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Ossetische Märchen und Sagen. 332 Darauf kommt der Wolf zu den Hirten und ruft: „Werft mir meinen Tribut zu!" Die Hirten rufen: „So komm doch näher." Der Wolf kriecht immer näher heran; die Hirten sagen: „Er läßt uns keine Ruhe," sagen nach ihm, schießen auf ihn und — was geschieht? Wir wünschen, daß das Gleiche mit Deinem Feinde geschehe! Das Gehirn fällt ihm aus dem Kopf. Da lief der Arme schnell hinzu, hob das Hirn auf, sagte, das sei eine ausgezeichnete Arznei, und schob es in seinen Sack. Der Wolf aber lief eilig zu seinem Baum und rieb sich daran, aber es half nichts; da ging er nach Hause, legte sich nieder und fing an zu kränkeln: der Arnie eilte auch fort und kam in den Aul eines Fürsten. Der Fürst aber war schwer krank; von allen Seiten waren seine Freunde und Bekannten zu ihm gekommen. Der Arme fragte: „Was giebt cs hier?" Sie antworte ten: „Unser Fürst ist schwer krank!" „Nun, wenn Ihr so gütig sein wollt, zeigt mir doch den Kranken!" „Ach, wozu willst Du ihn sehen?" „O, ich wünschte ihn wohl zu sehcu!" Das vernahm der Fürst nnd ließ den Armen hereinführen. Der Arme trat in das Gemach des Fürsten, setzte sich auf einen Sessel und sagte: „Möge die Kraft eines Gefunden in Dir sein!" so wie man zu einem Kranken sagen muß. Dann fragte der Arme, wie er sich in Betreff der Arzneimittel befinde. „Ach," antwortete der Kranke, „wenn ich nur jemand hätte, der mir Arznei ver ordnete, ich gäbe ihm alles, was er von mir sich erbitten würde." Da fordert der Arme, daß man ihm Milch herbei schaffte. Und sie brachten Milch. Und der Arme nahm das Gehirn des Wolfes und kochte dasselbe in der Milch. Dann verlangte er eine Schale, goß etwas von der Arznei hinein und reichte es dem Fürsten, damit er es aus- trinkc. Der Fürst leerte die Schale nnd wurde gesund — wie ein Hirsch 2) — er war geheilt. Dann schickte der Fürst seine Diener aus; „gehet," sagte er, „und treibt meine Herde herbei!" Und sie trieben die Herde herbei. Der Fürst ging hinaus, sing das beste Roß nnd zäumte es auf wie es sich gehört. Als das Pferd nun gezäumt war, nahm er einen Säbel, einen Dolch, eine Pistole und eine Flinte, alles voni Besten. Nachdem sich nun der Arme auf das Pferd gesetzt hatte, schenkte der Fürst ihm noch eine Schaf herde nebst einem Hirten. Der Arine ritt fort, daß die Funken stoben. Der Reiche erkannte den Armen, ging ihm entgegen und sprach zn ihm: „Wo hast Du das alles erbeutet? Sage cs mir, oder ich nehme Dir die Hälfte fort, wir hatten doch gemeinsame Sache gemacht." „Komm her, ich werde Dir ein Auge ausstechen — dann will ich Dir auch gestehen, wo ich alles erbeutet habe," sprach der Arme. Der Reiche nun — es war nichts zu machen — ging darauf ein: der Arme stach ihm ein Auge aus mit dem Dolch, dem Geschenk des Fürsten. Dann aber erzählte der Arme: „In der Nacht, als ich Dich verließ, ging ich einem Lichtschein nach und kam zu einem Hügel, in welchem der Wolf, der Bär und der Fuchs wohnen: von ihnen habe ich alles das erbeutet." Nun eilte der Reiche anch in das Haus des Bären, des Wolfes und des Fuchses, trat ein und versteckte sich. Bon den Thieren war Niemand zu Hause. Alle waren bei ihrer Arbeit. Am Abend kehrten alle heim; der Wolf zuerst, er war nicht recht gesund. Nachdem sie eine Zeitlang bei einander gesessen hatten, u Ossetischer Gruß „AZassaä-cka-uu", womit man einen Kranken anrcdct. 2) Ossetische Redensart. Wenn einer den andern fragt, wie cs gehe, so lautet die Antwort oacksbi-oüusan, wie ein Hirsch, d. h. ich bin gesund und rüstig wie ein Hirsch. fragte der Bär: „Nun, was hat.denn ein jeder geschafft?" „Ich kam zn den Hirten," sagte der Wolf, „aber man gab mir keinen Tribnt; wohl aber brachte man mir eine Wunde bei; da ging ich zu mciucm Baume uud rieb und rieb darau, aber cs half nicht — da bin ich nun krank." — „Ich bin um alle Hühnerställe herumgegangcn, habe aber nichts er beutet und bin Mit leeren Händen heimgekehrt," sagte der Fuchs. „Ich ging aus, um Hafer zu fressen, aber weil derselbe noch grün ist, so bin ich ebenfalls leer heimgekchrt," sagte der Bär. So saßen sie eine Weile und als die Essens zeit kam, da sprach der Bär zum Fuchs: „Fuchs, briuge uus doch irgend etwas!" Der Fuchs zündete ein Licht an und suchte; sein Zeug ist fort. „Was sollen wir denn essen, wenn mein Zeug nicht da ist!" Da erhob sich der Bär und sagte: „Du willst uns etwas necken! Ich hole mir wenigstens einen Rubel aus meiner Grube." Aber die Grube war ganz leer. Beide hielten Rath und der Bär meinte, das hat Niemand als der Wolf bei Seite gebracht. „Ich bin krank," sprach der Wolf, „ich habe nichts gese hen." Der Bär aber sagte: „Das bist du gewesen, es kann Niemand anders sein; du stellst dich nur krank! aber uns wirst Du nicht betrügen!" Und der Bär und der Fuchs fielen über den Wolf her nüd verzehrten ihn. Nachdem sie den Wolf aufgefresscn hatten, entdeckte der Fnchs den Reichen und rief: „Sich, hier ist ein Mensch! das ist der Dieb! warum haben wir unsern Kameraden aufgcfrcssen?" Der Bär zog den Menschen aus seinem Ver steck nnd zerriß ihn. Der wollte sich verantworten, daß nicht er der Dieb sei, aber was sollte der Bär ihn noch anhören! Der Bär und der Fuchs verspeisten ohne Wei teres den reichen Mann. Dem Armen aber hatte Gott das Leben geschenkt; er weilt noch heute unter den Lebenden. 2. Das Stierschultcrblatt H. Ein Stier stand auf dem Garamon-Fcld und fraß das Gras am Ufer des Terek 2). Siehe, da ließ sich ein Habicht aus der Luft herab, schlug seine Klauen in das Fleisch des Stieres und trug ihn davon. Dann sctzte er sich auf einrn Baum, unter welchem ein Hirt mit der Herde vor den Sonnenstrahlen Schutz gesucht hatte, uud begann den Stier zu verspeisen. Das eine Schulterblatt des Äieres fiel vom Baume herab und gerieth dem Hirten ins Auge. Am Abend kommt der Hirt nach Hause und spricht zur Mut ter: „Mir ist etwas ins Auge gerathen, Mütterchen, sich' einmal nach!" Die Mutter ging hin, holte ein Schaufel herbei, reinigte damit das Auge und warf das Schulter blatt heraus. Später bildete sich auf diesem Schulterblatt eine grüne Wiese und darnach entstand ein ganzer Aul dar auf. Da kam ein Fuchs herbei, faßte das Schulterblatt, warf cs auf die eine und die andere Seite und beunruhigte dadurch den Aul. Die Bewohner des Aulcs verwunderten sich nnd sagten: „Was soll dieser Ueberfall?" Und in einer Nacht verfolgten sie den Fuchs und tödteten ihn. Bon der einen Seite konnten sie dem Fuchs das Fell abziehen, aber sie konnten ihn nicht auf die andere Seite umwenden, so daß sie dort das Fell nicht nehmen konnten. Am frühen Morgen kam des Wegs daher eine junge Neuver mählte, stieß mit dem Fuß an den daliegenden todten Fuchs und wendete ihn dabei um. Sie faßte den Fuchs beim Schwanz, riß das Fell ab und rief: „Das giebt einen U Dies Märchen ist eine Zusammenstellung außerordent licher und unglaublicher Dinge, wodurch die Zuhörer zum Lachen gereizt werden sollen. 2) Die Entfernung zwischen dem Feld und dem Ufer be trägt etwa 70 Werst (Kilometer).