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78 W. Keßler: Ein Volk auf dem Niedergange. scheinlich hat man indessen ihn mit der schonenden Rücksicht behandelt, welche im Kaukasus stets auch der sonst nicht ge rade feingebildete Eingeborene seinem Gaste gegenüber beob achtet. Uebrigens muß man den grusinischen Zechern eins lassen, daß sie nämlich sich niemals betrinke n. Wohl bringen sie halbe Tage mit Trinkgelagen zu, werden lustig und auf geräumt und singen ihre nicht gerade melodischen Trinklieder zu den Klängen der primitiven asiatischen Musikinstrumente, aber niemals erlebt man Streit und Zank; niemals sieht man sinnlos Betrunkene nach Haus schwanken oder gar auf den Gassen umherliegen. Es mag dies wohl zum Theil mit dem Umstande verdankt werden, daß stets während des Trinkgelages gegessen wird; am meisten beliebt sind salzige und pikante Sachen und frisches Grünzeug, wie Zwiebeln, Gurken, Estragon und dergleichen. Auch darf niemals ein Hammelspießbraten, der sogenannte Schischlik, fehlen. Ueberhaupt ist eine solche asiatische Zecherei ungleich schöner arrangirt, als dies in Deutschland bei solchen Gelegen heiten zu geschehen Pflegt. Fast stets sind die Gelage im Freien; die Tafel, wenn eine solche existirt, oder sonst der Teppich, ans dem man sitzt, ist mit Blumen reich bestreut; Blumen auch hält jeder der Tischgenossen in den Händen. Wenn man bei solchem Anblick an die verräucherten schmierigen von Tabaksrauch erfüllten deutschen Kneiplokale denkt, in denen die deutsche Jugend eifrigst bestrebt ist, ihren Magen mit dem häufig entsetzlichen Gebräu, welches den Namen Bier führt, zu ruiniren und überhaupt ihren Körper als einen lebenden Filtrirapparat zu mißbrauchen; wahrlich, so kann man nur mit Bedauern auf diese „Fortschritte der Kultur" gegenüber den verachteten Sitten der „wilden" Asiaten blicken. Es ist übrigens in vieler Hinsicht recht bezeichnend, daß grusinisches Volksleben sich am meisten noch bei diesen Trink gelagen zeigt. Ein sinnlicher, leichtsinnig materieller Zug charakterisirt überhaupt die Grusiner, welche darum auch weit weniger an geistigen Leistungen aufzuweisen haben, als z. B. ihre alten Nachbarn und Schicksalsgenossen, die Ar menier. Abgesehen von der alten grusinischen Literatur, welche ungleich unbedeutender ist, als die armenische, ist auch neuerdings kaum irgend hervortretendes literarisches Le ben auf dem Gebiet der grusinischen Sprache zu bemerken. Allerdings erscheint zu Tiflis eine grusinische Zeitung; auch findet zuweilen eine grusinische Theatervorstellung statt; aber für eine Stadt, welche als die frühere Hauptstadt Grusiens recht eigentlich die grusinische Kultur repräsentiren sollte, ist dies Alles doch verzweifelt wenig. Allerdings schwindet auch der Procentsatz der grusinischen Bevölkerung im Ver gleich zu den übrigen Nationalitäten in Tiflis immer mehr; gegenwärtig sind unter den circa 120 000 Einwohnern von Tiflis nur noch etwa 20 000 (also circa 17 Proc.) Gru siner, während die Armenier über 40 Proc. und die Russen ebenfalls circa 17 Proc. ausmachen. Auch läßt sich nach weisen, daß der Procentsatz der Vermehrung seit früheren Jahren bei den Grusinern verhältnißmäßig am niedrigsten gewesen ist. Von jenen 20 000 Grusinern gehören übrigens weit mehr als ein Drittel dem Adelsstände an. Mehr als in Tiflis herrscht noch nationalgrusinisches Leben in Kutais, der Hauptstadt Imeretiens. Hier ist die grusinische Sprache wirklich noch die Verkehrs- und Um gangssprache selbst in den besseren Kreisen, die sich in Tiflis schon beinahe ihrer Muttersprache zu schämen scheinen. Nach europäischen Begriffen ist übrigens die grusinische Sprache keineswegs schön und wohllautend mit ihren vielen harten und rauhen Tönen; auch ist sie für den Europäer nur schwer zu erlernen. Daß es auch unter den Grusinern lobenswerthe Ausnahmen giebt, welche die geistige Kultur- Europas kennen und in nationalem Sinne für ihr Volk zu verwerthen streben; auch selbst Tüchtiges für die Wissenschaft zu leisten suchen, wie der gelehrte und fleißige Bagradse, dem wir sehr schätzenswerthe archäologische und historische Arbei ten verdanken, kann die allgemeine Regel nicht entkräften. Im Allgemeinen hat das Eindringen europäischer Kultur den nationalen Verfall nur beschleunigt, und selbst die gut gemeinten und anerkennenswerthen Maßregeln der russischen Regierung, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft und die son stigen Versuche zur Hebung der durch jahrhundertelange Hörigkeit gefesselten Landbevölkerung, haben ihren Zweck großentheils verfehlt. Während bei dem Adel ein gewisser chevaleresker Leicht sinn ernste Arbeit und Sparsamkeit nur zu sehr hindert, ist das gemeine Volk, dessen Genügsamkeit außerordentlich wenig zur Befriedigung seiner Ansprüche verlangt, zu träge und zu apathisch, um irgend welche erheblicheren Anstrengungen zur Verbesserung seiner Lage zu machen. Nur eine Tugend haben die Grusiner aus der Zeit ihrer Blüthe und Selbständigkeit sich bis heute bewahrt: die Tapferkeit. Wie das verhältnißmäßig wenig zahlreiche Volk Jahrhunderte lang sich gegen die Uebermacht der Tür ken und Perser und andererseits gegen die Ueberfälle der feindlichen räuberischen Gebirgsvölker, besonders der Les- ghiner, zu Vertheidigen gewußt hat, wie keine Qualen und Martern Grusiner vermocht haben, ihrem alten Christen glauben, von dem sie nicht viel mehr als das äußere Cere- moniell kannten, untreu zu werden; so haben auch noch in den Kriegen der Russen gegen die Bergvölker die Grusiner die wesentlichste Rolle gespielt. Ohne die heldenmüthige Tapferkeit der grusinischen Miliz würden Tscherkessen und Lesghiner noch heute schwerlichunterworfen sein. Die Gru siner sind zumal als Fußsoldaten bei asiatischer Kriegführung eine unübertreffliche Truppe. „Stark und schön sind Grusiens Söhne" heißt es in einem alten grusinischen Liede, und cs ist wahr; zumal in den oberen Klassen sind herrliche körperliche Erscheinungen nicht selten. Die breite gewölbte Brust und die dabei doch elegante Taille, und der hohe Wuchs verleiht dem Grusiner etwas Ritterliches, das allerdings nicht selten in späterm Alter vor einem weniger schönen Embonpoint verschwindet. Und dann die Frauen! Nicht umsonst haben zahllose Dichter die Schönheit der Georgierinnen gefeiert. Vielleicht findet man wirkliche Schönheiten auch hier recht selten, zu mal die Eigenthümlichkeiten des echt grusinischen Typus, relativ niedrige Stirn und hervortretende nicht selten große Nase, nicht Jedermanns Geschmack sind, aber dafür sind fast alle weiblichen Erscheinungen während ihres jüngern Alters wenigstens gesund und nicht ohne hohe körperliche Reize. Verkümmerte Mädchengestalten wird man hier kaum finden. Daß die grusinischen Frauen ohne geistiges Interesse und meist ziemlich sinnlich sind, liegt an ihrer Erziehung; auch mögen sie leichter und rascher altern als die Frauen westeuro päischer Länder. Aber auch hierin giebt es genug rühmliche Ausnahmen, und das Beispiel der letzten Königin von Gru- sien, der heldenmüthigen Maria, und der schönen Nina Orbe- liani, welche ihren geliebten Gatten, den Dichter Gribogsdoff, dreißig Jahr lang beweinte, ohne seinem Andenken untreu zu werden, beweist, daß auch die edelsten Frauentugenden nicht fremd sind unter den Töchtern des uralten, leider, wie cs scheint, dem Untergang geweihten Grusinervolkes.