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86 Eine Reise in Griechenland. der 3/4 Stunden im Umfang messenden Ringmauern und unterhalb der höchsten Stelle des Stadtgebietes die für den Theaterbqu in den Boden gegrabene nach Osten geöffnete Höhlung. Ackerfelder und Weinberge — der weißliche Thonboden der Umgebung erzeugte einst den besten Wein in ganz Böotien — nehmen heute viel Raum innerhalb der Mauern ein und bei ihrer Bearbeitung kommen fortdauernd große Mengen alten Thongeschirres zu Tage, zuweilen auch Gräber, welche jene gesuchten und bewunderten Statuetten aus bemalter Terracotta enthalten. Dieselben sind 12 bis 15 Centimeter hoch, nach der Formung mit Daumen und Bossirholz verbessert, stellen meist Frauen dar, ganz bekleidet, den Fächer in der Hand und mit elegantem Kopfputze ver sehen, und sind von solcher Naturwahrheit, daß man sie für Porträts halten möchte. In Athen werden sie fast mit Gold ausgewogen. Dies hat ein emsiges Nachgraben zur Folge gehabt; auch zur Zeit von Belle's Besuch wühlten mehrere Männer den Boden eines Weinberges um, und ein Besitzer bot dem Fremden sein Feld behufs anzustellendcr Ausgra bungen an. Aber während man rohes, sehr altes Töpfer werk, das die Kosten des Nachgrabens nicht lohnt, in Menge findet, sind werthvolle Stücke nur selten, so daß Belle das Anerbieten ablehnte und nach kurzcr Umschau von der wenig erhabenen Burghöhe des einst wegen seiner Gastlichkeit und Wohnlichkeit gepriesenen Tanagra die Fortsetzung seiner Reise beschleunigte. Sie führte ihn am Asopus entlang, der zu dieser Jahreszeit nur einen schmalen Wasserfadcn enthält, nach dem Dorfe SykLminon, welches drei alte byzantinische Kirchen besitzt, und dann über wildes mit Ginster und Thy mian bedecktes Hügelland nach Norden. Der nächste Weg nach Challis war das nun freilich nicht, da er solchergestalt zwischen Tanagra und Chalkis einen spitzen Winkel machte, und die Folge war, daß ihn die Nacht lange vor seinem Ziele überraschte. Von einer höhern Kuppe aus konnte er noch die Enge des Enripus und in der Ferne die weißen Häuser seines Nachtquartiers, übergossen von den warmen Tinten des Sonnenunterganges, erschauen; dann brach die kurze Dämmerung herein, der gleich darauf die tiefe Finsterniß folgte. Es bedurfte noch eines langen Rittes am Meeres strande hin, der durch die wilden Schäferhunde und die Er innerung an dort vorgefallene Räubereien und Mordthatcn an Annehmlichkeit nicht gewann, ehe im Scheine des aus gehenden Mondes die steinerne Brücke vor ihnen lag, welche Euböa und specicll Chalkis mit dem Festlands verbindet. Am folgenden Morgen durchwanderte Belle die Stadt, welche wahrscheinlich den Phönikiern ihren Ursprung ver dankt und wegen ihrer trefflichen Lage ohne Unterbrechung bis heilte bewohnt worden ist, deshalb aber auch keine nennens- werthen Reste des Alterthums aufznwciscn hat. Sie zer fällt in zwei Theile: unmittelbar an der Meerenge auf nie driger Felshöhc die ziemlich verfallene Altstadt, ein venetia- nisches Castell, welches der antiken Akropolis entspricht, und nördlich davon die Neu- oder Vorstadt, welche an der Stelle der weiter ausgedehnten Unterstadt des Alterthums liegt und das wenige commcrcielle und industrielle Leben des Ortes in sich schließt. Hier ist auch der Hafen, der bei all seiner Tiefe und Bequemlichkeit gegen den Nordwest und die in der Meerenge häufigen Windstöße schlecht geschützt ist. Doch geht die Stadt, unter deren circa 6500 Einwohnern auch eine täglich sich verringernde Zahl von Mohammedanern und von Juden sich befindet, anscheinend einer bessern Zu kunft entgegen. Im Euripus nämlich, dessen Name die Franken (mit Anspielung auf die dortige Brücke) als Negro ponte auf die Insel Euböa übertrugen, liegt eine kleine Fels insel mit venetianischer Befestigung, 10 Meter von Euböa, 70 vom Festlande entfernt. Diese war durch eine feste Holzbrücke mit beiden Ufern verbunden, wodurch der Schiffs verkehr durch die Meerenge völlig gehemmt wurde. Neuer dings hat man mit großen Kosten die feste durch eine dreh bare Brücke ersetzt, infolge dessen sich die Zahl der einlanfendcn Barken, der Stadtbevölkerung und der Einnahmen etwas gehoben hat. Wöchentlich einmal vermittelt ein Dampfer der griechischen Compagnie den größern Verkehr mit der Außenwelt. Frühzeitig am selben Tage brach Belle nach dem Nor den der Insel auf. Der Weg führte anfangs am Meere hin, dann über die weite, von zahlreichen Hügeln unterbro chene Küstenebene und durch spärlichen Kiefern- und Fichten wald hinauf auf den Höhenzug, welcher das Delphi-Gebirge (im Alterthume Dirphys, 1745 Meter hoch) im Centrum der Insel mit dem nordwestlich davon gelegenen Kandili (einst Makiston geheißen und 1209 Meter hoch) verbindet. Es ist das die von der Natur selbst vorgczeichnete Berbindungs- straße zwischen dem Norden Euböas und der Ebene von Chalkis und darum seit den ältesten Zeiten bis heute in Ge brauch, so daß die Hufe der Saumthierc stellenweise den Fel sen ausgchöhlt und stufenartige Vertiefungen hervorgebracht haben. Der Pfad war schlecht, die Hitze drückend und die Anstrengung groß; aber wie verschwinden diese kleinen Leiden der Reise, wenn sich plötzlich von der Paßhöhe der Blick auf das schönste, von Geschichte und Sage verklärteste Meer die ser Erde öffnet! Man mag sich dem Archipel nahen, an welcher Stelle cs auch immer sei; der Augenblick, wo man nach längerer Landreise wieder diese göttliche Thalatta mit ihren graziösen Insel-Silhouetten, ihren Buchten und Vor gebirgen erblickt, gehört stets zu den unvergeßlichen der gan zen Reise. So auch hier, als der Pfad seine höchste Stelle erreicht hatte und die Fernsicht auf die nördlichen Sporaden, Skiathos, Skopelos, Chelidromia und die kleineren sich er schloß. Könnte man in solchen Fällen die Herrlichkeit ahnen, die vor Einem liegt, oder wüßte der Führer davon zu erzäh len, mau würde die doppelten Beschwerden nicht scheuen und der vorhandenen nicht achten; aber die Laudcskinder kümmern sich um solche Eindrücke wenig und ziehen ein schmutziges Kani im Thale der herrlichsten Aussicht weit vor. Nordwärts führt der steile Abstieg in eine enge Schlucht hinab, die von hohen, aber mit reichem Pslanzenwuchs be deckten Felswänden eingeschlosscn und von einem Bache (es ist der antike Budoros) durchströmt wird. Nahe der engsten Stelle derselben, wo ein Felsen den Durchgang fast versperrt, thronen auf steilem Berge die Trümmer einer fränkischen Burg, die mit ihren viereckigen Thürmen, Ringmanern und Cisternen auf der Insel viele ihres Gleichen zählt. Ursprüng lich von den Feudalherren seit dem dreizehnten Jahrhnndert zu denselben Zwecken wechselseitiger Fehde und steter Wege- lagcrei gegründet, wie im Abendlande, dienten sie in vcne- tianischcr Zeit zum Schutze der Straßen und des Handels und nebenbei dazu, die Griechen im Zaume zu halten. Ei» in Chalkis residirender Capitän hatte damals den Oberbefehl über ihre gesammten Besatzungen. Mit Sonnenuntergang erreichte der Reisende das schön gelegene Dorf Achmed-Aga, wo er bei der Wittwe des dort seit mehreren Jahrzehnten ansässig gewesenen Englän ders Noel abstieg. Angezogen durch die Schönheit des Tha les, hatte sich derselbe dort ein mcilenweites Besitzthum ge kauft und sein Leben darauf verwendet, dasselbe zu heben und die Einwohner von Achmed-Aga und von dem nahen Drisi praktisch zu tüchtigen Landleuten und Menschen heranzuzie- hen. Als er vor wenigen Jahren starb, mußte er überzeugt sein, daß seine Bestrebungen an der Faulheit und Unwissen heit der Bauern ebenso wie an dem Widerstande der ortho doxen Geistlichkeit und des Staates gescheitert seien. Der