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106 A. Zehme: Aus und über Arabien. Aus und über Arabien. Von A. Zehme in Frankfurt a. d. O. II. In den fachwissenschaftlichen Zeitschriften und in den Sitzungsberichten der geographischen Gesellschaften ist im Verhältniß zu anderen Theilen Asiens von dem Geburts lande des Islam, wie es sich jetzt darstellt, nicht viel die Rede. So mag es passend erscheinen, wenn in dieser Zeitschrift eine Art ständiger Berichterstattung über die Halbinsel eingeführt wird, damit die Nachrichtbedürftigen wissen, wohin sich wenden, um wenigstens in wichtigeren Fragen über Arabien jederzeit auf dem Laufenden zu bleiben. Freilich fehlt dem Berichterstatter die einst von ihm heiß ersehnte persönliche Bekanntschaft mit dem Lande des „stahl kräftigen, hochsinnigen, abenteuernden" Volkes; abseits sogar von den Emiren der orientalischen Forschungen in Europa muß er sich begnügen, durch eine verschärfte Aufmerksamkeit die Gefahr, daß ihm in der Provinzialstadt manches zur Sache Wichtige entgehe, wett zu machen. Ich werde also unter der gleichen Ueberschrift und fort laufender Numerirung im „Globus" des Referentenamtes über Arabien zu warten suchen, so lange und so gut ich kann. Seit Jahresfrist ist es der zweite Artikel dieser Art H. Als ich im Frühjahr 1876 die Forschungen in und über Arabien während des letzten Dccenniums hier durchmusterte, warf die neueste Gestalt der Frage, die wir die orientalische nennen, schon ihre dunkelsten Schatten voraus. Sie hat mit dem Islam wenig genug zu thun, insofern die bisherige Mißregierung der Osmanen einerseits keine Folge der mos- limischen Religion, und die ideale religiöse Grundlage der russischen Kreuzfahrerbegeisterung andererseits mehr als pro blematisch ist. Keine abendländische Priesterkirche, römische, griechische, evangelische oder sonst welche hat als solche die Kraft in sich, die islamitischen Völker etwa durch sogenannte Mission zur Theilnahme an der gemeinsamen Arbeit der strebenden Menschheit zu wecken und zu befähigen: das ver mag außer dem materiellen Anstoße durch den gesteigerten Verkehr nur die Lehre, welche über allen Religionen als höchste ethische Aufgabe waltet, die von der weltbürgerlichen Menschlichkeit, an welcher es dem Islam zwar nicht mehr, aber auch nicht weniger als mancher andern gebricht. Deshalb wird, durch welchen Ausgang der jetzt schwe benden Verwickelung auch immer, auf das Volk Arabiens im Ganzen und Großen kein nachhaltiger Einfluß zu erwar ten sein, selbst nicht an den augenblicklich noch in türkischen Händen befindlichen Etappen an der Westküste, auch dann nicht, wenn die türkische „Verfassung" für die turko-tatari- schen Bevölkerungen des Osmanenstaates — die künftige Zugehörigkeit der slavischen Reichstheile ist ja augenblicklich noch unberechenbar — im Laufe der Decennien etwas mehr als ein werthloser Papierfetzen werden sollte. Daß arabische Männer aber jemals auf den Bänken der Reichsabgeordneten in Stambul sitzen werden, glaubt auch wohl der reformato rische Staatsmaun Midhat Pascha nicht, der ja 1871 von dem ihm damals anvertrautcn Vilajet Bagdad aus die Araber des Nordostens gut genug kennen gelernt hat. Denn dieses Volk hat trotz aller Stämmevielheit und ihrer unseligen Cousequenzen, der Raublust, Blutrache und fi Vergl. Bd. XXIX, S. 294. überwiegenden Staatenlosigkeit, doch ein tiefsitzendes gemein sames Charakteristikum, die mannhafte Leidenschaft der Unabhängigkeit. Das ist freilich eine fast unbewußte, weil ursprünglich nationale Stimmung, nicht erworben im „sauren Dienst der Freiheit". Aber gesetzt, eine geniale Führerpersönlichkeit erstände noch einmal aus dem Schooße des vielstämmigcn Volkes, das doch übrigens auch schon staatliche Organismen und zwar besonders seit hundert Jah ren aufzuweisen hat: warum sollte es nicht zwar nicht ein Reich, aber ein Bund von Staatenbildungen werden können, die, ohne den der geistigen Befreiung feindlichen Druck des moslimischen Fanatismus, dem arabischen Typus in ver jüngter und so zu sagen moderner Gestaltung zu neuem Leben verhülfen? Bürgen Telal in Schammar und Sejjid Said in Oman nicht für die Berechtigung dieser Hoffnung? Werthvoll ist mir deshalb jedes noch so geringfügige Anzeichen dafür, daß in den Seelen der Menschen zwischen Akaba und Maskat und zwischen Aden und Kueit der edle Zug unabhängigen Stolzes noch lebt, und auch dieses Mal habe ich deren zu verzeichnen. Die Quellen, aus welchen ich hierbei schöpfe, sind einer der Pera-Correspondenten und ferner der, wie mir scheint, neue ^-Correspondent der für unsere Kenntniß des heutigen Orients unvergleichlich werthvollen „Augsburger Allgemeinen Zeitung", dieser letztere aus Dschedda und Hodeida; dann französische Consulatsberichte im LnUotin äs In Sooisks äo ksoKrapllio, karis; endlich englische Publicationen, wie Emil Schlagintweit sie jüngst in einem lesenswerthen Artikel „lieber die Uferstaaten des Persischen Golfs" in dieser Zeitschrift hat benutzen können. Ich beginne wieder an der Westküste, demjenigen Theile der Halbinsel, welcher am ehesten in die Mitleidenschaft der türkischen Geschicke gerathen könnte. Entsprechend der An sicht, die ich anderswo begründet habe, daß nämlich das tapfere Bergvolk der Asirinen, einst die treuesten Verbün deten der Wahabi, durch die vermeintliche türkische Eroberung des Jahres 1871 keineswegs so unterworfen sei, wie die osmanischen Siegesberichte — namentlich in der „Geschichte Jemens und Sanaas " des türkischen Obersten Achmed Reschid Bey — es glauben machen wollten, haben asirinische Kund gebungen im Laufe von 1876 stattgehabt, die von politischer Wachsamkeit der Stämme zwischen Mekka und Jemen zeu gen. So kamen im März zwei Asirinen-Häuptlinge zum Chedive Ismail, um Uber die Möglichkeit einer Verbindung mit ihm, also doch wohl gegen die Türken, zu verhandeln: begreiflich erfolglos bei dem gerade damals erklärten Ban kerott der ägyptischen Finanzen und den schlimmen Miß erfolgen in Habesch. „Ein schöner und stolzer Menschen schlag," sagt der Correspondent bei dieser Gelegenheit von den Asir, „keineswegs Heiden, wie aus ihrem Bekenntniß hervorgeht: Wir glauben an Gott, den einigen, und an den Tag des Gerichtes." — Man sieht, daß dem Corresponden- ten die charakteristische Doctrin der Wahabi, deren energischste und blutig erprobte Anhänger außerhalb des Nedsched eben die Asir im zweiten, dritten und vierten Decennium dieses Jahrhunderts waren, wenig geläufig ist.