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Schluß von Dr. Finsch's Forschungsreise nach Westsibirien. 110 über Geologie, Vegetation und die Völkerschaften geben kön nen. Auch in praktischer Hinsicht dürfte unsere Reise nicht ganz nutzlos sein. Wir alle sind überzeugt, daß das in Petersburg geträumte Project einer Canalanlage zwischen Schtschutschja und Podarata, um so den Ob mit der Ka- rischen Bay zu verbinden, schon der Terrainschwierigkeiten halber einfach unausführbar ist und ein- für allemal zu den Todten gelegt werden kann. Man denke allein an die Schwierigkeiten, welche der gefrorene Boden verursachen müßte. Fanden wir doch hier bei kaum 5 Fuß Tiefe den reinen Sand bereits zu Eis gefroren und das Thermometer zeigte bei Kp/z" Lufttemperatur und ruhiger Luft nur 1/4" über Null. Auf der Tundra schien uns ein mühsam ausgekratztes Loch bei kaum mehr als Fußtiefe schon gefrorenen Boden zu zei gen. Die Russen fanden bei 1/2 Arschin (etwas mehr als 1 Fuß) ebenfalls gefrorene Erde. Als wir am Morgen des 12. August erwachten, lag eine zweite Lodka neben der unsern. Es war die der Orlow'schen Expedition, geführt von einem Ostjak und zwei Kosacken, welche den Auftrag hatten, bis zum 27. August n. St. hier zu warten, bis wohin die Herren zurück zu sein hofften. Wir erfuhren durch die Leute, daß die russische Expedition unbedeutend höher als wir Halt machen mußte, da Strom- schnellen unüberwindliche Hindernisse entgegen stellten 1)." In den ersten Stunden des 13. August traten sie die Thalsahrt an und erreichten bei günstigem Winde schon ge gen Abend die Gabelung des Flusses, wo sie am 20. Juli gelagert hatten. Die von ihnen damals errichteten Pfähle zum Messen des Wassers zeigten, daß der Fluß seitdem min destens drei Fuß gefallen war; große Sandbänke hatten sich gebildet, und Flußarme waren zu todten Wassern geworden oder theilweise ganz trockengelegt. Sie gingen diesmal den rechten Arm, ostjakisch Sort jochan jochert, samojedinisch Pereja janderiti genannt, hinab, welcher, obwohl der schwächere, der nähere Weg ist. Die Uferdickichte, jetzt schon baumartige Weiden und Erlen, hier und da mit stattlichen hohen Lärchen untermischt, bergen ein reicheres Thierleben. Zahlreiche Reiher und Bachstelzen beleben den Strand; in den Dickich ten finden sich der Zwergammer (Lmbsrirm suuilla), der Weidenlaubvogel (küMopususts trovllilus) wieder, Nebel krähen und Elstern lassen sich sehen. Sie alle führen flügge, vermauserte Junge, und nur Enten und Schwanenmütter sind noch ängstlich um ihre Dunenjungen besorgt. Mit dem Sonnenschein des 14. August haben sich auch Mücken wieder eingestellt, allerdings minder in Zahl, aber um so zudring licher und ungestümer. Am Vormittage des 15. erreichten sie Haljatur, die erste russische Fischereiniederlassung am kleinen Ob, wo sie das erste Mal am 17. Juli gewesen waren. In Pratotschka, der zweiten Niederlassung, wurde übernachtet; dort wie überall wurden sie mit großer Gastfreundschaft und Zuvorkommenheit 1) Die Herren Wasiljew, Orlow und Matwjejew waren mit 7 bis 8 Nenthierschlitlen am 4. August nach der Podarata aufge brochen und hatten sie an dem fernsten Punkte der Bremer Reisen den erreicht. Wasiljew ging mit einem Kosackm in zwei zusammen gebundenen kleinen Böten den Fluß etwa 17 Werst weit hinab, ge langte aber wegen heftigen Windes und sehr schlechten Wetters (Schnee und Regen) nicht bis ins Meer, welches sehr seicht sein soll. Auf demselben Wege etwa kehrten sie zu der durch den anhaltenden Regen im Gebirge sehr gestiegenen Schtschutschja zurück, fuhren auf derselben ohne Schwierigkeiten zu Thal und laugten am 31. August wieder wohlbehalten in Obdorsk an. Auch Kapitän Wiggins (s. „Globus" XXX, S. 128) besuchte im vorigen Jahre die Podarata-Bucht von der See aus, fand dort einen guten Hafen und verweilte daselbst mehrere Wochen. — Die Dahl'sche Expedition (s. oben S. 72) scheint wegen ihrer mangel haften Ausrüstung und schlechten Mannschaft ziemlich FiaSco ge macht und wenig erreicht zu haben. ausgenommen und mit frischem Brot, Milch und einem Ueber- fluß an Fischen beschenkt. Am Nachmittage des 18. mußten sie wegen heftigen Gegenwindes an dem Platze Jotloch, welcher aus zwei russischen Niederlassungen und mehreren Dschums besteht, liegen bleiben und wurden von dem ostja- kischen Starschina (Gemeindeältcsten) Jorka Mamrun be grüßt. Es gelang Dr. Finsch, von diesem verständigen Manne, der aus fürstlichem Geblüte und noch Heide war, Nachrichten über sein Volk einzuziehen. „Unbekannt mit Lesen, Schreiben und der russischen Sprache, begriff er, als offener Kopf, die Zwecke unserer Reise vollkommen, und theilte uns nicht allein über Sitten und Gebräuche Alles mit, was er wußte, sondern hielt auch in Glaubenssachen nicht zurück. Nach dem oft erlogenen und halbblödsinnigen Geschwätz, welches wir bisher meist von Russen und anderen gehört hatten, konnte uns dies nur äußerst erwünscht sein. So schwer es auch ist, von einem allerdings begabten Volke, welches aber die gewöhnlichsten Dinge nicht kennt, z. B. kein Jahr, noch Monate oder Tage zu unterscheiden versteht, noch dazu durch die Uebertragung zweier Dolmetscher haarscharfe Antworten zu erhalten, so viel wurde uns Allen klar, daß Ostjaken und Samojeden im großen Ganzen Monotheisten sind, so gut wie wir. Sie glauben in erster Linie an einen guten Geist, Oort genannt, dem sie allerdings weder All macht, Allwissenheit, Allgüte, wie wir unserm Gotte, zuschrei ben, von dem sie aber auch viel weniger, nicht Alles verlan gen, wie die Christen. Oort ist ein guter Geist, der den Menschen überall zu helfen bemüht ist, und sie opfern ihm deshalb Gaben; aber er kann nicht immer retten. So ist er z. B. gegenüber der jetzt herrschenden Renseuche machtlos. Aber sie ist keine Strafe von ihm, um die Bosheit der Men schen zu züchtigen. Die kleinen Götzenbilder, von den Rus sen Scheitans (dem arabisch-türkisch-kirgisischen Schekta, Teufel, entnommen) genannt, sollen meist das Bild des gro ßen Oort darstellen, der, sofern noch andere besondere Götter ins Spiel kommen, doch das oberste Regiment führt. Daß neben dem guten Geiste und seinen ihn: untergebenen auch böse existiren, die dem Menschen und seinen Werken zu scha den im Stande sind, ist eine nothwendige Consequenz, welche man den guten Naturkindern nicht übel nehmen wird. Nach unserer kurzen Erfahrung wurde uns klar, daß der getaufte und ungetanste Ostjak oder Samojede sich nur durch Aeußerlichkeiten und Formen unterscheiden. Der Ungetaufte trägt kein Kreuz am Halse, schlägt kein Kreuz', führt keinen Namen eines Heiligen und hat einen „Scheitan" im Dschum, der oft kaum schlechter und roher hergestellt ist, als der „Obras" (Heiligenbild) im Dschum des Getauften. Er opfert diesem Bildnisse Felle, Lappen und andere Dinge, während sein christlicher Stammesgenosse ein Licht vor das seine hinstellt oder es mit Weihrauchdunst anschwärzt. Das von den Ostjaken an ihrem großen siebentägigen Herbstfeste „Labatchatel jemungchatel labet chatel" zu Ehren Oorts ver brannte Pud Fischöl scheint mir in der Bedeutung eben so viel werth, als die Centner Wachs und Weihrauch, welche an christlichen Festen in die Luft wirbeln. Die mosaischen Gebote kennen dir ungetansten Ostjaken ebenfalls; sie verab scheuen Mord, Diebstahl, Ehebruch und alle Todsünden, sind also moralische Menschen, und das ist jedenfalls ehrendes Zeugniß genug. Mamrun blieb bis spät in die Nacht bei uns, und war unverdrossen im Beantworten unserer Fragen über Schamanen, an die er selbst nicht glaubte, über den Lauf der Gestirne, der ihm nicht gänzlich unbekannt war, und tausend andere Dinge, aber wir mußten endlich aufhören. Da der Wind nachgelassen hatte, so konnten mir frühzeitig (19. August) aufbrechen und legten schon nach wenigen Stun den bei Wespogl oder Wespugl, einer Niederlassung