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Auch die Reimchrouik berichtet von den Kämpfen mit den Semgallen, schließlich von der Verwüstung ihres Landes und ihrer Vertreibung. An Personennamen der Semgallen werden genannt: Vesters, Nameise und Schabe. In den Urkunden des 13. Jahrhunderts ist von den Grenzen der Diöcese Semgallen die Rede: sie reichte vom jetzigen Dob len an Mitau vorbei bis zur Düna nach Kokenhusen; wieweit nach Süden, ist nicht zu ermitteln, wahrscheinlich über die jetzige kurländisch - littauische Grenze hinaus. Innerhalb dieses Terrains wohnten nach Heinrich auf dem linken Dünaufer im heutigen Oberland die Selen (Selones); ihre Burg Selonium ist das heutige Sel- burg an der Düna. Ueber die Nationalität der Semgal len und über ihre Sprache ist nichts Sicheres bekannt. Von den überlieferten Personennamen sowie einigen (44) Orts namen der Urkunden können nur wenige, etwa der sechste Theil, aus dem Lettischen erklärt werden. Die lettisch-lit- tauische Nationalität der alten Semgallen ist keineswegs fest begründet; es sei daran erinnert, daß man Semgallen mit dem finnischen Same oder Suomi zusammengestellt hat. 7. Die Litt au er werden sowohl bei Heinrich als in der Reimchronik genannt; über ihre Wohnsitze, deren nördliche Grenze der heutigen Südgrcnze Kurlands gleich kommt, und ihre Hingehörigkeit zur letto - slavischen Bölker- familie besteht kein Zweifel. Was ergiebt sich aus dem bisher Mitgctheilten? Aus den einheimischen Quellen bis zum 13. Jahrhundert geht her vor, daß die das Ostbalticum bewohnenden Völker im 13. Jahrhundert nicht germanischen Stammes waren, vielmehr wohnten im heutigen Estland nur Esten; im heutigen Livland Esten, Liven, Wenden und Letten; im heu tigen Kurland aber Kuren, Liven, Semgallen und Selen; in den Gouv. Kowno und Wilna Litt au er. Das von Letten bewohnte Gebiet war äußerst klein; es um faßte nur eineu kleinen Theil des heutigen Livlands. In Kurland gab es keine Letten; von einer einheimischen lettischen Urbevölkerung Kurlands kann gar keine Rede sein. Wie sind die Letten nach Kurland gekommen? Warum spricht die heutige Landbevölkerung Kurlands Lettisch und nicht Kurisch oder Semgallisch? Man hat eine Zeitlang diese Fragen für ganz Über flüssig gehalten; man hat in der Anwesenheit der lettischen Sprache in Kurland nichts Ausfallendes gefunden, weil man mit Watson einfach die Kuren, die Semgallen und die Selen zum lettischen Stamme rechnete. Dann wäre freilich die Existenz des Lettischen in Kurland nicht zu verwundern. Aber Watson hat sich geirrt; die Kuren gehörten entschieden der finnischen Bölkerfamilie an; die Hingehörigkeit der alten Semgallen ist zweifelhaft. Gesetzt nun, die alten Semgallen gehörten dem lettisch-littauischen Stamme an, sie seien nicht aus ihrem Gebiet gedrängt und vertilgt worden, sondern sie seien geblieben — wie kommt es, daß heute gerade in ihrem ehemaligen Gebiet reines Schriftlettisch gesprochen wird und nicht etwa Sem- gallisch? Zur Erklärung dieser Thatsachen benutzt Döring die Annahme einer Colonisation des verödeten Sem gallen durch Letten aus dem ursprünglich lettischen Gebiet Tolowa. Die historischen Urkunden melden von einer Verödung Semgallens und einer Vertreibung resp. Vertilgung der Einwohner. Bon einer Einwanderung der Letten in Masse wird nirgends berichtet, es bleibt nur die Annahme einer Kolonisation im Lande der Semgallen und einer langsam, aber sicher vorrückenden Lettisirung der k urischen (livisch-finnischen) UreinwohnerKu r- lands übrig. Eine von lettischen Kolonisten in Semgallen ausgehende Lettisirung der Kuren ist die Ursache der Thatsache, daß die jetzige kurische Landbevölkerung lettisch redet. Der ta- mis ch e Dialekt in Westkurland, welcher sich durch reichliche Beimischung livischer Eigenthümlichkeiten auszeichnet, ist heute der sichere Beweis dafür, das die tamisch Redenden keine reine Letten, sondern lettisirte Kuren, d.h. Finnen sind. Der Proceß der Lettisirung schreitet auch heute noch vor; die Zahl der im Norden Kurlands sitzenden Liven nimmt allmälig ab — durch die Lettisirung der Liven. Mit Recht weist der Verfasser auf die analoge Lettisi rung der Liven im südlichen und westlichen Livland. Als Beweis der Lettisirung der Liven dient der heute noch exi- stirende letto-livische Dialekt an der Westküste Livlands von Riga bis zur Salis-Mündung. Döring drückt die Gesammtresultate seiner Erörterung etwa folgendermaßen aus: Nur der kleinste Theil, etwa ein Sechstel, aller heute lettisch redenden Bewohner Kur lands, nämlich die Oberländer, können als direkte Nach kommen von Ureinwohnern gelten, welche den Letten stamm verwandt waren, insofern die oberländischen Letten von den alten Selen herstammcn. Beinahe die Hälstc aller lettisch redenden Bewohner Kurlands besteht aus lettischen Kuren, die zum Theil mit echten Letten ge mischt sind. Der übrige Theil, also etwa ein Drittel, ist die Nachkommenschaft von echten Letten, welche seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts aus Livland nach Kurland übergesiedelt sind — als Kolonisten. Das Hauptresultat der Untersuchungen Döring' s ist demnach die Behauptung, daß der größte Theil der heutigen Letten in Kurland keine reinen Letten, sondern lettisirte Finnen (Kuren) sind. Es findet dies sein Analogon darin, daß ein großer Theil der Letten Livlands in gleicher Weise keine reinen Letten, sondern gleichfalls lettisirte Finnen (oder Liven) sind. Im Gegensatz zu der estnischen Bevölkerung in Estland und in Nord- Livland, welche, so weit jetzt bekannt ist, als rein estnisch gelten muß, muß man von der lettischen Bevölkerung des Baltieum sagen, daß sie entschieden gemischt und zwar stark gemischt mit finnischen Elementen ist. Die Letti sirung der Liven in Livland und der Kuren in Kur land ist in historischer Zeit vor sich gegangen und ist eine höchst interessante ethnographische Thatsache. Unter deutscher, polnischer, schwedischer undrussischer Oberhoheit, wobei alle Regierungen mehr oder weniger be strebt gewesen sind, ihrer eigenen, d. h. der Reichssprache, Ein gang und Verbreitung zu schaffen, wird ganz allmälig eine Sprache, die livisch-kurische, von einer andern, der lettischen, verdrängt, welche doch keineswegs daranf Anspruch machen kann, eine Kultursprache zu sein. Die Thatsache, daß die Letten gemischt sind, sowohl in Kurland wie in Livland, steht heute fest; das muß deshalb zur Vorsicht aufsordern bei kraniologischen und anthropologischen Studien und all zu schnelle Verallgemei nerungen, welche auf Einzelfälle sich gründen, verdächtig machen. Die jetzigen sprachlichen Forschungen, die Existenz des livisch-lettischen Dialekts in West-Livland und des tamischen Dialekts in West-Knrland be stätigen die Behauptung, daß die Letten gemischt sind, daß aber ein Theil derselben lettisirte Finnen sind. An thropologische resp. kraniologische Untersuchungen sind mit Rücksicht auf diese Behauptung noch nicht angestellt. Es ist aber noch ein anderer Umstand, auf den hier auf merksam gemacht werden soll.