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98 Eine Reise in Griechenland. einen sentimentalen Blick auf eines der jungen Mädchen, seine Braut. Doch Belle mußte seinem Pferde die Sporen geben, um die verlorene Zeit wieder einzubringen. Es ging die Berge im Norden des Budoros-Gebietes, worin Mandudi und Ha gia Anna liegen, hinauf durch einen schönen Bestand von Eichen und Tannen mit üppig wucherndem Unterholz, wo überall Granatbüsche mit ihren braunrothen Früchten und dunkelgrünen Blättern, Myrthen mit ihrem glän zenden Laube und Erdbeer bäume mit scharlachrothen Früchten dem Blicke sich zeigten. In den Berges hängen öffneten sich wilde Felsschluchten und von Pla tanen und hundertjährigen Eichen beschattete Thäler zogen sich gegen die Gipfel hin, während durch die Fichtenstämme von rechts her das dunkelblaue Meer schimmerte und die Vorge birge der Insel in einem leichten Dunst verschwam- men. Je höher man steigt, desto wilder und großarti ger wird die Natur. End lich überschreitet man eine kleine Schlucht, durch wel che eine Quelle in tausend Cascaden herabrieselt, und erreicht die Paßhöhe, welche nach drei Seiten, nach dem Aegäischen Meere, dem Golfe von Bolos und der Meerenge von Talanti (Euripos) einen jener um fassenden Ausblicke gewährt, die sich in Hellas so oft wiederholen, ohne daß man müde wird, sich an ihnen zu erfreuen und ohne daß cs dem Stifte oder dem Worte jemals gelänge, ihren ganzen Reiz und ihre ganze Mannigfaltigkeit zu be schreiben. Wie ein metal lener Spiegel erglänzte das Meer in der Hitze des Mittags, und jenseits der Meerenge heben sich im Westen die Vorgebirge an den Küsten von Lokris und Böotien heraus, überragt von den Ketten des Par- Weilen auf dem herrlichen Platze und trieb zur Fortsetzung des Marsches an. Die ärmlichen Hütten von Kokino-Milia blieben zur Linken. Fortdauernd behielt der Wald seine Schönheit bei; zahllose Vögel sangen in den Zweigen, alle übertönt von dem reinen Schlage der Nachtigall, und der weiche Moosteppich des Bodens war mit den buntesten Blu men übersäet. Nachtigallengesang begleitete den Reisenden diesen ganzen Tag Uber, so zahlreich nistet dort das Thier- chen, von welchem selbst ein Kani im Gebirge seinen Namen führt. Aber end lich wird der Wald doch lichter und macht verkrüp peltem Gesträuche Platz, die Bergs werden niedriger und die Landschaft von einer schier unerträglichen Einför migkeit. Ohne einer an dern menschlichen Nieder lassung, als hier und da einer Köhlerhütte zu begeg nen, ritten sie hügelauf, hügclab, verloren häufig den Pfad und fanden ihn nur mühselig wieder; die Sonne sank und die ermü deten Thiere wurden immer träger und schlaffer, als sie gerade zu rechter Zeit in der Abenddämmerung den Burghügel des alten Orevs (heute Drei) und das Meer vor sich erblickten. Bald zeigten sich auch Ackerfelder; aber der Weg blieb schlecht, und sie brauchten noch zwei Stunden, ehe sie den Strand von Orer erreich ten, wo sich eine Reihe neuer, zum Theil zwei stöckiger ziegelgedeckter Häu ser erhebt. Etwa zwanzig große Boote lagen an der hölzernen Landungsbrücke; in der Hauptstraße des noch in der Kindheit befindlichen Hafens und in den Kaffee häusern herrschte reges Treiben, weil eben das griechische Pvstdampsboot, welches monatlich sechs Mal auf seiner Fahrt zwi schen Athen und Volos dort anlegt, neue Zeitun gen aus der Hauptstadt ge bracht hatte. Frau von Mandudi. (Nach einer Photographie.) nes und Kithäron, die, ebenso wie Pelion, Ossa und der ferne Olymp im Norden, von bewegungslosen Wolken um lagert waren. Den Othrys in Thessalien, der heute die Grenze gegen das osmanische Reichsgebiet macht, wenn auch au seinen beiden Abhängen gleichmäßig die griechische Sprache erklingt, erschaute man von dort oben, und den Oeta, auf dessen Gipset Herakles sich einst dem Flammentode weihte, und zwischen beiden in der Tiefe am sumpfigen Meeresufer die Thermopylcn. Doch die glühende Sonnenhitze gestattete kein langes Ver Der nächste Morgen brachte dem Reisenden eine freudige Ueberraschung: der „Ajaccio", auf welchem er die Fahrt nach Athen gemacht hatte, lag auf der Rhede vor Anker. Seine Offiziere kamen an Land und waren auch ihrerseits über das unerwartete Zusammentreffen nicht wenig erstaunt. Das Schiff sollte Volos besuchen; sein Capitän lud Belle ein, ihn aus drei, vier Tage nach den nördlichen Sporaden zu begleiten, und versprach, ihn in Stylida, der Hafenstadt von Lamia, oder au den Thermvpylen wieder an das Land zu setzen. Er nahm den Vorschlag an und beschloß, seinen