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Ossetische Märchen und Sagen. 334 großer weißer Widder mit langen Hörnern, das war der Lieblingswidder des Riesen. Urysmag tödtete in der Eile diesen Widder,, zog ihm das Fell mit den Hörnern ab, hüllte sich selbst in das Fell und kroch auf allen Bieren als erster aus der Höhle. „Du bist Gurtschi gehe, mein kluges Thier, geh' und hüte die Herde bis zum Abend und treibe sie dann nach Hause; ach, ich bin schon blind, allein den, der mich überlistet, will ich bestrafen!" Der Riese strei chelte das Fell des Widders und ließ ihn vorbei. So entkam Urysmag und er wartete nun bis die ganze Herde heraus gekommen war. Als das geschehen war, schrie er: „Und ich bin doch hier, Du blinder Esel!" Der Riese aber starb vor Aerger. Urysmag trieb die große Herde zu den Narten; er fand sie kaum lebend. Und nun fing er an, einige Widder zu schlachten und dieNartcn zu bewirthen. „Nun,Ihr Narten, seid Ihr zufrieden?" fragte Urysmag. „Zufrieden sind wir und satt," sagten die Narten. Was von der Herde noch übrig blieb, das trieben sie mit sich nach Hause. Hier vertheilten sie die Herde gleichmäßig unter allen Narten. „Nicht so, nicht so, Ihr Männer," sagte ein Narte, „dem Urysmag gebührt noch der Antheil des Aeltesten, wenn der Weißbärtige (Urysmag) uns nicht geführt hätte, so wären wir alle Hungers gestor ben — alles hat uns nur Urysmag verschafft!" Niemand hatte etwas einzuwendcn: jeder einzelne gab einen bestimm ten Theil seiner Beute an Urysmag und dieser erhielt somit den Antheil eines Aeltesten. Die Narten aber begannen fröhlicher dreinzuschauen, als bisher. 5. Chatag-Barag^). Die schöne Jungfrau Balsu wollte keinen andern heirathen als den Helden Chatag-Barag. Wie viele waren schon bei ihr erschienen, um sie zu freien! Sie hatte allen abgesagt und deshalb hatten alle sie verlassen. Es war aber da einer Wittwe einziger Sohn, wahrlich ein wackerer Jüngling, der war in heißer Liebe entbrannt zu der Jungfrau Balsu, welche wie gewöhnlich im siebenten Stockwerk eines kupfernen Thurmes saß. Der Jüngling fertigte sich eine Geige an, auf welcher er zur Verwunde rung aller solche Weisen spielte, wie sie nie ein Sterblicher gehört hatte; er ging hin, setzte sich nnter das Fenster der Balsu und spielte die herrlichsten Melodien. Die schöne Jungfrau hörte mit Wohlgefallen seine Weisen; sie verließ ihre Arbeit, schaute aus dem Fenster und hörte lange, lange zu; dann überschüttete sie den Jüngling mit Scheltworten: „Ach, Du Hnndesohu, sitzest und spielst unter meinen Fen stern! Du wirst so lange hier spielen, bis ich Dich verkau fen lasse für verschiedene seidene Stoffe zu Unterkleidern und Hemden, sobald Chatag-Barag gekommen ist." Der Jüngling schlug die Geige an den kupfernen Thurm, so daß dieser erzitterte. Die Geige zersprang in Stücke. Am andern Tage machte er eine andere Geige, aber eine U Der Name des Widders. 2) Nach dem Russischen. Sammlung von Nachrichten über die kaukasischen Bergvölker. Bd. VII, S. 20. bessere, und spielte schönere Melodien unter den Fenstern der Balsu. Und abermals verließ Balsu ihre Arbeit und hörte den ganzen Tag ihm zu; am Abend, als es dunkeler wurde, überschüttet sie ihn mit Scheltworten: „Warte nur, Warte nur, Du wirst nicht lange unter meinen Fenstern spielen! Sobald Chatag-Barag heimkehrt, so wird es Dir schlecht gehen!" Und wieder schlug der Jüngling aus allen Kräften mit der Geige an den Thurm, so daß dieser erbebte; dann stieß er einen Stock tief in die Erde und rief: „Du glaubst, daß es keinen Mann gebe außer Chatag-Barag?" Und am dritten Tage, nachdem er eine neue Geige sich an gefertigt hatte, spielte er wieder nie gehörte Weisen unter den Fenstern der Balsu. Sie hörte das Spiel, aber Abends schalt sie wieder: „Warte nur bis Chatag-Barag kommt; dann verkaufe ich Dich für Kleiderstoffe." — „Nun, mag es keinen andern Mann geben, als ihn!" antwortete der beleidigte Jüngling. Unterdeß erschien Barag in der Ferne: die ganze Welt glänzt und strahlt in seinem Abglanz. „Siehst Du, jetzt wirst Du's haben: er ist zurückgckehrt!" drohte Balsu. „Der Zorn Deines Chatag - Barag ist mir sehr gleichgültig; ich fürchte ihn nicht im Gering sten; ich müßte nicht der Sohn meines Vaters sein, wenn ich ihn nicht fürchtig mache," war die kühne Antwort des Jünglings. Drei Tage nach der Ankunft rief Chatag- Barag, von der Balsu dazu aufgestachelt, dem Jüngling zu: „Komm heraus aus Deinem Haus, Du Ferkel! wo steckst Du?" — „Ich bin kein Ferkel, aber ich schwöre es beim Namen meines Vaters, ich komme heraus zu Dir!" antwortete der Jüngling, sattelte sein Roß und bewaffnete sich. „Bist Du verschwunden, daß Du nicht znm Vorschein kommst?" schrie der wüthende Chatag-Barag. „Was, giebst Du mir nicht einmal Zeit, mich zu waffnen!" ant wortete der Jüngling; dann aber ritt er völlig gerüstet her aus. Beide begaben sich hinaus aufs Feld und begannen zu kämpfen. Obgleich Chatag-Barag sich gerühmt hatte, er wolle das Ferkel forttragcn und verkaufen, so behielt den noch der Jüngling durchweg die Oberhand. Sie ritten des halb hinaus ans Meer und begannen auf dem Meere zu kämpfen. Aber das Meer trug den Chatag-Barag fast fort, so daß dieser dem Jüngling zurief: „Rette mich! ich sinke unter!" „Ha, ha, ha, Du rufst jetzt und bittest um Hülfe mich, den Du doch verkaufen wolltest!" höhnte der Jüngling, stürzte sich ins Meer und holte den Chatag-Barag am Kragen zugleich mit dem Pferde heraus. „Nun denn, wenn Du nicht mit mir kämpfen kannst, so kämpfe nicht!" sagte der Jüngling. „Balsu gehört nicht mehr Dir, son- den mir," fuhr er fort, zog das Schwert und hieb dem Chatag-Barag das Haupt ab. Dann steckte er das Haupt auf eine Stange und ritt heim zur Balsu. „Balsu," schrie er, „willst Du den Kopf essen?" und warf ihr den Kopf ins Fenster. „Er soll sehr schmackhaft sein!" Balsu weinte und schluchzte, aber cs war nichts zu machen: einmal mußte sie doch aushören. Sie bat selbst den Jüngling, er niöge sie zu sich nehmen. Stolz wies der Jüngling sie an fangs ab; nachdem er sie aber gehörig gequält hatte, nahm er sic zum Weibe. Ollr. II.