Stromlaufes sind überhaupt bei der Weichsel keine Seltenheit, und es mag in Europa westwärts nicht leicht einen Fluß geben, der sich in dieser Hinsicht mit ihr vergleichen ließe. Meilenweit unterspült sie die Ufer in einer Weise, daß schließlich förmliche Erdstürze entstehen, die dann die Strömung nach einer andern Rich tung drängen. Große Strecken der Uferdämme werden beim Hochwasser weggerissen und überfluthet, so daß ganze Landschaften unter Wasser gesetzt, ganze Dörfer hinweggespült werden und wiederholt schon der Verlust zahlreicher Bewoh ner der Flußniederungen zu beklagen war. Namentlich die Gegenden unterhalb der Festung Iwangorod (ehemals Demblin) waren schon die Stätten der schrecklichsten Ver wüstungen, die besonders beim Eisgang durch außerordent liche Stauungen, die sogenannten „2ator^", vst'über weite Strecken verbreitet wurden. Selbst in der unmittelbarsten Nähe der Hauptstadt Warschau, ja innerhalb des städtischen Weichbildes, wo in den letzten Jahrzehnten sehr viel für äußere Ordnung auf gewendet worden ist, lassen die Ufer des Stroms an Sicherung noch unglaublich viel zu wünschen. Weder die Vorstadt Prag« noch die nach dem Strome zu gelegenen Stadttheile des linken Ufers sind durch genügende Schutzmittel vorUebcr- schwemmnngen gesichert, und während die kostbarsten Brücken gebaut werden — die 1860 eröffnete Gitterbrücke verursachte einen Aufwand von drei Millionen Silberrubel — bieten die Uferdämme einen Anblick, der zu den schönen gemauerten Kais mittel- und westeuropäischer Städte einen traurigen Contrast bildet. Der nach der Seite von Praga im Strome liegende sächsische Werder (die sächsische „Kempe"), der für die mittleren und niederen Classen der Warschauer Bevöl kerung vielbesuchte Sommervergnügungslocale in seinem Naturparke birgt, wird alljährlich vom Hochwasser über fluthet und beschädigt, gleich den zahllosen anderen Weichsel inseln, an denen der Fluß namentlich von hier abwärts sehr reich ist. Wie schon der Einfluß des San nicht bloß auf die Wassermenge, die Tiefe und das Gefälle, sondern auch auf die Richtung des Laufes der Weichsel von bedeutender Ein wirkung ist, so tritt dies aufs Neue und in noch höherm Maße bei der Einmündung der Narew hervor. Es sei hierbei die Zwischenbemerkung gestattet, daß noch in zahl reichen geographischen Büchern wie auf Landkarten der Jrr- thum genährt wird, als sei der Bug der größte Nebenfluß der Weichsel, in den sich die Narew bei Sicrock ergieße. Die Sache , verhält sich umgekehrt, wiewohl der Bug einen längern Lauf hat, als die Narew — ein ähnliches Verhält- niß wie das der Moldau zur Elbe, des Inn zur Donau und andere mehr. Die Narew ist dafür weit wasserreicher, brei ter und tiefer. Mit dem Einfluß der letztcrn bei der Festung Nowo-Georgiewsk, dem früher» polnischen Modlin, nimmt die Weichsel eine ganz dem Laufe der Narew und des Bug entsprechende westliche Richtung an; die Farbe der Narew- Gewässcr läßt sich in dem Strome weithin verfolgen, die