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92 Schluß von Dr. Finsch's Forschungsreise nach Westsibirien. unser nächstes, Sadapai, lag vor uns. (Noch am selben Tage wurde ein Ostjaken-Dschum in der Nähe entdeckt und von dem Bewohner desselben, Sanda, nach langen Unter handlungen (3. August) 20 Ren zur Reise nach dem Meere gemiethet. Dieselbe sollte „von einer warmen Zeit zur an dern", also eine Nacht, dauern; die Reisenden verpflichteten sich, nur einen Tag am Meere zu verweilen und in der nächsten „kalten Zeit" wieder zurückzukehrcn.) Der Morgen des 4. August brachte kühles Wetter und neue empfindliche Verluste an Ren; auch der unseren zwei zählten unter den Opfern. Am Nachmittage waren die Vorbereitungen zur Abreise nach dem Meere beendet, und um 3 Uhr konnten wir, nur von zweien unserer Leute be gleitet, mit sechs Schlitten abfahren. Die ganze Herde folgte uns. Es gewährte schöne wcchselvolle Bilder, einen kleinen Wald von Geweihen, grunzend und hufeklappernd bald vor, bald hinter, bald neben uns her wandeln zu sehen, getrieben von einigen Hunden und dem Sohne des Ostjakeu Sanda in einer Troika. Unser Weg führte über Tundra längs Teichen und Seen, wie oben geschildert; aber wir hatten die elastischen Sumpf strecken und entsetzlichsten Weiden- und Birkendickichte dies mal nicht selbst zu durchwaten, sondern fuhren bequem im Schlitten, und das war eine sehr angenehme Abwechselung. Das Ren ist in der That das einzige für diese Gegend brauchbare Zugthier und der leichte zweikufige Schlitten ein vorzügliches Vehikel. An ihm ist kein Nagel, alle Theile bestehen aus Holz und sind zusammeugebunden, also das Ganze sehr elastisch und nachgebeud. Die Ren ziehen nur an einem Lederriemen, der zwischen den Beinen unter dem Bauche durchgeht und an einem ledernen Halsbande befestigt ist. Nur das zur Linken gehende Thier wird mittelst einer an dem Geweih befestigten Leine und eines langen, unten mit schecrartigem Eisen bewaffneten Stabes, der an der Spitze einen runden Knopf trägt, gelenkt. Die übrigen Zugthiere des Gespanns, meist aus drei bis vier Ren bestehend, sind mit ledernen Halshalstern untereinander verbunden. Diese ganze Einspannungsmcthode erscheint durchaus praktisch; weniger die der Hunde, welche wir hier kennen lernten. Die armen Thicre müssen nämlich an einem aus Hundeschwänzen gefertigten Gürtel ziehen, der vor den Hinterschcukelu ange legt wird und an welchem ein Zngstrang, zwischen den Hinter beinen durchgehend, befestigt ist. Wir haben als frühere Mitglieder des Thierschutzvereins überall den Eingeborenen die bei uns gebräuchliche Methode, Hunde einzuspanncn, empfohlen, und Goldmacher, ein hier in der Verbannung lebender Jude aus Odessa, der die schönsten Hunde besitzt, hat uns heilig gelobt, sie diesen Winter hier einzuführen. Und Goldmacher wird Wort halten, denn er ist ein Mann von Wort und sandte uns von seinem Fischereiplatze bereits zu verschiedenen Malen Fische für unsere Spiritusbehälter uud Bratpfauucu, was der Gemcindcältcste zwar ebenfalls versprach, aber doch nicht that. Sowohl Gestrüpp von Birken und Weiden, als Sümpfe und Moräste sind für Ren und Schlitten gerecht; überall gleitet der letztere sanft dahin, namentlich auf den schönen Moostcppichen und selbst sandige uud steinige Stellen bieten keine Hindernisse. Aber die Reu ermüden in der Sommer zeit sehr bald und müssen unablässig angctrieben werden. Die Thiere laufen dann mit tiefgescuktem Halse, weit geöff netem Maul und keuchen wie Jagdhunde in mitleiderregen der Weise, so daß wir oft weite Strecken zu Fuß gingen. Nachdem wir dieNadajaha passirt, machten wir gegen 7 Uhr Halt; denn Sanda erklärte, daß wir unser Ziel er reicht hätten und er überhaupt nicht weiter könne. Das war allerdings eine arge Enttäuschung für uns, denn von der erwarteten schönen Felsenküste, belebt mit allerlei echten Sce- thieren und einem großen wogenden Meerbusen, wie wir ihn uns vorgestellt, war keine Spur zu sehen. Aber so sehr wir auch dem Manne zürnten, wir mußten ihm später doch Recht geben. Wir befanden uns unfern des rechten Podarata-Ufcrs und traten eine Fußwandernng nach einem wohl 150 Fuß hohen Hügel an, von wo aus wir die ganze Gegend über blicken konnten. Bor uns nach Norden breitete sich eine weite Ebene voller kleiner Lachen, Teiche und Seen ans, die theilweise mit dem Horizont zu verschwimmen schien, an dem sich nur eine höhere hellleuchteude Düne, eine Sandwand des rechten hohen FlußuferS uud weiterhin zwei kleinere Hü gel abhoben. Letztere sollen den Ausfluß des Jensorjaha, eines der Podarata ähnlichen aber etwas größern Flusses, bezeichnen, die Sandwand die Mündung des Flusses. Der nebelhafte, wie ein größeres Wasser aussehende Streifen am Horizont ist der Karische Meerbusen, den wir schon am letzten Marschtage nach der Podarata erblickt hatten. Er wird zur Linken von einer niedrigen Bergkette begrenzt, die nach Süd west in die Vorberge des Ural zu verlaufeu scheint, zu dem sich der Fluß in vielen großen Schlinguugcn wendet. Vor dieser Berg- oder HUgelreihe liegt Sadapai, und da, wo wir uns befinden, führt die Straße der Renherden von dort nach der Schtschutschja. Die Sumpfebcne vor uns wird nicht von Eingeborenen benutzt, da sie aus so bodenlosen Morästen besteht, daß hier selbst keine Ren weiden können. Nur im Winter nehmen Samojeden zuweilen ihren Weg Uber dieselbe. Die Podarata verliert sich allmälig in den ungeheuren Mo rast, dieser ins Meer. So lauten wenigstens die Nachrichten des Ostjaken, welche wir angesichts der vor uns in Natur ausgebreitetcn Landkarte mühsam erfragten. Kaum zwei deutsche Meilen von dem sehnlichsten Ziele unserer Wünsche, dem Kara-Meerbusen, entfernt, können wir dasselbe nicht errei chen; in der That eine bittere Enttäuschung! Aber wir müs sen uns der Macht der Verhältnisse fügen und die Umkehr beschließen. Ohne ein Boot, und wegen Mangels an Holz nicht im Stande, ein Floß zu bauen, auf welches ich im Stillen immer gehofft hatte, ist es nicht möglich, den Fluß hiuabzugehcn, uud einer Fußwanderung gebieten der Mangel genügender Provisionen sowie in ernstester Weise die Unpas- sirbarkeit des Gebiets selbst Halt. Nicht einmal mit Nen — denn nur mit solchen und zwar herdenwcise und in Be gleitung von Eingeborenen mit ihren Dschums ist cs möglich, in diesen Gebieten größere Reisen zu unternehmen — wür den wir bis zu der dünenartigen Sandwand gekommen sein, Sanda erklärte dies für geradezu unmöglich, selbst wenn ich ihm hundert Rubel geben wollte. So mußten wir denn um kehren ! Zum Andenken an den nördlichst von uns erreichten Punkt, vermuthlich unter 68" nördl. Br., nahm ich einen kugelförmigen unten abgeschlifseucn, mit Löchern versehenen Stein mit, den mir der Ostjake schenkte. Er lag bei einem kleinen Götzenplatze und war selbst ein verehrtes Bild des Gottes Sisawei-pci, d. h. durchlöcherter Stein.