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Desirs Charnay's Ausgrabungen in Mexico und Central-Amerika. 211 Gräberfelder? Eine Antwort auf diese Frage, die den Reisenden unablässig beschäftigte, konnte, wenn sic eben überhaupt zu finden war, erst das Resultat späterer Unter suchungen nnd eingehender vergleichender Studien sein; soviel aber war Charnay schon jetzt an Ort nnd Stelle klar geworden, daß diese sämmtlichcu Fund- stiicke aus einer ältern, als der aztekischen Periode des Landes, und zwar wahrscheinlich von denTol- tcken hcrrührcn mußten. Dieses letztere, zumNahua- stannnc gehörende Volk hatte im siebenten Jahr- hnndert, von Norden kom mend, das Hochland von Mexico nnd cincn Theil Central - Amerikas einge nommen und sich daselbst bis zur Mitte des 11. Jahr hunderts als herrschendes Volk behauptet. Neben dcr Verehrung der Sonne und des Mondes blühte bei den Toltcken besonders der Kul tus des Regengottcs Tla- loc, dessen Segnungen ans dem dürren Hochlande von größter Bedeutung sein mußten. So ging denn anch der Kultus des Tlaloc auf alle nach ihnen in Mexico herrschenden Stämme über, freilich nicht in unveränderter Gestalt. Der toltekischc Gott, der auf dem Gipfel der rcgcncr- zcugcnden Berge, vornäm lich der Vulkane, in einem feuchten, warmen, ewig- grünen Paradiese wohnte und Opfer von den Früch ten der Erde verlangte, verwandelte sich in dem blutigen Götzendienste der Azteken zu einem grimmi gen Gott, dem, wie Pater Duran berichtet, alljähr lich auf einem bestimmten Berge Hunderte von Men schen geschlachtet wurden. Dem entsprechend änderte sich anch das Bild des toltckischen Gottes in eines jener für die aztekifchen Hauptgottheitcn charakte ristischen, widerlichen Zerr bilder nm, das von den kleinen Tlalocgestaltcn der Charnay'schcn Funde durch aus verschieden ist. Ans eine ältere nnd vielleicht höhere Kultur als die aztekische schließt aber Charnay, wie oben erwähnt, vornämlich aus dem Vorkommen der kleinen Wagen, die den Azteken unbekannt waren; doch gicbt er zu, daß es zum mindesten räthselhaft ist, wie eine so wichtige nnd nützliche Erfindung ganz verloren gegangen und in Vergessenheit gerathen sein sollte. Etwa 60Irm nördlich von Mexico, an dcr Stclle dcs heutigen Dorfes Tula, soll den alten Ucberliefe- rungcn zufolge die Haupt stadt des toltckischen Rei ches gelegen haben. Dort hin begab sich jetzt Charnay, nm weiteren Spuren jener alten Civilisation uachzn- forschen, die während der vier Jahrhunderte ihres Bestehens das Land mit blühenden Städten nnd großartigen Denkmälern bedeckt haben soll, um dann wie mit einem Schlage plötzlich zu verschwinden. Als erste Ursachen dcs Ver falles des Toltekenreiches werden Heimsuchungen des Landes durch große Ueber- schwemmungen und darauf folgende Jahre der Dürre angegeben, die ihrerseits wieder Hungersnoth und verheerende Krankheiten im Gefolge hatten. Acnßcrc Feinde sowie mächtige Vasallen benutzten diese Zeit der Noth zn einem Angriffe auf das Reich, und in einem dreijährigen Vernichtungskriege wnrdc das unglückliche Volk de- cimirt. Von Mexico bis nach Hnehnctoca benutzten Char nay nnd seine Begleiter die Eisenbahn, die sie durch das im Schmucke der grü nen Maisfelder prangende Thal führte. Das letzte Ende des Weges wurde in der vollbepackten Post kutsche und zwar auf einer „Straße" znrückgclegt, auf dcr dic Räder bis an die Axen in den tiefen Geleisen versanken. Nnr im Schritt fahrend, hatten dic Reisen den unerwünschte Mnßc, die gänzlich veränderte Landschaft mit den kaktns- bewachscncn, staubigen Hü geln und den dazwischen liegenden unabsehbaren grauen Agavepflanznngen stundenlang zu betrachten. Endlich kam man wieder ans festen, felsigen Boden, bald darauf zeigten sich von Neuem grüne Felder; das schwerfällige Geführt passirtc einen schlammigen, der Brücke ermangelnden Fluß, um dann in rasselndem Galopp in ein großes, von schönen Aus Perlmutter geschnitzte llriegergcstalt, in Tula gesunden. (Nach einer Photographie.) Tlachtli-Ring, in Tnla gesunden. (Nach einer Photographie.)