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Belgische Skizzen. 101 scls eine Freude zn machen, hat Ludwig XV. seinerzeit so gar den kleinen Mann mit dem LudwigSkrcuze dekorirt. Kann man aus diesem kindlichen Spaße an dem origi nellen kleinen Bildwerke anch beim besten Willen nicht auf eine kunstsinnige Richtung des Brüsseler Volkes schließen, so wird man doch bei genauerem Studium des Volkslebens mit Erstaunen gerade in den niederen Schichten des Volkes eine gewisse Liebe für die Kunst wahrnchmen, die sich ans die verschiedenste Weise offenbart. Daß in den höheren Klassen als ein Erbthcil der alten niederländischen Kuust- blüthc und angeregt durch die vielen reichen Sammlungen der Stadt ein lebhaftes Interesse für Malerei sich kund giebt, ist wohl begreiflich; daß es aber nnter dem kleinen Bürgerstandc, unter Handwerkern und kleinen Ladenbesitzern, gar viele giebt, denen der Besitz eines rissigen Stückes be malter Leinwand in einem alt aussehcnden Rahmen die ein zige Poesie in ihren: arbeitsamen, einförmigen, ja oft bedürf tigen Leben repräscntirt, und die sich von diesem vermeintli chen Schatze um keine» Preis trennen wollen, ist charakteristisch. Leider gehört es denn anch nicht zu den Seltenheiten, daß diese bescheidenen Kunstliebhaber, nachdem es ihnen erst ein mal geglückt ist, auf irgend einer Auktion ein Pendant zu ihrem Schatze zu erwerben, das sic immer weit Uber den Werth, oft auch weit über ihre Mittel bezahlen, von einer unseligen Sammelwuth ergriffen werden, die sie ohne jedes Vcrständniß, aber mit desto mehr Eifer und Liebe auf die Das Manncken-Pis. (Nach eurer Photographie.) Bildcrjagd ansgchen uud ihr eigentliches Geschäft gänzlich vernachlässigen läßt. Die in ganz Belgien heimische Pflege der Musik findet bekanntlich in Brüssel ihre Hauptvertrctcr; große Musik aufführungen des Konservatoriums, gemischte Konccrte, die berühmten Milüärmusikcn, dazu die vortrefflichen Leistungen der Oper im Thsatre de la Monnaie nehmen zeitweise das ganze Interesse der höheren Klassen in Anspruch; in den unte ren aber hat das in Brüssel gerade so lebhaft florireudeBcr- cinswescn eine Menge von musikalischen Gesellschaften und Vereinen entstehen lassen, die sich an die schwierigsten Auf gaben wagen und denselben meist in ebenso mustcrgilliger Weise gerecht werden, wie die zahlreichen dramatischen Di- lettantcnvercinc den ihrigen; unter den letzteren ist cs beson ders der Verein für das vlümische Theater, dessen dem Hand werker-, dem kleinen Kaufmanns- und Bcamtcnstandc angc- hörende Mitglieder in der Darstellung des dcrbkomischen vliimischen Lustspiels Vorzügliches leisten. Bei diesen künstlerischen Neigungen des Volkes ist cS denn auch nicht zu verwundern, daß Brüssel eine solche Fülle von hcrumziehendcn Musikern beherbergt und ernährt, wie im Berhältniß vielleicht kaum uoch eine andere große Stadt. Seitdem die berüchtigten Marolles, die Cour des Miracles*) von Brüssel, den neuen Straßenanlagcn weichen mußten, haben sich jene „Künstler", ebenso wie die übrigen dunklen und fragwürdigen Existenzen der Hauptstadt, iu die engen, unreinlichen und ungesunden Quartiere der Rue Haute, Rue de Flandre und Rue d'Anderlecht in: westlichen Theile *) Ehemaliger Aufenthaltsort der Parijer Bettler, so ge nannt, weil dort die Blinden sehend, die Lahmen gehend wurden.