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92 CH. Nüsser: Die Aymara-Race. moralisiren. Alle religiösen Feste, und deren giebt es viele, sind ebensoviel Anlässe zu viehischer Trunkenheit. Von allen Heiligen genießt Santiago das größte Anse hen bei den Aymaras. Sie verehren ihn wie einen zweiten Gott und glauben, daß er bei Gewitter auf seinem Schim mel die Wolken durchreite und Donner und Blitz erzeuge. In ihrer Einbildung ist der Blitz ein Funken, den das Huf eisen beim Aufschlagen auf das Himmelsgewölbe aussprüht. Wer vom Blitze getroffen wieder zum Leben erwacht, sieht in die Zukunft und ist ein Sohn des Heiligen, der, wie sein Vater, auf die höchste Verehrung Anspruch machen darf. In einigen Gegenden herrscht der Glaube, daß das Un wetter durch einen Kampf zwischen Santiago und dem Satan verursacht wird. Um dem Heiligen zu Hülfe zu kommen, vertheilen sie auf den Gipfeln der Hügel Knaben von 8 bis 14 Jahren, welche, inmitten eines konfusen Geschreies, als seine Bundesgenossen Steine gegen die Gewitterwolken schleudern. Gewöhnlich kommt es vor, daß einige dieser Unglücklichen die Verwegenheit mit dem Tode büßen müssen, sich in diesen hohen Regionen während eines Gewitters auf zuhalten, dessen elektrische Entladungen Schlag auf Schlag folgen. In diesem Gefecht getödtete Kinder werden mit Blumen bekränzt und mit dem größten Pomp beerdigt. Eine große Kalamität bedroht das Land, wenn die Regenzeit, die Ende November eintreten soll, sich verspätet. In den Städten erflehen große Prozessionen die, Gnade des Himmels und die Indianer veranstalten nächtliche Bittgänge bei Fackelschein, bei welchen ihre Kinder splitternackt die Li taneien aufzusagen haben. Ein betäubendes Schauspiel. Die durchsichtige, reine Luft in einer Breite, in welcher beinahe alle Konstellationen sichtbar sind, hat den In dianer bei seinen Reisen, während welcher er häufig unter freiem Himmel schläft, frühzeitig auf das Studium des Fir maments hingewiesen. Es war für ihn wichtig, die Be wegung der Sterne kennen zu lernen, um zur richtigen Stunde vor Tagesanbruch seinen Weg weiter fortzusetzen. Die In dianer wissen, daß die Venus am Morgen und am Abend der gleiche Stern ist. Wann sie sich Morgens zeigt, geben sie ihr den Namen Kantati-Ururi (Stern der Morgendäm merung); Abends heißt sie Tarpur-Kaniri (Abendlicht). Die drei Sterne des Oriongürtels heißen Chaca-Ciltu (es giebt keine Uebersetzung für dielen Ausdruck); sie wissen, daß diese Gruppe Ende Juli vor Tagesanbruch sichtbar wird. Das südliche Kreuz wird mit Guara-Guara-Cruz (Sternenkreuz) bezeichnet. Ende Mai ist der Tagesanbruch durch das zum Borscheinkommen dieser Konstellation ange zeigt. Die zwei Sterne Alpha und Beta des Centauren erhielten den Namen Kaura-Naira (Llama-Augen). Das Beta der Hyder wird Jan-jiguiri (Stern, der nicht stirbt) oder Jan-mantiri (Stern, der nicht verschwindet) benannt. Es ist der Polarstern, der den Indianer in seinen nächtli chen Wanderungen über die Puna leitet. Die zwei unter dem Namen Magellans-Wolken gekannten Nebelflecke muß ten durch ihr Licht die Aufmerksamkeit des Indianers auf sich ziehen. Der größere hat den Namen Koto. Wenn in beiden Wolken eine Menge leuchtender Punkte zum Vor schein kommen, so ist es ihm ein Zeichen, daß starker Frost eintritt, weil eben die Atmosphäre ganz frei von Dünsten ist; ein Umstand, der die Entwickelung einer heftigen Kälte begünstigt. Der Indianer sagt daher: der Koto blüht, der Koto platzt in lauter Sterne, günstige Nacht um die Kar toffeln auszubreiten und Chuüo zu machen. Diese Kennt- niß der Zeiten und Stunden, zu welchen die auffälligsten Konstellationen erscheinen und verschwinden, ist von Vater auf Kind vererbt worden. Durch eine anhaltende Hebung haben ihre Augen und Ohren eine außerordentliche Schärfe erlangt. Von der Spitze eines Hügels vermögen ihre Augen einen Horizont von 15 bis 20 Leguas im Umkreis zu beherrschen. Auf eine Entfernung von zwei Leguas unterscheiden sie deutlich die Thür ihrer Hütte und ihre Llamas, nnd auf die Distanz von einer Legua sind sie im Stande, einen Reisenden bis ins kleinste Detail zu beschreiben, das Thier, das er reitet, und die Kleidung, die er trägt. Die Gauchos der argentinischen Republik sind als aus gezeichnete rastreaäorss bekannt. Die Aymaras stehen ihnen in der Kunst eine Spur (rastro) zu verfolgen nicht nach. Weder die Entfernung noch die Bodenart, steinig oder san dig, noch die unzähligen in den Wegen sich kreuzenden frem den Spuren können sie von der Richtung abbringen, welche das Objekt ihrer Nachforschungen eiugeschlagen hat. Es ist begreiflich, daß der Indianer, der feinen Geist wenig mit Ideen rein spekulativer Natur quält, seine ganze Aufmerk samkeit den ihn umgebenden greifbaren Gegenständen zu wendet. An zwei Sachen, welche sich unseren Augen als absolut gleichartig darstellen, wird er ganz charakteristische Unter schiede finden; während wir so, bloß durch in die Augen springende Merkmale, den Unterschied zwischen Früchten zu erkennen wissen, welche aus verschiedenen Gegenden stammen, findet der Indianer, in Folge einer nachhaltigem Beobach tung, Punkte, in welchen die Früchte seines Nachbars von den seinigen abweichen. Dies kann nur dadurch erklärt werden, daß die Lage, Bodenbeschaffenheit, Lufttemperatur gewisse Variationen erzeugt, die eben nur vom Indianer wahrge nommen werden können. So ist er in den heißen Hungas im Stande anzugeben, von welcher Hacienda aus seiner Nachbarschaft die ihm vorgelegten Cocablätter stammen! Aus der zu einem Gewebe verarbeiteten Llamawolle ist es ihm möglich zu beweisen, daß sie einem ihm gestohlenen Thiere angehört hatte, den Urheber des Diebstahls zu ent decken. Häufig kommen Klagen dieser Art vor den Dorf- Alkaldes zur Verhandlung, welche meistens den Schuldigen überführen und zum Geständniß seiner That bringen. Man hat sogar schon gesehen, daß sie ans anfgefundenen Knochen die Identität eines ihnen abhanden gekommenen Thieres fest zustellen wußten durch die, man kann sagen, anatomische Kennzeichnung der vorgelegten Beweisstücke. Ob die Prozeßsucht schon zu Zeiten der Jncas existirt hat, oder ob sie erst durch die Spanier zur Blüthe gebracht worden ist, läßt sich nicht mehr entscheiden. Das Letztere ist jedoch das Wahrscheinlichere. Soviel ist sicher, daß die In dianer, besonders die Comunarios, ein zahlreiches Kontin gent zu der Legion von Prozessen stellen, die von einem Schwarm von Winkeladvokaten systematisch ins Leben geru fen werden. Zu Bergen schwellen die Prozeßakten an. Der des Lesens und Schreibens unkundige Indianer ist aber dennoch im Stande, aus dieser Fluth von Papieren ein ihm bezeichnetes beliebiges Dokument herauszuziehen, wenn er einmal mit dessen Inhalt bekannt gemacht worden ist. Er sixirt sich hierbei einzig in die Falten, das Korn und die Struktur des Papieres. Die Gegend, die der Indianer ein mal betreten hat, prägt sich seinem Gedächtniß unauslösch lich ein. Dazu gehört auf dem Hochplateau der Anden, wo mitunter viele meilenweit sich erstreckende, vegetationslose Steppen mit dem Horizont zusammenfallen, ein ganz aus geprägter Ortssinn. Nicht allein das Sehen, auch die ande ren Sinne kommen ihm bei seiner Orientirung zu Hülfe. Bon vielen Beispielen nur eins. Ein Offizier hatte Depe schen an einen von der gewöhnlichen Route abliegenden Punkt zu bringen und nahm einen Indianer als Wegweiser mit. Mitten in der Nacht hält der Führer an und sagt: