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380 Ueber die Herkunft der kurländischen Letten. germanischen Urbevölkerung — kommen wollenund Thom sen (in Kopenhagen) hat die Unleugbare Thatsache nach gewiesen, daß in der finnischen Sprache und auch im Estnischen viel germanische (gothische oder nor dische) Lehnwörter enthalten seien. Daraus hat man mit Sicherheit geschlossen, daß dereinst schon Finnen und Germanen in naher Berührung gewesen sind. Gegen diesen Schluß ist kaum etwas einzuwenden. Aber darf man nun weiter schließen, daß diese Berührung, das Ancinander- wohnen gerade im Baltic um stattgefunden hat? Nach der Ansicht des Referenten nicht. — Das Entlehnen der jetzt im Finnischen (und Estnischen) steckenden altnordi schen Wörter hat offenbar in viel früherer Zeit, vielleicht in der Urheimath der Finnen am Ural stattgefunden. Nach den Mittheilungen Mainow's finden sich ähnliche Lehnworte auch bei anderen finnischen Stämmen in Ruß land, z. B. bei den Wessen und Woten. Hente von einer germanischen Urbevölkerung zu reden, scheint dem Refe renten eine durch nichts gestützte Hypothese. Seien wir offen, wir wissen eben gar nichts Sicheres über die Urbevölkerung der baltischen Provinzen. Im 9. Jahrhundert erst wird ein hestimmtes Volk, die „Chori", in der Lebensbeschreibung des heiligen Ansgarius (ft 865) im Balticum namhaft gemacht und noch später bei Adam von Bremen (ft 1078) erscheint zum ersten Male der Name „Churland". Welcher Nationalität die Chori angehören, darüber ist nichts überliefert. Etwas mehr erfahren wir erst aus den historischen Quellen nach Okkupirung des Balticnms durch die Deut schen im 13. Jahrhundert. Als Hauptquellen gelten hier: die Chronik Heinrich des Letten, die livländische Reimchronik und die im Bunge'schen Urkundenbuch ge sammelten Urkunden. Mit Berücksichtigung der genannten Quellen werden als Bewohner der baltischen Länder im 13. Jahrhundert folgende Völker genannt: 1. Liven, 2. Wenden, 3. Letten, 4. Esten, 5. Kuren, 6. Sem- gallen, 7. Littauer. Den äußerst fleißig zusammengetragenen Notizen des Verfassers über die genannten Volksstämme entnimmt Re ferent in möglichster Kürze das Hauptsächlichste: 1. Die Liven. Daß die Liven zur finnischen Volks gruppe gehören, ist bekannt. Nach der Chronik Heinrich des Letten wohnten die Liven in Livland an der Ostsee von der Mündung der Düna bis an den Fluß Salis; vom Meere landeinwärts, gen Osten reichte das livische Gebiet an der Salis höchstens sechs geographische Meilen; an der Düna aufwärts aber weiter etwa 13 bis 14 geogr. Meilen bis in die Gegenden des heutigen Kokenhusen. Wohl bemerkt, entspricht das livische Gebiet speciell in seinem nördlichen Theil dem jetzt lettischen Gebiet, in welchem ein unreines mit livischen Elementen stark durchsetztes Lettisch heute geredet wird. VonLiven in Kurland sprichtHeinrich der Lette gar nicht. 2. Die Wenden. Heinrich derLette erzählt, daß die Wenden, aus Kurland vertrieben, in die Gegend von Riga gekommen seien, von hier wieder verjagt, zu den Letten nach Livland geflohen seien, woselbst die Stadt Wenden nach ihnen den Namen erhalten habe. Das kleine Völkchen ist bald unter den Letten verschwunden; schon die Reimchronik thut ihrer keine Erwähnung. Ueber die Nationalität der Wenden ist nichts Entscheidendes zu ermitteln. Sjögren und Wiedemann sind nicht ab geneigt sie für Finnen zu halten. 3. Die Letten. Ueber ihre Nationalität ist kein Zweifel. Nach Heinrich des Letten Chronik war das damalige lettische Gebiet klein; es nahm etwa nur den vierten Theil des heutigen Livland ein, und dürfte etwa dem Gebiet des Mittlern Dialekt des Lettischen in Livland entsprochen haben. Es gab nur Letten nördlich von der Düna in Livland,vonLetteninKur landist nichts bekannt; bei Heinrich findet sich keine darauf bezügliche Stelle. Was in der livländischen Reimchronik vorkommt, sowie in ein zelnen Urkunden bestätigt die Angaben Heinrich's. 4. Die Esten. Ihre Hingehörigkeit zur finnischen Völkcrgruppe ist bekannt; ihre Wohnsitze waren im 13.Jahr hundert ziemlich dieselben, wie noch heute: das heutige Est land und der nördliche Theil des heutigen Livlands. 5. Die Kuren. Aus Heinrich's Chronik geht her vor, daß ein Volk „Kuren" (Chori, Curones) in Kurland an der Windau gesessen und sich wahrscheinlich bis in die Gegend und Nähe R i g as erstreckt habe. Es werden keinerlei Namen, weder von Ortschaften noch von Personen, genannt. In der livländischen Reimchronik werden die Kuren gelegentlich angeführt, auch einige Ortsnamen kommen vor. Sehr häufig aber ist in den (von Bunge gesammelten) Ur kunden vom Kuren land die Rede und eine große Anzahl von Ortsnamen sind daselbst zu finden. Wegen der nicht zu verkennenden großen Wichtigkeit geographischer Namen, sowie Ortsnamen überhaupt, führt Döring ein langes Verzeichniß aller in den Urkunden und sonst vorkommenden alten Namen nebst den jetzigen landläufigen Benennungen in Kurland an. Das Verzeichniß ft umfaßt viele hundert Namen; es ist äußerst wichtig. Es ist allgemein anerkannt, daß aus den Lokalnamen einer Gegend ein gewisser Schluß auf die Nationalität des Volks, welches die Namen schuf, gemacht werden darf. Von der Sprache der alten Kuren ist nicht das Geringste erhalten; die ältesten Quellen geben keinerlei Auskunft über die Stammeszugehörigkeit der alten Kure n; daher ist das Verzeichniß der Lokalnamen von der allergrößten Bedeutung. Von den aufgeführten Namen fallen 213 noch in das Gebiet des heutigen Kurlands und 180 sind noch heute im Gebrauch. Nach dem Aus spruch von Kennern der lettischen Sprache ist nun der über wiegend größte Theil jener Namen gar nicht aus dem Let tischen zu erklären; ein anderer Theil nur gezwungen. Hin gegen spricht Vieles für einen finnischen Ursprung jener Namen. Der berühmte Sprachforscher Sjögren, welcher 1846 Livland und Kurland bereiste, hat auf Grund jener finnischen Lokalnamen behauptet, daß das ganze Land von der Düna bis zur Mem el vormals von Finnen resp. von einem finnischen Volksstamm bewohnt worden sei. Auch Bielenstein, der bekannte Erforscher der lettischen Sprache, ist der Ansicht, daß die livischen Ortsnamen in der Ge gend zwischen Riga, Libau und Domesnees auf eine in älterer Zeit viel weitere Verbreitung livifcher (finni scher) Stämme deuten, als heute. Und Wiedemann spricht es direkt aus, daß die heutigen kurischen Liven die direkten Nachkommen der alten (finnischen) Kuren sind. Demnach kann heute an der livischen resp. finnischen Nationalität der alten Kuren wohl kaum gezweifelt werden. Was für Umstände es veranlaßt haben, daß der noch heute existirende Rest der Kuren mit dem Namen „Liven" be legt worden ist und wann das geschehen, darüber giebt Döring keine Auskunft. 6. Die Sem galten waren die Nachbaren der an der Düna wohnenden Liven; sie saßen an den Ufern des Flusses Mussa, d. h. am ober« Theil.der kurländischen A a. Heinrich der Lette meldet von ihren Kämpfen mit den Liven, aber nichts von ihrer Nationalität und Sprache. ft Wir müssen es uns versagen, dasselbe hier abzudrucken.