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älter nun Einer ist, desto näher steht er jener Epoche der gefährlichen Macht, desto mehr muß er geehrt werden. Daß der Mensch mit den Jahren immer heiliger wird, das zeigt sich aus den Gebräuchen vieler Völker; daß man die der einst freiwerdenden Seelen auch der noch Lebenden fürchtet, beweist die Behandlung der Kranken vielfach, zum Theil auch die Tödtung der alten Eltern, welche überall, wo sie herrscht, als strenge Pflicht angesehen wird; ein Sitte, welche sich bei unserer Auffassung mit der Verehrung, die man ge gen das Alter hegt, sehr gut vereint. Elphinstone berichtet von den Shirani, einem afghanischen Stamme des südlichen Suleiman-Gebirges, daß ihr Häuptling, welcher den Titel Nika, d. h. Großvater, führt, stets das Familienhaupt der ältesten Familie ist. Er steht, so glaubt man, unter un mittelbarer Führung und Hut der Gottheit, und Frevel gegen ihn rächen sich sofort durch schweres Unglück, z. B. durch den Tod eines Kindes. Kinder aber sind den göttlichen We sen das genehmste Sühnopfer. Die Shirani behandeln also ihren „Großvater" schon bei Lebzeiten wie einen Geist oder Gott. Aber trotz aller Familienanhänglichkeit herrschen in allen afghanischen Familien die heftigsten Fehden, noch neben den Feindseligkeiten, welche die Stämme unter einander haben. Ein Sprichwort lautet: „Ein Vetter beißt sich den Zahn am andern Vetter aus;" denn wie zu Elphinstone's Zei ten, so sind auch heute noch die einzelnen Häuser einer Familie immer mit einander im Streit, meist wegen Erb schaftsangelegenheiten. Auf diesen Familienzwisten beruhen die Parteiungen in den Stämmen; sie erfüllen das Leben des Einzelnen niit Haß und nicht selten auch mit blutigen Thaten. Meuchelmord ist der beständige Begleiter dieses Hasses, trotzdem das alte Blutrecht der Wiedervergeltung gerichtlich streng verpönt ist. „Aber," sagt das Sprichwort, „wer zähmt seine Hand, wenn ihm Sohn und Bruder er schlagen sind?" und ein anderes: „Afghanische Feindschaft ist wie Dungfeuer," d. h. sie brennt heimlich und lange, unter dem Deckmantel der Verstellung, weiter, bis sie bei guter Gelegenheit in Helle Flammen ausschlägt. Man kennt genau die Zahl der beiderseitig Getödteten, weiß genau, wie viel von der feindlichen Partei noch getödtet werden müssen in einer Fehde, die sich oft schon durch Generationen hindurch zieht, und so sind Mordthaten und Familienrache auch heute noch gar nicht selten. Das Wergeld, mit welchem eine Tödtung gebüßt wird, ist oft höchst bedeutend. Mit diesem privilegirten und angeerbten Haß und Partei wesen verträgt sich übrigens die größte Gastlichkeit sehr wohl. Der Wanderer theilt mit dem Wanderer sein Mahl; die Dörfer nehmen in ihren Fremdenhäusern die Reisenden un entgeltlich auf — die Unkosten der Verpflegung trägt ent weder der Dorfvorsteher oder sämmtliche Gemeindeglieder. Von einem Häuptling oder Fürsten erwartet und rühmt man diese Gastlichkeit ebenso wie die mittelalterlichen Sän ger die „Milde" ihrer Fürsten erwarten und rühmen. Da her ist es begreiflich genug, daß die englischen Machthaber im Lande sich und ihrer Stellung durch wohlangebrachte Frei gebigkeit unendlich nützen können; während das Gegentheil ihnen ebensosehr schadet. Die — unabhängigen —Dawaris gelten für besonders spendabel; ihre Fürsten legen an Fest tagen gebratene Hühner in ihre Turbane und diese mit sich fortzunehmen steht Jedem frei. Daher das schon oben er wähnte Sprichwort: „Der ist kein Dawari, dessen Fransen nicht von Fett triefen." — Daß nun die Afghanen, nament lich die ärmeren Stämme, oft eine ganz unleidliche Ge fräßigkeit zeigen, läßt sich nicht leugnen. Eine Schaar Gebirgsafghanen, welche man zu einer großen Parade ein geladen hatte, in der Hoffnung, ihnen dadurch heilsam zu imponiren, war gegen die imposantesten Eindrücke völlig stumpf, dagegen stritten sie lange hin und her über ihre Gast-Razionen und benahmen sich ebenso hochmüthig als un bescheiden — ganz nach Art roher Menschen, welche dies selbe Wesen zeigen sowohl in rein natürlichen als auch in culti- virten Verhältnissen. Die Afghanen sind treue Anhänger ihrer alten Sitten, welche ja in geistig leeren, also in den Zuständen derUncul- tur ganz besonders zähe Kraft haben. „Das Leben giebt man wohl auf, aber nicht einen alten Brauch," sagen sie sprichwörtlich. Dennoch aber sind sie „Neuerungen, die auf altem Wege kommen" (Sprichwort), nicht abgeneigt, sobald ihnen nur die Bortheile derselben begreiflich geworden sind. Ganz ähnlich verhalten sie sich in ihren religiösen Ansichten: nach keiner Seite gehen sie in unverständiger Leidenschaftlich keit vor, so sehr sie auch —sie sind alle Muhammedaner — an ihren Mullahs hängen. Obwohl Sunniten, vertragen sie, trotz mancher verächtlichen Sprichwörter gegen dieselben, auch die Schiiten ganz gut, und wenn ihre Duldsamkeit ge gen Hindus und Hindkis allerdings nicht sehr groß ist, so ist das weit mehr Folge des Nationalhasses (welchen das Gefühl der eigenen Inferiorität mächtig stachelt), als des religiösen Eifers. Natürlich sind sie Fatalisten, aber doch nicht so blinde wie die Muhammedaner sonst so oft. Denn, sagt ihre Volksweisheit, „Schicksal ist ein gesattelter Esel und geht, wohin man es treibt." — „Gottes Wille ist un abänderlich; aber dennoch, bindet eure Kamcele an!" Hierzu halte man folgende Sprichwörter: „Obwohl Gott allmäch tigist, er regnet dennoch nicht bei heiterm Himmel." — „Die Dinge geschehen nach Gottes Willen, nicht nach der Priester Mund." — „Das Wort: „Mit Gottes Hülfe", bringt Segen, aber nicht bei der Schakaljagd" (d. h. nicht bei Kleinigkeiten). Nun ist es freilich eine mißliche Sache, ans Sprichwörtern sich ein Bild des ethisch-intellectuellen Standes der Gesammt- menge eines Volkes zu bilden. So zeigen sich auch die Afghanen in Dingen, welche ihren Horizont übersteigen, ganz abhängig von den Mullahs und erfüllt mit dem gröbsten Aberglauben. Man glaubt an Hexen- und Krankheits beschwörungen; man glaubt an den bösen Blick und daß der selbe namentlich Wöchnerinnen und Nackten oder Leuten schade, die im Dunkel der Nacht draußen sind; daß man durch Blei, welches man in Oel gießt, den Uebelthätcr erkennen könne, indem das Blei die Gestalt desselben annchme. Aber man glaubt auch, daß, je älter und gläubiger der mit dem bösen Blick Behaftete werde, desto mehr und mehr sein Blick die unheilvolle Kraft verliere. Solche Züge, jene Sprich wörter und Aehnliches beweisen, daß die Afghanen ein rohes, aber verständiges, gut beanlagtes Volk sind, welches von semitischem Fanatismus sehr weit entfernt und wohl im Stande ist, zu lernen und weiter zu kommen. Dies wird nicht sehr rasch gehen, auch wohl verhältnißmäßig nicht sehr weit führen; allein hierin ist nicht sowohl die Begabung des Volkes Schuld als die höchst hinderliche Naturumgebung und die allzulange Gewöhnung an ein culturloses Leben. Schließlich sei noch einer, wie es scheint, sehr alterthüm- lichen Sitte gedacht, welche sich bei den Dawari erhalten hat. Wird eine Strecke Landes unfruchtbar, so sollen sie bisweilen einen Wanderer tödten und in dies Stück Land begraben, welches dadurch seine Fruchtbarkeit wieder erhalte, und zwar um so reichlicher wieder erhalte, je heiliger der getödtete Mann war. Beruht diese Nachricht auf wirklichen Thatsachen — woran wir kaum zweifeln dürfen —, so ha ben wir hier eine interessante Spur alter Menschenopfer vor uns.