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Schluß von Dr. Finsch's Forschungsreise nach Westsibirien. 91 ten wir uns selbst zur Geniige von der schrecklichen Verhee rung überzeugen; wir zähllen etwa siebzig der schönsten Ren todt umherliegend. Die Weiber hatten inzwischen noch vor unserer Ankunst die Dschurns abgebrochen, um sie auf einem etwas enlferntcrn Platze wieder zu errichten, und dorthin folgten wir. Nachdem die Dschums wieder aufgebaut, was kaum eine halbe Stunde erforderte, ein Ren geschlachtet und roh und blutig von unseren Leuten und den Ostfalen verzehrt worden war, konnten die Unterhandlungen mit dem Herden besitzer stattfindcn. Das Resultat derselben, welche bis früh 2 Uhr währten, war endlich das, daß sich Dsäungiü ent schloß, nns neun Renthiere L 7 Rubel nebst drei Schlitten und Geschirre zu verkaufen. Der andere Tag bot uns ein neues gräßliches Bild der Verheerung; dreißig weitere statt liche Ren lagen verendet oder im Verenden um die Dschums. Einen bejammernswerthen Eindruck machen die jungen noch säugenden Thicre, welche die kranken und gefallenen Kühe grunzend umspringen und beschnuppern. Sic alle werden mit dem Lasso gefangen und todtgeschlagen, um das Fell, welches ungefähr 3 Rubel wcrth ist, zu retten, und wir wurden sehr gebeten, nns mit den Gewehren bei der Jagd auf Renkälber zu betheiligen. Alte gefallene Ren sind gänz lich werthlos. Ihr noch im Verhören begriffenes Fell taugt jetzt nichts, ebensowenig die Haut als solche , da sie jetzt im Sommer von den Stichen der Renbremse wie mit Schrot schüssen durchlöchert ist. Das Fleisch wird jetzt ebenfalls nicht angerührt, da die Eingeborenen das Ansteckende kennen. Bei dem ersten Erscheinen der Seuche (vor etwa zwanzig Jahren) war dies nicht der Fall, und damals starben sehr viele Ostjaken und Samojeden. Es wäre wohl eine Auf gabe der Regierung, durch ausgezeichnete Veterinärärzte diese schreckliche Seuche an Ort und Stelle gehörig studiren zu lassen. Ihre verderblichen Folgen sind bei dem häufigen Auftreten derselben (sic kommt fast jedes Jahr vor) unbe rechenbar und können möglicherweise zur völligen Verarmung der Nomadcnvölker Nordwestasiens führen. Das Ren Si biriens, schöner, größer, kräftiger und stattlicher als das lappländische, darf im Gegensatz zum letztern ein wirkliches Hausthier genannt werden. Nach meinen Erfahrungen in Lappland mar ich sehr überrascht, mit welcher Leichtigkeit hier die Herde durch wenige Hunde zusammengetriebcn, mit telst einer Leine gehalten wird, und wie sich fast ohne Wider stand die Zugthiere theils mit der Hand, theils mit dem Lasso herausfangen und einspannen lassen, wie ruhig sie am Schlit ten stehen. Unseren Ostjaken und Samojeden war es so ein rechter Festtag, unter einer Herde von etlichen Hundert Ren herum zuwählen und mit kundigem Auge und geübter Hand aus suchen zu können. Bald standen neun der besten anscheinend völlig gesunden dreijährigen Ren vor drei Schlitten, auf die unser Gepäck geladen war, und erleichtert konnten wir frischen Muthes den Wcitermarsch antretcn. Denn es galt so schnell als möglich aus der inficirten Gegend, die uns auf Schritt und Tritt die Verheerungen der Seuche zeigte, fortzukommcn. Das drohende Gespenst, Uber kurz oder lang selbst wieder die Bündel aufnehmen zu müssen, schwebte freilich noch wie ein Damoklesschwert über uns, denn wenige Stunden konn ten uns sämmtliche Zngthiere rauben. Wirklich verloren wir noch am Abend desselben Tages (31. Juli) ein Ren, und wir konnten zufrieden und dankbar dafür sein, das; wir, wie ich gleich vorausschicken will, auch nur drei Ren lebend nach der Schtschutschja mit zurückbrachten. Wir schritten immer in nordwestlicher Richtung vorwärts, so schnell als es bei dem schwierigen, mühsamen, oft erschöpfenden Wege eben gehen wollte. Von irgend einem gebahnten Pfade konnte ja überhaupt nicht die Rede sein, außer denen, welche die zahlreichen Lemminge und Eisfüchse für ihren Privat gebrauch getreten hatten. Die Tundrengebiete, welche wir in diesen Tagen und später kennen lernten, tragen im We sentlichen den gleichen Charakter und unterscheiden sich von denen Ostfinnmarkens hauptsächlich durch den Mangel an chaotisch aufgehäusten Geröllhaldcn. Die Tundra Lapplands ist in erster Linie aus Moos gebildet, hier herrscht die Zwerg birke vor. Sie bedeckt über Moosen, durch die der Fuß in den feuchten Untergrund cinsinkt, die weiten flachen Höhen- zügc sanfter Hügelketten, welche auf ihrem Rücken Gerölle aus ktciuen Steinen und Flechten tragen, oder an manchen Stellen dünenartige Sandkuppen bilden. In den Niederun gen findet sich meist Moor- und Sumpfgrund mit Zwerg weidendickichten, welche zu passiren viel mehr Schweiß und Anstrengung kostet als der Weg durch die Zwergbirken, und einem kleinern oder größern klaren im Sumpsgras dahin fließenden Bach; es sind dies die mühseligsten Stellen für den Wanderer, denn hier sind oft weite Strecken echten Sumpfes zu passiren. Die vielen kleineren und größeren meist mit hohen wcidenbegrünten Ufern umgebenen klaren Teiche und Seen geben der Einförmigkeit der fahlgelbgrünen oder gelbbräunlichcn Tundra mit ihrem tiefen Blau eine dem Auge wohlthuende Abwechselung, die durch die vor uns lie gende Gebirgsreihe des Ural noch erhöht wird. Er hebt sich in hübsch geformten Rücken und Kuppen malerisch ab, aber keiner unserer Begleiter weiß einen Namen. Nur die höchste nördlich liegende Kuppe wird uns samojedisch als Hanoweindscha, d. h. Falkenhorst, bezeichnet. Die Thierwelt dieses Gebietes ist äußerst spärlich, ja arm (an Vögeln Trauer- oder Eisenten, Eistaucher, Zwerg- und Bogen schnäbel-Strandläufer, Kampfhähne, Goldregenpfeifer, pfeil schwänzige und breitschwänzige Raubmöven, Gänse und Schwäne, Schneehühner, Schnee- und lappländische Ammern, Pieper, Leinfinken, Wanderfalken, rauhfüßige Bussarde, Sumpfohreulen und Schneeeulen; an Säugethieren Lemminge, Füchse und ein den Mäusen verwandtes kurzschwänziges Nagelhier, dem Füchse und Raubvögel eifrig nachstellten). Am Morgen des 1. August überschritten wir den kleinen Fluß Jens orjaha, den ersten nördlich fließenden, waren der Podarata also näher gerückt, und unsere Samojeden meinten, daß wir sie übermorgen erreichen würden, was frischen Muth gab. Wir passirten dann die kleinen Bäche resp. Flüsse Tojaha und Nadjaha und genossen von der Userhöhe des letztern aus einen weiten Fernblick. Vor uns lag sanft ansteigend eine weite Tundrenfläche, die links von einem höhcrn Gürtel mit helllenchtenden Sandufern begrenzt wird, dahinter erhebt sich in malerischen Formen der Ural, dessen zartes Blau hier und da von weißen Schnecfeldern gescheckt erscheint. Die Benennung „Ural" für dieses schöne Gebirge ist hier wenig bekannt; es wird allgemein als „große Steine" bezeichnet, denn so lautet die Uebersetzung von dem „Bolschoi Kamenei" der Russen, „Udschid Kamene" der Siranen, „Mark" oder „Arka-pei" der Samojeden und „Kä-u" der Ostjaken. Rechts erblickt man nur Niederung, Tundra mit Seen und Sümpfen, die am Horizont anschei nend mit einer großen Wasserfläche, wohl die Kara-Bay, verschwimmt. Die Hellen Sanduser bezeichnet Haiwai als die der Podarata, aber sie scheinen noch sehr weit entfernt, und wir werden sie morgen wohl erst spät erreichen. Eine auf der Tundrenhöhe aufwirbelnde Rauchsäule spornt zu neuem Eifer an: sie rührt von den vorangeeilten Unseren her und. zeigt »ns den Weg. Nach etwa zwei Stunden langten wir bei ihnen an. Das Lager ist am hohen Ufer rande eines schnellflicßenden klaren Flusses aufgeschlagen, ich frage hastig nach seinem Nanicn und „Podarata" lautet die Antwort. Das eine große Ziel war also glücklich erreicht; 12*