Volltext Seite (XML)
Gustav Nächtig Noch kurz vor Ablauf des vergangenen Jahres ist der zweite Band von Nachtigal's „SahürL und Sudan" (Berlin 1881. Weidmann'schc Buchhandlung und Verlags handlung Paul Parey) erschienen, so daß nun zwei Drittel des hochbedcutcnden Werkes sich in den Händen des Publikums befinden. Reichlich zwei Jahre sind vergangen, seitdem der erste Band erschien (s. „Globus" XXXVI, S. 220, 233, 248), ein Zeitraum, der für einen Cameron oder Stanley fast hingcreicht hätte, eine neue Afrikareise zu machen und sie in gewohnter Weise in zwei reich mit Karten und Bil dern ausgestattetcu Bänden zu beschreiben. Doch Deutsch land darf stolz daranf sein, daß nicht wenige seiner Reisen den der Gründlichkeit und Genauigkeit noch immer den Vorzug geben vor einer raschen Befriedigung der neugieri gen Lcsewclt; um letztere zu erreichen, leidet, wie nur allzu häufige Beispiele beweisen, meist die Wahrheit. Berechtigt sind ja freilich die Klagen, daß wir die Ergebnisse eines Richthofcn, Reiß, Stübel, Nachtigal nnr so langsam erhal ten; aber reichlich wird das ausgewogen durch die Gediegen heit des Gebotenen und die allseitige Durcharbeitung des Stoffes. Wir wollen gleich hier hinzufügen, daß sich Nach tigal's Werk vor den meisten Reiscbcschreibungen durch einen klaren, ungemein sorgsam gefeilten Styl auszcichnet, der sich stellenweise fast zu poetischem Schwünge erhebt und die Lek türe zu einer äußerst angenehmen und anregenden macht. Es ist bekannt, daß Nachtigal seine sechsjährigen Wanderun gen mit den denkbar beschränktesten Mitteln und ohne ge nügende Instrumente und Vorbereitungen antrat und durch- führtc. Durch eine möglichst sorgfältige Routenanfnahme und umfangreiche Erkundigungen ersetzte er den Mangel astronomischer Beobachtungen; anstatt wie andere Reisende naturwissenschaftliche Sammlungen anzulcgen, koncentrirte er seine Aufmerksamkeit auf die klimatischen Verhältnisse und namentlich auf die Menschen, auf ihre Sitten und Ge bräuche und ihre Krankheiten — ein dem Arzte besonders naheliegendes Thema. Die ethnologische Besprechung der besuchten Völkerschaften machte eine sorgfältige Sichtung und Verarbeitung des linguistischen Sammelmaterials noth- wendig; daß eine solche aber sehr viel mehr Zeit kostet, als ein einfach erzählender Reisebericht, liegt ans der Hand. Die ethnologischen Theile des Buches, durch drei Sprachen karten illustrirt, sind deshalb neben der sehr reichhaltigen Routenkarte von Bornu, Kamm und Bagirmi das bedeu tendste Resultat, welches der vorliegende Band bietet. Der selbe umfaßt drei Bücher: 1) Reife nach Kanem und Borku; 2) das Tsadc-Bccken; 3) Reise nach Bagirmi; wir thcilen aus den beiden ersten (die Reise nach Bagirmi behandelte der „Globns" unlängst ausführlicher) zunächst Einiges mit und freuen uns, es durch einige Originalbilder, welche wir der Güte der Verleger verdanken, illustriren zu können. Daß wir auf einigen Zeitschriftsseiten einem innerlich wie äußer lich so bedeutenden Buche und seinem Inhalte nur sehr un vollkommen gerecht werden können, versteht sich eigentlich von selbst; aber wir hoffen dadurch unsere Leser anzurcgen, das Prächtige Buch selbst in die Hand zu nehmen. Während Nachtigal zu Anfang 1871 mit Eifer seinen al's Reisewerk. Plan, die Inseln des Tsade-Sces zu besuchen, betrieb, kam die Nachricht nach Kuka, daß zwischen Wadai und Bagirmi ein Krieg ausgebrochen sei; in Folge dessen erklärte Bornus Herrscher, Scheich Omar, daß an jene Reise vor Wieder herstellung des Friedens nicht zu denken sei. Die Hoffnung aber, welche der Reisende auf die energische Unterstützung seines mächtigen Beschützers Lamino setzte, wurde durch des sen plötzlichen Tod vereitelt. So benutzte er die Anwesen heit eines Arabers vom Stamme der Aulnd SolimLn, HazLz mit Namen, sich demselben anzuschließen und die zum Theil noch nie von einem Europäer besuchten Gebiete im Nordostcn des Tsade kennen zu lernen. Dorthin, nach der Landschaft Borku, gedachte der Stamm in einigen Monaten zu ziehen, nm die Dattclcrnte cinzuheimscn. Mit vieler Mühe und nur gegen 150 Proc. Zinsen verschaffte sich der Reisende 800 Mark für diese Reise und traf feine Vorbereitungen. Staunenswerth ist die unerschöpfliche Lebens- und That- kraft jenes winzigen Araberstammes, dessen unruhiges Leben Nachtigal in der nächsten Zeit zu thcilen beabsichtigte. Wäh rend Heinrich Barth vor mehr als 20 Jahren seine Auflö sung als unmittelbar bevorstehend bezeichnete, herrscht er noch jetzt trotz seiner kleinen Zahl über ungeheure Gebiete. Seine ursprünglichen Sitze liegen in Fezzan nnd in der Umgebung der großen Syrte; seine ganze Streitkraft belief sich wohl nie auf ganz 1000 Reiter. Macht nnd Ansehen aber verdankten sic ihrer Thatkraft nnd Zähigkeit, der Ueber- legcnheit ihrer Führer und der ritterlichen Treue, mit der sie stets zu den zahlreichen, schwächeren Nachbarn standen, die sich ihnen verbündeten oder unterordneten. Durch den Verrath der türkischen Paschas in Tripolis hatten sie wie derholt schwer zu leiden und verloren ihre sämmtlichen er wachsenen Männer durch Meuchelmord, so daß sie auf fast zwei Jahrzehnte von dem Schauplatze gleichsam verschwan den. Doch die Tradition blieb, und die Heranwachsende Generation richtete die Augen hoffnungsvoll auf den künf tigen Häuptling Abd-el-Dschlil, der am Hofe von Tripolis hcranwuchs. Derselbe gewann des Paschas Gunst und zeichnete sich bei den Ranbzügen aus, welche damals von Fezzan ans weithin nach Süden unternommen wurden. Ans dieser Zeit datirt der Haß der Sudan-Bewohner gegen die räuberischen Araber, und damals lernten die AulLd-Solimän den natürlichen Reichthum jener Striche kennen, welche sie später zu ihrem Adoptiv-Vatcrlande wählten. Schließlich empörte sich der Häuptling gegen die Türken in Tripolis und machte sich nm 1831 zum völlig unabhängigen Herrscher Fezzans; elf Jahre später aber fand er in der Schlacht bei el-Baghla im Kampfe mit jenen den Tod. Ehe er sein Leben auShauchte, beschwor er die Aeltesten seines Stammes, der Rache der unversöhnlichen Türken durch selbstgewählte Verbannung zu entfliehen, erinnerte sie an die gemeinschaft lichen Kriegszüge nach Süden und rieth ihnen, in der dat- telrcichen Tubu-Landschaft Borku eine neue, der ursprüng lichen ähnliche Heimath zu suchen. Nach und nach zogen sie in der That dorthin, und jetzt haust fast der ganze Stamm seit etwa einem Menschenalter nördlich vom Tsade. Die zuerst in Besitz genommene Landschaft Borkn, allznweit ab gelegen von Fezzan wie von Bornn, auf deren Märkte die industrie-