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130 Belgische Skizzen. darüber gehen die Meinungen fast ebensoweit auseinander, wie Uber die künstlerische Berechtigung und die Schönheit des Ganzen. Die Zahl der unbedingten Bewunderer ist groß, größer aber vielleicht noch die Menge derer, denen der steife Bau mit seinen unzähligen Säulen, seiner schweren, massigen Gliederung, seinem geradlinig abgeschlossenen, von kolossalen Pilastern eingefaßten, beinahe 100 Fuß hohen Portal den unabweisbaren Eindruck eiuer grandiosen »nd zu ihrer Umgebung in seltsamem Mißverhältniß stehenden Theaterdekoration macht. Ungleich lebensvoller und dem Wesen des Landes und Volkes noch heute durchaus entsprechend erscheinen die alten Bauten, die den großen Marktplatz zieren und ihn zu einem der schönsten mittelalterlichen Plätze machen, die wir besitzen. Da ist zunächst das Rath Haus, dessen vier Flügel von 60 refp. 50 m Länge einen rechteckigen inner» Hof um schließen. Die dem Markte zngcwendetc gothifche Fa^adc zeigt unten einen aus 17 Spitzbogen bestehenden Portikus, darüber zwei Stockwerke mit je 20 mäßig hohen, recht eckigen Fenstern. Die feine, oft mit zierlicher Goldschmicdc- arbcit verglichene, bis ins kleinste Detail sanber und künst lerisch ausgcführte Sknlptiruug dieser ganzen Fläche mit ihren Erkern, Sparrenköpfen und Nischen, ihren zahlreichen von kunstvollen Baldachinen überwölbten Steinbildern, ihrer vielfachen Vergoldung wird mit Recht zu den Wunder werken niederländischer Kunst gezählt. Ein krenelirtes Ge länder umgiebt das hochansteigende Dach, das mit vier Reihen von Fenstern geziert ist; an den Ecken erheben sich vier achteckige, spitz zulaufcnde und von je zwei Gallerien umzogene Thürme. Der 114m hohe, seltsamerweise nicht Der neue Justizpalast in Brüssel. (Nach einer Photographie.) in der Mitte des Gebäudes stehende Thurm ist bis zur Höhe des obern Dachrandcs vierseitig, dann steigt er in polygoner Form und in mehreren zierlichen Etagen sich verjüngend zu der fein durchbrochenen Spitze empor, die von einer fünf Meter hohen, in Erz gegossenen und ganz vergoldeten Statue des Erzengels Michael gekrönt wird, einem im Jahre 1454 entstandenen Werke Martins von Rode. Sehr spärlich sind die Nachrichten, die wir über die Entstehung des Rathhauses sowie über die Person seines Erbauers besitzen. Daß es in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts begonnen worden ist, steht fest; der Name des Erbauers soll nach Einigen verloren gegangen sein; Andere bezeichnen als denselben Jakob van Thicnen und Jan van Ruysbrock. Mit Bestimmtheit weiß mau von dem Letztem nnr, daß er den Thurm gebaut hat, an dessen einem untern Gewölbcbogen sein Standbild an gebracht ist. Die auffallende Stellung des Thurmes hat Veranlassung zu einer im Brüsseler Volke fortlebendcn Sage gegeben, derzusolge der Baumeister aus Verzweiflung über diesen Fehler seines Werkes sich an einem der unte ren Pfeiler erhängt haben soll. Eine genaue, vor weuigcn Jahren von Schayes ausgeführte Untersuchung hat aber ergeben, daß die beiden durch den Thurm getrennten Theile des Gebäudes zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, und daß der. Thurm ursprünglich in der gebräuchlichen Weise