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Estnische Märchen in deutscher Übersetzung. 63 kaltem und erquickendem Wasser, aus welchem die Menschen sich jederzeit einen stärkenden Trunk holen konnten. Am hohen Ufer des Sees wuchsen grüne Eichen- und Linden wälder, in deren Schatten die schönsten Blumen blühten, während in den Wipfeln der Bäume Morgens und Abends Vogelgesang ertönte, so daß eitel Wonne nnd Zauber das Menschenherz erfüllen mußte. Solch' ein glücklich Loos hatte Altvaters Wille seinen Kindern bereitet. Aber dies Glück war nicht von langer Dauer, denn die Menschen wurden übermüthig, thaten was ihr böses Herz ihnen ein gab und wurden endlich so verderbt, daß Altvater länger kein Wohlgefallen an ihnen haben konnte; die Ohren sausten ihm, da er immerfort von ihrer Bosheit hören mußte. Da sprach Altvater eines Tags: „Ich will meine entarteten Kinder für ihre Rücksichtslosigkeit züchtigen und zwar da durch, daß ich das erquickende Wasser mit sammt dem See ihnen entziehe, vielleicht daß die Qual des Durstes sie bes sert und allmälig auf den rechten Weg zurückführt." Und siehe! eines Tages stieg im Süden eine schwarze drohende Gewitterwolke ans, und zog näher und näher, bis sie über dem See stand, wo sie gleichsam ausruhte und ihren Rand säulenartig zum See hinabstrcckte. Plötzlich begann das Wasser des Sees zu zischen und zu steigen und sich so lange aufzublähen, bis es die Wolkensäule berührend, mit ihr sich vereinigte, und dergestalt verschwand in wenig Augenblicken alles Wasser aus dem See bis auf den letzten Tropfen. Die schwarze Gewitterwolke schwebte mit ihrer Ladung weiter und entschwand vor Abend den Blicken der Zuschauer. Das vormalige Becken des Sees war leer und es war nur sumpfiger Schlamm für Frösche zurückgeblieben; aber auch diesen trockneten nach einigen Tagen die Sonnenstrahlen und der Wind aus. Jetzt erhob sich großes Geschrei und Weh klagen unter den Leuten: der Durst quälte sie, weil sie nir gends mehr ein anderes Trinkwasser fanden, als von dem Regen in Vertiefungen des Bodens sich ansammeln ließ. Allmälig füllten zwar Regenschauer und das Schneeschmel zen des Frühlings den früher» Raum des Emnujäw wieder bis zum Rande, aber es war weiches Pfützenwasser, was weder den Durst hinlänglich stillte noch den Körper zu er quicken vermochte. Die Leute legten dem See nun zum Schimpf den Namen Wirthsjäw (Pfützensee) bei und die ser Name ist ihm auch bis auf den heutigen Tag geblieben. Die schönen hohen Ufer mit den grünen Laubholzrandungen und den blühenden Blumen sind aus der Umgebung des Sees längst verschwunden; an ihrer Stelle bildeten sich Mo räste, in denen nicht viel Anderes wächst, als einige kränk liche Kiefern. Als späterhin des Durstes Pein die frevelnden Men schen etwas gebessert hatte und ihre Klagen und Bitten mit jedem Tage wehevoller zu Altvaters Ohr cmporstiegen, erweichte es sein Herz und er erbarmte sich ihrer wiederum. Gleichwohl wurde ihnen der frühere See nicht wieder zurück gegeben, sondern Altvater ließ überall schmale unterirdische Rinnsale entstehen, goß das vormalige Wasser des Emnu jäw hinein und befahl zugleich dem Wasser so zu fließen, daß es hier und da aus dem Boden heraussprudelt, damit die Meuschen ihren Durst löschen könnten. Damit aber die unterirdischen Wasseradern im Winter nicht zu kalt und im Sommer nicht zu heiß würden, ordnete Altvaters Weisheit an, daß im Frühling ein Kaltstein in die Quelle gelegt werde, der im Herbst herausgenommen und zum Winter mit einem Wärmestein vertauscht wird: wodurch bewirkt wird, daß die Quelle niemals gefrieren könne, wie sonst Bäche, Flüsse und Seen sich mit Eis bedecken. * * * Auch die Esten haben die Vorstellung, daß es „Mond- leutc" giebt; nur ist es bei ihnen kein Mann, sondern ein unschuldiges Mädchen, das seiner Reinheit wegen von der Erde aufgehoben wurde. Wie das geschah, das erzählt die folgende Sage (S. 164 bis 166). Das Mädchen von Waskjalasild. Vor Zeiten ging einmal an einem freundlichen stillen Sommerabcnd ein frommes Mädchen sich in einem Bache unweit Waskjalasild zu baden, um die von der Hitze des Tages ermatteten Glieder zu stärken. Der Himmel war klar, die Luft wehte lind und aus dem nahen Erlengebüsch ertönte die Nachtigall Der Mond stieg am Horizonte auf und blickte liebreich auf des Mädchens Kopfband, ihr hell gelbes Haar und ihre rothen Wangen. Der Jungfrau Herz war unschuldig, keusch und rein wie Quellwasser, das durchsichtig ist bis auf den Grund. Plötzlich fühlte sie in ihrem fröhlichen Herzen ein unbekanntes Sehnen sich regen, so daß sie ihren Blick nicht mehr vom Antlitz des Mondes wegwenden konnte. Weil sie nun so fromm, keusch und unschuldig war, so gewann der Mond sie lieb, und nahm sich vor, ihr die geheime Sehnsucht und das Verlangen ihres Herzens zu stillen. Aber die fromme Maid trug nur den einen Wunsch im Herzen, den sie nicht laut werden zu lassen wagte: aus dieser Welt zu scheiden und am hohen Himmel ewig bei dem Monde zu leben. Der Mond errieth auch die unausgesprochenen Gedanken ihres Herzens. Die Luft des lieblichen Abends war wiederum mild und still, die Nachtigal flötete im Erlengebüsch durch die Nacht, der Mond schaute in den Grund des Baches von Waskjalasild hinab, aber nicht mehr einsam wie vorher; der Jungfrau liebes Gesichtchen schante mit ihm in den Bach durch die Wellen hindurch in die Tiefe und blieb von der Zeit ab bis auf den heutigen Tag nur neben dem Mond sichtbar. Doch am hohen Firmament zu wohnen hat das Mägdlein jetzt ihre Freude und Genüge und hegt den Wunsch, daß auch andere Mädchen mit ihr dieses Glückes theilhaftig werden könnten. Freundlich blickt deshalb ihr Auge in mondheller Nacht von oben auf die Erde herab und ladet schmeichelnd ihre staubgcborenen Schwestern zu sich zu Gaste. Da aber nicht eine von ihnen so fromm, keusch und unschul dig ist, wie sie, so kann auch keine zu ihr hinauf in den Mond kommen. Das Mondmägdelcin wendet darum von Zeit zu Zeit ihre Augen trauernd ab und bedeckt ihr Ant litz mit einem schwarzen Tuche. Gleichwohl giebt sic des wegen die Hoffnung nicht auf, vielmehr hofft sic immcr noch, cs werde sich künftig einmal unter ihren irdischen Schwe stern eine finden, die so fromm, keusch und unschuldig ist, daß der Moüd sie zu sich rufen könne, um des glückseligen Lebens theilhaftig zu werden. Darum wendet die Mond jungfrau von Zeit zu Zeit mit wachsender Hoffnung ihr Auge zur Erde nieder, mit freundlichen: Lächeln und un verhülltem Antlitz, wie an dem seligen Abend, wo sic zum ersten Male vom hohen Himmel herab in den Bach von Waskjalasild Himmler schaute. Aber auch die besten und verständigsten der staubgeborenen Mädchen sind nicht charakter fest, und weichen, ehe man sichs versieht, vom rechten Pfade ab, und keine von ihnen ist so fromm, keusch und unschul dig, daß sie des Mondes Gefährtin werden könnte. Wenn das fromme Mondmädchen dessen inne wird, so bemächtigt sich ihrer der Unmuth von Neuem und sic verhüllt ihr Ge sicht abermals mit dem schwarzen Trauertuche. * -i- * Es darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß die Esten auch noch eine andere Sage in Betreff der „Mond-