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Ueber die Herkunft der 6dr. 8. Das jetzige russische Gouvernement Kurland wird mit Ausnahme des nördlichen Küstenstrichs, den die Liven inne haben, von Letten bewohnt. Sind diese Letten die Urbewohner des Landes? Die Frage ist nicht immer in gleicher Weise beantwortet worden. Herr Julius Döring, Konservator des Museums der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst in Mitau, hat auf Grundlage der ihm zugänglichen Quellen den ethnographischen Zustand Kurlands im 13. Jahrhun dert zu bestimmen versucht, und auf diese Weise eine Ant wort auf die oben gestellte Frage gegeben. Der Verfasser weist nach, daß die lettische Sprache erst ganz allmälig im Laufe der Jahrhunderte ihre gegen wärtige Verbreitung erlangt hat, und daß im 13. Jahr hundert die Grenzen des lettischen Sprachgebietes ganz andere gewesen sind als heute. Die lettische Sprache hat im Laufe der Zeit ganz allmälige aber sichere Fortschritte gemacht; sie hat sich weit ausgebreitet — eine eigenthüm- liche Erscheinung insofern, als es sich dabei nicht uni die Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes, sondern im Vergleich zum Deutschen oder Russischen entschieden nur um die Sprache eines weniger entwickelten Volksstammes handelt. Es dürfte deshalb nicht ohne Interesse sein, den Erörterungen und Erwägungen des Verfassers zu folgen. Die jetzigen drei russischen Gouvernements Estland, Livland und Kurland werden, abgesehen von den eingewan- dertcn und immerfort noch einwandernden Russen nnd Deutschen von zwei verschiedenen Nationalitäten bewohnt, den Esten und den Letten. Die Esten, ein finni scher Volksstamm, bewohnen Estland und den nördlichen Theil von Livland; die Letten den südlichen Theil Liv lands und fast ganz Kurland, bis auf ein kleines nördliches Gebiet, welches, wie erwähnt, die Liven, gleichfalls ein den Finnen verwandtes Völkchen, inne haben. Was die Zahlenvcrhältnisse betrifft, so lassen sich augen blicklich keine absolut genauen Angaben machen. Gegenwär tig wird in den Ostsecprovinzen eine allgemeine Volkszäh lung vorgenommen, das Resultat ist aber noch nicht bekannt. Man wird sich aber von der Thatsächlichkeit nicht weit ent fernen, wenn man für jede der beiden Nationalitäten unge fähr eine Million rechnet; die Zahl der Liven in Kur land beträgt etwa 2000, während es in Livland keinen Liven mehr gicbt. Dabei ist jedoch wohl zu berücksichtigen, daß die Letten nicht ausschließlich in Kurland und Livland, sondern auch in den angrenzenden Gouvernements wohnen. Die von den Letten gebrauchte Sprache ist nun aber keines wegs überall dieselbe, sondern sie zeigt je nach den verschie denen Gegenden sehr auffallende und interessante Unter schiede. Der Verfasser der oben genannten Abhandlung giebt auf Grundlage einer ihm zu Gebote gestellten Skizze Bielen st ein's, des ausgezeichneten Forschers und Ken ners der lettischen Sprache, eine vortreffliche in Farben ausgeführte Karte des lettischen Sprachgebietes mit Be rücksichtigung der verschiedenen Dialekte. Es ist das die erste derartige Karte und es wäre wohl wünschenswerth, U Nach Julius Döring in den Sitzungsberichten der kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst aus dem Jahre 1880. Mitau 1881. Anhang S. 47 bis 118 mit zwei Karten. kurländischen Letten'). daß dieselbe allgemein bekannt würde. Darnach wird das Gebiet der lettischen Sprache folgendermaßen sixirt: Let tisch wird gesprochen im hentigen Gouvernement Kurland (mit Ausnahme des nördlichen Küstenstrichs, wo die Liven wohnen); im südlichen Theil des heutigen Livland, sowie in dem östlich daran grenzenden Theil des heutigen Gou vernements Witebsk. Nach Bielenstein zerfällt die lettische Sprache in drei Hauptdialekte: 1. den oberländischen (Hochlettisch), 2. den tamischen oder nordwestkurischcn und 3. den Mittlern (Schriftlettisch). 1. Der ob irländische Dialekt, das H o chlettisch, wird gesprochen in dem an Witebsk grenzenden östlichen Theil Livlands, in dem anstoßenden Gebiet von Witebsk und südlich von der Düna in der Hauptmannschaft Jlluxt in Kurland; das Hochlettische oder Oberländischc ist stark gemischt mit slavischen Elementen. 2. Der nordwestkurische oder tamische Dialekt wird im nördlichen und westlichen Kurland zu beiden Seiten der Windau gesprochen; er enthält viel livische Bestandtheile und weicht am meisten vom reinen Schrift lettisch ab. Ihm entspricht wegen der livischen Bei mischungen ein unreiner lettischer Dialekt im westlichen Livland, welcher den Küstenstrich von Dünamünde bis nach Haynasch nördlich von der Salis inne hat. 3. Der mittlere Dialekt, das Schriftlettisch, ist im übrigen bisher nicht erwähnten Theil des lettischen Sprachgebietes im Gebrauche: im östlichen Theil von Kur land, im Mittlern Abschnitt des südlichen Theils von Liv land, bis * hinauf an die estnische Sprachgrenze. Das reinste Lettisch wird im Norden dieser Bezirke um Wok- mar und Wenden gesprochen. Hat der gegenwärtige Befund im lettischen Sprach gebiet von jeher so bestanden; auch schon zur Zeit der Er oberung der baltischen Länder durch die Deutschen im 13. Jahrhundert? Mit Benutzung der zugänglichen historischen Quellen versucht Döring sich ein Bild von der Ethnographie Kur lands im Speciellen (sowie des südlichen Livlands) zu ver schaffen. Für die Kenntniß der Urzeit der baltischen Länder sind entschieden die archäologischen Forschungen von hervor ragender Bedeutung. Aus den Forschungen skandina vischer Gelehrter, Worsaae, Montelins, Jngvald Undset, Aspelin und Anderer, zieht der Verfasser den Schluß, daß noch in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt der größte Theil des jetzt lettischen Gebietes sowie Lithauen eine germanische (gothische?) Bevölkerung gehabt habe. Wie lange diese germanische Bevölkerung in den baltischen Ländern gesessen haben mag, ist nicht zu ermitteln. Deni Referenten scheint dieser Schluß etwas zu ver früht; von der Anwesenheit eines germanischen Volks stammes in den heutigen russischen Ostsceproviuzen hat sich keine sichere Kunde erhalten. Freilich reden oft die stummen Gräber eine beredte Sprache, aber aus den Grab funden der baltischen Länder ist bis jetzt kein sicherer Schluß auf die Nationalität des zugehörigen Volksstammes möglich gewesen — alles ist in Dunkel gehüllt. Man hat ferner in anderer Weise zu demselben Resultat — einer 48*