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Estnische Märchen in deutscher Uebersetzung. Unter dem Volk der Esten giebt es viel Märchen und Sagen. An den langen nordischen Winterabenden sitzen Jung und Alt gern bei gemeinsamer Arbeit zusammen und lauschen den Erzählungen und Gesängen einer alten Frau oder eines alten Mannes. Wenig davon ist ins große Publikum gekommen. Eine Sammlung estnischer Märchen und Sagen veranstaltete in Folge einer Aufforderung von Seiten der finnischen Literaturgcsellschaft in Hel- singfors der damalige Arzt in Perm, Dr. Fr. Kreuz- waldt, der verdiente Herausgeber des Kolewipocg. Die Kreuzwaldt'sche Sammlung wurde im Jahre 1866 unter dem Titel „Lssts rvalrra snnsmuistsrsä fnttnä" von der finnischen Literaturgesellschaft veröffentlicht; sie um faßt auf 368 Seiten 43 größere und 18 kleinere Stücke. Mit Bewilligung der Helfingforser Gesellschaft und des HerrnDr. Kreuzwaldt hat nun Herr Ferdinand Löwe in Stuttgart die Märchen übersetzt. Die erste Hälfte der Uebersetzung erschien bereits 1869 ^), (Halle, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 366 S-, 8°); die zweite Hälfte erschien erst jetzt in Dorpat bei E. Mattieß (175 S., 8», 1881). Die deutsche Uebersetzung Lowe's liest sich leicht und angenehm; F. Löwe, auch sonst als Ucbersetzer russischer und englischer Bücher wohlbekannt, hat sich jedenfalls ein Verdienst erworben mit der Veröffentlichnng seiner Uebcr- tragungen. Erst dadurch hat er dem gebildeten Publikum cs ermöglicht, einen Einblick in das innere Leben der Esten zu thun — einen Einblick, der bisher verschlossen war, so lange die Märchen nur im Estnischen vorlagen. Es giebt freilich sogar einige kleine Sammlungen estnischer Märchen von Ruß rum, Hurt n. s. w. Die erste größere Zu sammenstellung und Uebersetzung wird erst jetzt durch Kreuzwaldt und Löwe geboten. Man darf nur uicht in den estnischen Märchen eine ganz besondere eigenthümlichc und eigenartige Märchenwelt er warten. Wie viel des hier Dargebotencn spccifisch Estnisch ist, ist sehr schwierig zu bestimmen. Unzweifelhaft ist es, daß wir es hier mit dem Einflüsse der v ers chicd en ste n Zeiten und Völker zu thun haben. Die Esten haben wie viele andere Völker ihre Märchcnstoffe von anderen Völkern entlehnt. Wir finden in einzelnen Märchen Züge, welche unverkennbar ans lettische und littauische Elemente Hinweisen; einzelne Märchen sind gleichen Inhaltes, wie deutsche und schwedische; wieder andere Märchen sind unzweifelhaft russischen Ursprungs. Wie sollte cs auch anders sein ? Seit Jahrhunderten leben Esten undLetten dicht neben einander unter steter nnd vielfacher Berührung; ebenso leben seit langer Zeit Schweden mitten unter den Esten. Die Esten hatten in früherer Zeit als schwe dische, später als russische Soldaten während ihres Kriegslebens vielfach Gelegenheit fremde Märchen zn hören, warum sollten sie anziehende Erzählungen nach ihrer Heim kehr am häuslichen Herde nicht wiederholen? Am wenigsten dürfen wir uns wundern deutsche Märchen unter den Esten zu finden. In Folge der vielfachen gerade von Sei ten der Deutschen ansgegangenen Kulturbestrebungcn, in Folge der vielfachen Uebersetzungen aus dem Deutschen r) Estnische Märchen. Ausgezeichnet von Fr.Kreuzwaldt. ins Estnische; oft wohl auch aus der Kinderstube der deut schen Familien in Stadt und Land ist so manches deutsche Hausmärchen übergegangen in das estnische Volk und gilt heute als estnisches. In der zweitenHälftederKreuzwaldt'schenSamm lung findet sich ein Märchen unter dem Titel „ Die schnell - füßige Königstochter", welches dem Grimm'schen „Sechse kommen dnrch die ganze Welt" entspricht. Das be kannte Märchen „Vom Fischer und seiner Frau" erscheint in estnischem Gewände als „Der zaubermächtigeKrcbs und das unersättliche Weib" (Krcuzwald-Löwe S.81 bis 88); aus dem Aschenbrödel oder Aschenputtel ist eine estnische Aschen-Trine geworden. Die sieben Schwaben haben sich insiebenSchneider verwandelt: „ Wiesiebcn Schneider in den Türkenkrieg zogen" (S. 95 bis 106); sie haben mit ihrer Nationalität nnd ihrem Gewerbe auch ihre Namen gewechselt. „Der Erste der durch Ferd. Löwe gewählte Hauptmann, der die scharfe Spitze der Lanze trägt, wurde Nasenmann genannt, weil seine Nase den Anderen die Wege zeigen sollte. Die fünf folgenden erhiel ten die Namen: Einkraftmann, Zweikraftmann, Dreikraftmann, Vierkraftmann und Fünfkraft mann, was freilich nicht bedeuten sollte, daß Einer von ihnen die Kraft von drei oder vier Männern gehabt hätte, sondern nur anzeigen, in welcher Reihenfolge sie marschiren mußten, damit ja keine Irrung entstehen könnte. Der sie bente wurde Schwanzmann genannt, weil das Hintere Ende des Lanzenschaftes auf seiner Schulter lag." Im klebrigen bestehen die estnischen Schneiderlcin dieselben Aben teuer wie die braven Schwaben. Wir geben als Probe das erste Märchen der zweiten Hälfte (S. 1 bis 4) hier wieder. Bäumling und Borkling. Einem geizigen Wirthe machte es unaufhörlich Aerger und Kummer, daß Knechte und Mägde uicht bei ihm aus hielten. Obwohl er nicht mehr Arbeit von ihnen verlangte als andere Wirthe, so fand doch der Unterschied statt, daß er seinen Dienstleuten uicht so viel zu essen gab, daß sie satt werden konnten. Hatte einer das Hnndeleben ein viertel oder oder ein halbes Jahr ertragen, so zwang ihn der Hun ger, wieder davon zu laufen; und als es endlich in der Runde umher bekannt geworden war, warum das Gesinde nicht blieb, da wurde es dem knauserigen Wirthe ganz un möglich noch Bedienung zu bekommen. Weit von Allcn- tackenr) lebte ein berühmter Weiser, zu dem eilte der Wirth sich Rath zu erholen, brachte ihm einen Sack voll Geld und andere Geschenke und fragte bei ihm an: ob es nicht möglich sei, Knecht und Magd zu finden, die sich mit weniger Nahrung begnügten und den Wirth nicht katz und kahl fräßen. Der Weise erwiderte: „Möglich ist das Ding wohl, allein es geht über meine Kraft, da mußt Du zum alten Wirthe?) gehen, der Dir allein hel fen kann." Darauf gab er weitere Anleitung, wie der Der nördlich vom Peipus und westlich vor der Narowo gelegene Theil des jetzigen Gouv. Estland. ?) Der alte Wirth oder der alte Bursche ist der Böse oder der Teufel.