Volltext Seite (XML)
302 F. Ratzel: Die chinesische Auswanderung seit 1875. Wladiwostock und Nikolajew haben damit die Chinesen in Händen." Wiederholte Versuche der russischen Regierung, die Chinesen nicht allzu zahlreich in diesem Gebiete werden zu lassen, haben wenig Erfolg gehabt. Während man ihre Einwanderung über die weitgestreckte Landgrenze nicht ver hüten kann, darf man sie aus den Seeplätzen aus Rücksicht auf deren wirthfchaftliche Interessen nicht verdrängen. So hat man sie auch zuletzt auf Saghalin einwandern lassen müssen, wo merkwürdigerweise noch zur Zeit, wo Saghalin japanisch war, die Russen die Einfuhr von 100 chinesischen Arbeitern für die Kohlenbergwerke untersagt hatten. Heute arbeiten mehrere Hundert derselben nebst Koreanern und Ainos in den Kohlenbergwerken und an der Küste. Die größte Zahl der Chinesen und diejenigen zugleich, welche am meisten von sich reden machen, wohnen am Ussuri als Landleute und Räuber. Mit dem sogenannten Ussurigebiete, welches 1858 durch den Vertrag von Aigun und durch den Zusatzvertrag von Peking von China an Rußland abgetreten ward, hat Rußland seinen Unterthanen eine Anzahl von Chinesen zugefügt, welche nicht von erster Qualität waren. China hatte hier Verbrecherkolonien be sessen, außerdem waren nördlich von Ninguta ungesetzliche Goldwäschereien betrieben worden, welche zu einer Zeit 30000 bis40000 Arbeiter beschäftigt haben sollen („GlobuS" 1880, II, 174), und es war dieser nordöstlichste Winkel des Reiches eine thatsächlich halb unabhängige Zufluchtsstätte der Unterdrückten und Gesetzlosen geworden. Auch die umherstreifenden Ginsengsammler und Pelzjäger waren keine sehr ordentliche Unterthanenschaft. Als nun die Abtretung unter Ziehung einer Grenze, die angeblich für Rußland nicht sehr günstig war, bewerkstelligt wurde, verbot die chinesische Regierung den Beamten der Grenzbezirke Weiter- Pässe an chinesische Auswanderer nach dem Ussurigebiet zu verabfolgen und untersagte allen chinesischen Weibern, sich näher als 50 Km von der russischen Grenze aufzuhaltcn. Zugleich suchten jetzt die Mandarinen das Goldwäschen in der Nähe der russischen Grenze zu verhindern. Dieses alles wirkt zusammen, uni im Ussurigebiete, dessen Sprache und Verhältnisse den neuen Herrschern gänzlich fremd waren, einen Zustand der Verarmung und damit der Gesetzlosigkeit zu schaffen, welcher heute zu einer wahren socialen Krank heit ausgeartet ist. Aus den gesetzlosen Goldwäschern und anderen Desperados hat sich ein ständiges Räubervölkchen, die Chunchuscn, auf der Grenze gebildet, das verwegen und vorzüglich bewaffnet ist und welches mit den ansässigen Chinesen, den sogenannten Mantzen, in einer maffiaartigen Verbindung steht, indem diese die Hehler und Verbergen, die Spione, Proviantznfnhrcr und Kaufleute machen oder gar die Chunchusen offen in ihren Räubereien unterstützen. Bis heute ist cs den Russen nicht möglich gewesen, diesem Uebel an die Wurzel zu kommen, theils weil cs jenseits der Grenze, wo es nicht mit gleicher Energie verfolgt wird, immer wieder Schlupfwinkel und Rekruten findet, theils auch, weil die Russen selbst bisher zu wenig Fühlung mit den Mantzen hatten und in ihren Verhandlungen fast ganz auf Dolmetscher angewiesen waren, in deren Ehrlichkeit man kein Vertrauen setzen darf. „Bis zur Stunde," schrieb 1880 Th. Busse im „Golos" (vgl. „Globus" Bd. 38, S. 173), „weiß die russische Administration des Ussurigebietes nicht, wie groß die chinesische Bevölkerung daselbst ist, sie weiß nicht, wie und wo sic lebt und wie sie organisirt ist. Man hat Grund zu vermuthcn, daß die Mantzen sogar noch jetzt der chinesischen Regierung Abgaben zahlen, welche von inooKnito reisenden chinesischen Beamten eingesammelt werden" (!). In den letzten Jahren scheint nun noch, wohl im Zusammenhänge mit dem allgemeinen Drängen nach der Mandschurei und Mongolei, welches durch die Hungers noth in Nordchina hervorgerufen ward, die chinesische Ein wanderung nach dem Ussuri- und Amurgebiete sowohl zur See als zu Lande so stark zugenommen zu haben, daß im Laufe des Jahres 1880 (beim Wachsen der kriegerischen Aussichten) die russische Regierung es angezeigt fand, diesen Zudrang von Chinesen, wie schon früher, abznwehren. Im April 1880 erließ das russische Konsulat in Schanghai eine Bekanntmachung, welche die Einwanderung von Chine sen nach jenen Gebieten von dem Besitz eines Konsulats passes abhängig machte. Zugleich wurde auch die Einwan derung von Chinesen über die Binnenlandgrenze schärferer Beaufsichtigung unterworfen und die militärische Polizei besonders in Kjachta verstärkt. Uebrigens waren diese Vor sichtsmaßregeln auch zum Theil wieder durch Gesetzlosig keiten verursacht, welche an den asiatischen Grenzen nicht ungewöhnlich sind, im Amurgebiet aber während des Früh lings 1880 eine sehr bedenkliche Gestalt annahmen. So brachen z. B. im April 17 Chunchusen (in den europäisch chinesischen Blättern Honghusas genannt), welche sämmtlich beritten und mit Winchester - Repetirgewehren versehen waren, iu die koreanische Niederlassung Sidima im Ussuri gebiete >) ein, in welcher sie ohne Widerstand raubten, mor deten und brannten, und einige Mal traten sie in solcher Stärke über die Grenze, daß man in Wladiwostok und Nikolajewsk an das Herannahen größerer chinesischer Trup penkörper glaubte. Ueberblicken wir diese vier Kolonisations-, Auswan- dcrungs- und Handelsgebiete der Chinesen, welche man zu sammenfassend die nordöstlichen nennen könnte, so finden wir eine eigentliche Ackerbaukolonie in der theilweise schon dicht bevölkerten Mandschurei, welche aus einem Nebenlande des chinesischen Reiches immer mehr eine der werthvollsten Provinzen desselben zu werden verspricht. Die mand schurische Bevölkerung wird trotz ihrer zahlreichen Privilegien immer mehr von der chinesischen zurückgedrängt oder unter Verlust ihrer Sprache und nationalen Sitten in dieselbe ausgenommen. So wie der Süden als Liaotong bereits in den engern Verband des Reiches ausgenommen ist, ver spricht die ganze Mandschurei einst ein echter Theil des chinesischen Reiches zu werden. Ihre vorzügliche Geeignet heit für den Ackerbau befähigt sie dazu in hervorragendstem Maße. Die angrenzenden Theile von Korea (der neutrale Grenzstrich) sowie des Amur- und Ussurigebietes beginnen bereits in die Bewegung hineingezogen zu werden. Jener ist ausschließlich durch die Kolonisation für die Chinesen im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte gewonnen worden, wäh rend die russischen Behörden in diesem mit Gewalt sich die Chinesen vom Leibe zu halten suchen. Wie lange dieses möglich ist, fragt sich bei der Schwierigkeit der Herbeiziehung Die korcanijche Einwanderung nach dem Amur-Gebiet, welche in den sechsziger Jahren nach wiederholten Hungerjahren, von denen Korea heimgesucht ward, begann, hatte trotz aller Hemmnisse, welche ihr die koreanische Regierung in den Weg legte, schon 1874 4<X>0 Koreaner über die Grenze geführt. Diese Kolonisten werden als fleißige, lenksame Leute geschildert, und wurden demgemäß von der russischen Verwaltung mit ofse- nen Armen ausgenommen. Vielleicht legte man dieser Ein wanderung auch schon damals eine etwas weitergehende Be deutung bei. Wenigstens schrieb schon 1874 ein Berichterstatter in den „Forschungen der sibirischen Abtheilung der Russ. Geo graphischen Gesellschaft": „Diese Auswanderung kann nicht ohne nachhaltigen Einfluß auf die politischen Beziehungen Koreas bleiben. Entweder kommt die koreanische Regierung zur Ein sicht, daß sie mit ihrer strengen Verschließung des Landes eine fehlerhafte Politik verfolgt, oder die Furcht vor den russischen Annexionsgelüsten treibt sie zu einer Unbesonnenheit." Das erstere scheint sich gegenwärtig verwirklichen zu wollen.