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60 Merw und seine Bewohner. 2. Merw und seine Bewohner. D. Ueber dieses Thema bringt der „Russ. Jnval." im Wesentlichen nach den Berichten des englischen Zeitungs korrespondenten O'Donnovan, welcher einige Zeit als Ge fangener in der Oase zugebracht hat, in einem längern Ar tikel folgende Angaben: Als nach dem Tode Nadir-Schah's die persische Macht in Verfall gerieth, wandten sich die Chiwa unterthänigen Nomaden zur Erlangung besserer Weideplätze zum großen Theile nach Süden; die heutigen Merw-Tekes ließen sich um Sarachs, am Flusse von Meschhed, andere Turk menenstämme längs des Murghab nieder, bis hinab zur Grenze von Afghanistan bei Pendshede; das waren die Salori- und Saraki-Turkmeuen. Die jetzige Oase Merw gehörte den Saraki. Die Merw-Tekes verdrängten sie von dort und nöthigten sie schließlich nach manchen Zwischenfällen sich weiter südwärts am Murghab anzu siedeln, ihre frühere Stadt Porsa Kala ging in den Besitz der Tekes über, und liegt, von diesen zerstört, noch heute in Trümmern. Die Saraken sind jetzt unabhängig von den Tekes und in steter Feindschaft mit denselben, soweit nicht einzelne mit jenen vermischt wohnen und, für die Bewässerung der Fel der von ihnen abhängig, wenigstens äußerlich gute Bezie hungen unterhalten. Die oberhalb am Murghab wohnenden Saraken machen aus ihrer Feindschaft gegen Merw kein Hehl. Die zwischen Merw und den Saraken wohnenden Saloreu sind aber von den Merw-Tekes unbedingt ab hängig. Letztere selbst zerfallen in zwei große Stämme, die Tochtamyschen und die Otamyschen; erstere leben in dem Gebiete östlich des Murghab, letztere westlich dieses Flusses. An der Spitze jedes Stammes steht ein besonderer Chan, bei den Tochtamyschen Baba-Chan, Sohn des unter den Turkmenen berühmten Kuschid-Chan, der vor 22 Jah ren den Persern eine große Niederlage beibrachte, und bei den Otamyschen Amaniaz-Chan. Die Tochtamyschen bean spruchen den Vorrang sowohl der Zahl nach als wegen der Herkunft ihres Chans. Jeder Stamm theilt sich wieder in zwei Zweige und diese in zusammen 24 kleinere Gruppen. Aeußerlich kann nur das erfahrene Auge des Eingeborenen Unterschiede zwischen den Männern verschiedener Herkunft erkennen. An der Spitze jeder der 24 Gruppen steht ein Aeltester, der Ketchoda, eine Art Lokal-Patriarch. Die 24 Ketchoden unter Vorsitz der beiden Chane, Baba-Chan und Amaniaz-Chan, sowie unter Zuziehung der Gcburts- ältesten („der Graubärtigen") bilden die Mcdschlis oder das Parlament von Merw. Die Sitzungen dieser Ver sammlung finden öffentlich unter freiem Himmel statt; die Mitglieder sitzen mit untergeschlagenen Beinen auf dem Erdboden, im Kreise um sie her steht die Volksmenge und wird auch bei den wichtigsten Berathungen von den Ver handlungen nicht fern gehalten. Die Beschlüsse dieser Ver sammlung haben Gesetzeskraft. Nach Feststellung eines Beschlusses durch die Medschlis treffen die beiden Chane mit den wichtigsten Mitgliedern des Rathes alsbald die Anord nungen zur Ausführung desselben, welche den „ S ar dar s" obliegt. Die Bezeichnung Sardar wird jedem Turkmenen bei gelegt, der Befähigung zur Führung im Felde bewiesen hat; zu diesen gehört z. B. auch der Vertheidiger von Gök-Tepe, der vielgenannte Peterburgu Tykma SardarH. Leute, die i) Dr. Heyfelder's Tekma-Syrdar (s. oben). sich bloß durch Tapferkeit auszeichnen, erhalten die Benennung „Bagadur" oder abgekürzt „Batur«. Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in der Steppe besteht in Merw eine besondere berittene Polizeiwache, die während O'Donnovan's Gefangenschaft und nach dessen Rathschlägen wesentlich vervollkommnet wurde. Aus den verschiedenen Orten sind 1000 Familien nach Merw übergesiedelt, die ihre Kibitken an einem besonders dazu bestimmten Theile der Stadt aufgeschlagen haben, und ver pflichtet sind, auf die erste Anforderung des obersten Polizei chefs, des „Jazuelbaschi«, tausend Reiter aufzustellen. So bald die Nachricht von einem räuberischen Einfalle eingeht, wird diese Wache zur Verfolgung aufgeboten, und wenn sie die Plünderer ergreift, erhält sie eine Belohnung aus den Mitteln der Schuldigen. Einen bestimmten Sold aber be kommen diese Wächter nicht, auch fehlen zu dessen Bezah lung die Mittel, da es in Merw in Ermangelung aller Abgaben einen Centralfond zur Befriedigung der öffent lichen Bedürfnisse nicht giebt. Die Verwaltung von Merw entbehrt überhaupt jeder bestimmten Form. Streitigkeiten zwischen Privatper sonen werden z. B. durch Schlägereien entschieden, die nicht selten mit Todtschlag enden, der aber in diesem Falle nicht mit Strafe belegt wird. Nur Streitigkeiten über Hab und Gut oder beim Kauf und Verkauf, kommen zur Entschei dung des betreffenden Chans, der, wenn er es für nöthig findet, gegen die Prvzessirenden sich des Stockes bedient. Ein Trieb nach Gesetzmäßigkeit ist unter den Tekes nicht zu finden; auch die nach O'Donnovan's Plan organisirte Poli zeiwache wird deshalb nicht lange Bestand haben, denn die öffentliche Meinung in Merw steht der Freiheit räuberischer Einfälle theilnehmend gegenüber. Die Truppen der Merw-Tekes, wenn man da über haupt von Truppen reden kann, bestehen aus dem Aufgebot aller physisch kampftüchtigen Leute, von denen man annimmt, daß sie die Handhabung der Waffe von Hause aus kennen. Höhere Führer oder niedere militärische Befehlshaber giebt es nicht, und der ganzen Masse Bewaffneter fehlt jedes innere geistige Band. Noch dazu geht nach O'Donnovan den Turkmenen jede Vorstellung ab von der Heiligkeit der Pflicht oder von der Ergebenheit an eine Sache oder einen Führer; sie sind von Natur hinterlistig und im höchsten Grade treulos. Auch aus ihre Befestigungen können die Merw- Tekes nicht stolz sein. Ihre Feste, das vor etwa 20 Jah ren zum Schutz gegen die Perser erbaute Fort Chan-Kala, entspricht durchaus nicht dem, was man unter einer Festung versteht. Der Erdwall ist ohne jede Sachkenntniß angeschüt tet, so daß er bei jedem Regen ausgewaschen wird und zu- sammcnsällt; fast ohne jede Brechung der Linien geführt, vereitelt er jede Möglichkeit bestreichenden Feuers gegen den Angreifer. Auf der obern Fläche des Walles, dessen Bö schungen ungemein steil sind, liegt eine Brustwehr von Lehm, die auch stete Ausbesserung erfordert. Die Bewaffnung mit alten, vor 20 Jahren den Persern abgenommenen, viel fach schadhaften Geschützen, deren Rohre neben den morschen Laffctten an der Erde liegen, entspricht dem Zustande der Befestigung. An Kricgsvorrüthen und Munition ist buch stäblich nichts vorhanden. Dies beunruhigte jedoch die Tekes nicht. Auf O'Donnovan's Frage wegen diefer seltsamen Erscheinung zu einer Zeit, wo sie auf den Angriff der Rus sen gefaßt sein müßten, erwiderten sie, wenn es nöthig sei, fänden sich auf dem Bazar Leute genug, die Pulver zu machen verständen, und Geschosse fände man hinlänglich, wenn man da nachgrübe, wohin die Perser während ihres Angriffs meist ihre Schüsse gerichtet gehabt hätten.