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200 Die physische Erziehung der Kinder im Gouvernement Tomsk. beiden Seiten der Wirbelsäule, später aber an der ganzen Körperoberflächc. Das Volk schreibt diese „Haarbe- schwerden" dem Umstande zu, daß die Mutter während ihrer Schwangerschaft einen Hund oder ein Schwein mit den Füßen stieß oder über eine Deichselstange stieg. Alte Weiber heilen die Kinder in folgender Weise: sie tragen das Kind in eine mäßig geheizte Badstube und reiben hier die nach ihrer Ansicht kranken Theile unter Anwendung eines rauhen Tu ches mit Hefe, oder niit einer Lösung von Zinkvitrivl und Milch, oder mit Muttermilch tüchtig ein. In Folge des Reibens sollen die kleinen Härchen in großer Menge Hervor brechen; es soll mitunter eine einmalige Anwendung dieses Heilverfahrens genügen — die bald darauf eintretendx' Be ruhigung des Kindes wird als Zeichen der gelungenen Kur angesehen. Ein anderes Leiden, welchem man häufig bei ganz jun gen Kindern begegnet, wird vom Volk als „Hunde altern" bezeichnet; es zeigt sich darin, daß die Kinder ein altes, greisenhaftes Aussehen bekommen. Um das Kind davon zu befreien, beschmieren die alten Weiber den Körper des Kin des mit dicker Sahne („Sauerschmant"), an welcher vor her ein Hund geleckt hat, oder sie kochen Fleischklößchen, unter Hcrsagen verschiedener Zauberformeln, und füttern damit einen Hund. Es ist hier und da zu hören, daß in Sibirien die Neu geborenen in Salzlake, oder in irgend welchen Krüuter- aufgüssen gebadet würden, oder daß man sie in den Schnee stecke — im Gouvernement Tomsk werden diese Proceduren nicht geübt, ja sind vollständig unbekannt. Die Frauen der seßhaften Eingeborenen des Gouv. Tomsk verfahren mit den Neugeborenen wie die Russen. Die Fraueu der nomadisirenden Eingeborenen, der Samo jeden und Ostjäken, wenn sie mitten in den Wäldern zur Zeit der Jagd fern von festen Ansiedelungen nieder kommen, baden ihre Neugeborenen nur dann, wenn cs be quem sich aussühren läßt. Die schwarzen Tataren verfahren mit den Neu geborenen wie die Rusfen, nur daß die Kinder nicht in die Badstubc getragen, sondern in der Jurte gebadet werden. Die Altai-Kalmücken waschen die Neugeborenen in der Jnrte mit warmem Wasser, dann schmieren sic dic Haut mit Hammclfett und hüllen die Kinder in frische Schaffelle. Das Einsalben wird während der ersten zwei oder mehr Wochen täglich wiederholt, doch wird das Kind keineswegs dabei täglich gewaschen, sondern nur die Haut mit Fetzen von Schaffellen oder mit Lappen abgerieben. Wenn sich bei einem Kinde Schwa m m chen im Munde bilden, so streichen sowohl die Tataren wie die Kal in ücken dem Kinde Honig in den Mund; sobald dies nicht hilft, oder falls das Leiden, nachdem es zeitweilig geschwun den, wieder auftritt, so legen sie ein Stückchen Feuerschwamm (Jadno) dem Kinde auf den Scheitel und stecken es an. Nach ihrer Meinung zieht der brennende Schwamm das Gift aus dem Körper; als Zeichen der Wirkung muß der Schwamm, sobald die Haut getroffen wird, mit Knistern in die Höhe springen. Dies Mittel wird so lange wiederholt, bis der Schwamm nicht mehr aufspringt. Wenn anch diese Maßregel nichts nützt, so werden in einem verfaulten Weiden baume kleine weißliche, etwa Werschok (circa 2 am) lange Würmchen (Ranpen oder Maden?) gesucht, man zer drückt sie und bestreicht damit den Mund. Ist das Leiden schon lange anhaltend, so schneidet man einem lebenden Schaf das Herz aus und schiebt das noch zuckende Herz dem Kinde soweit als möglich in den Mund. Die Kleidung der Neugeborenen besteht bei Russen wie bei Eingeborenen in einem Hemdchen aus mehr oder weni ger grober Leinwand; selten nur wird das Hemdchen gewech selt, so daß oft Hauterkrankungen die Folge dieser Unrcinlich- keit sind. Gewöhnlich wird das Hemd dem Kinde sofort nach der ersten Waschung übergezogen; an einigen Orten, z. B. im Gebiet von Narym, dagegen wird hiermit ge wartet, bis das Kind getauft ist; vorher werden die Kindlcin nur in irgend beliebige Lumpen oder Lappen gehüllt. Die Samojeden und Ostjäken nehmen statt eines Hemdes während der kalten Zeit Hasenfelle, und während der warmen Jahreszeit Fetzen von alten Kleidern oder nichts. Daß die Tataren und Kalmücken die Neugeborenen in Schaffelle hüllen, wurde bereits erwähnt. Alles dieses ist' unzweckmäßig — beim Gebrauch dieser verschiedenen Felle werden die Kinder leicht wund („fratt") und bekommen allerlei Hautausschlägc. Das Wickeln der Kinder ist wie bei den Rusfen so bei den Eingeborenen in Gebrauch. Das Kind wird vom Kopf bis zu den Füßen in eine Windel aus Leinwand oder Baumwolle geschlagen, dabei werden die Beinchen gestreckt, ebenso die Aermchen gestreckt oder auf die Brust gelegt; dann werden die Kinder mit einem 1^/2 bis 2 Werschok (6 bis 80m) breiten, 5,2 oder mehr Arschin (1,4 m) langen Windelband aus beliebigem Stoffe eingewickelt. Oft wird statt eines besonderen Windelbandes eine einfache Schnur oder eine Tuch kante genommen. Das Wickeln beginnt gewöhnlich an den Schultern und endigt an den Füßen. Um den Kopf des Kindes wird ein Tuch geschlagen, die Enden desselben wer den unter die Windel gesteckt und durch die Zirkcltouren des Wickelbandes so an dem Körper befestigt, daß das Köpfchen auch eine feste Haltung bekommt. Im Allgemeinen wird beim Wickeln des Kindes sehr vorsichtig verfahren, man wickelt leicht, so daß die Binden locker liegen; deshalb ist von einem bemerkbaren schädlichen Einfluß auf den Körper keine Rede. Verkrümmung der Wirbelsäule oder der Beine werden gewiß mit Unrecht einen! unvorsichtigen Wickeln zu- gcschricbcn. Die Nothwendigkeit des Wickelns wird vom Volke dadurch begründet, daß die Hände des Kindes befestigt werden müssen, damit dieselben nicht das Gesicht zerkratzten; dabei aber herrscht das völlig unbegründete Borurtheil, daß das Wickeln überhaupt auf die Kinder beruhigend cinwirke und sie fähig mache, früher zu laufen. Zu bemerken ist übrigens, daß beim Wickeln die Gesäßgcgend des Kindes frei bleibe, damit bei erfolgten Ausleerungen die Unterlagen bequem gewechselt werden können, ohne daß das Wickelband entfernt werde; es bleiben dabei die Kinder 2 oder 3 Tage in derselben Lage. Bei den Samojeden und Ostjäken wird das in Hascnfcllc gehüllte Kind einfach an die Wiege befestigt; außerhalb der Wiege wird das Kind nicht gewickelt, sondern die Glieder werden nur locker befestigt. Die Tataren und Kalmücken hüllen das Kind in weiche Schaffelle, legen es fo in die Wiege und befestigen es dann durch Zirkeltouren mittels eines aus Haaren gefloch tenen Strickes, welchen sie „Arkan" nennen. Im ganzen Gouvernement Tomsk, mit Ausnahme einiger Lokalitäten im Gebiete von Narym, existirt unter der russische n Bevökcrung der Gebrauch die Neugebore nen zu „richte n". Zu diesem Behuf werden die Kinder sofort nach dem ersten Bad ans den Rücken gelegt, dann werden die Zehen erfaßt und die Füße gerade abwärts und darauf kreuzweis gezogen; jetzt legt man das Kind auf den Bauch und zerrt in gleicher Weise gerade abwärts nnd krcuzweis an den Fingern und Armen; dann legt man den Rumpf des Kindes auf die flache Hand, so daß Arme und Beine hcrabhängen, und schüttelt ein wenig und spricht dabei: jetzt bist du gerichtet und wirst nicht mißgestaltet werden! Das