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252 Die Wege aus dem russischen Turkestan nach Merw. jeden, der nicht die ganze Leere der Schintorckigion kennt. Das ganze Jahr hindurch, vorzugsweise im Frühjahr, pil gern Tausende und Zehntausende von Gläubigen hierher; bis vor Kurzem glaubte kein Kaufmann, kein Handwerker sein Gewerbe mit Vortheil betreiben zu können, wenn er sich nicht aus Iss einen mit dem Namen der Hauptgottheit Ten- schoko-daidschin beschriebenen Papierstreifen geholt hatte; für das Wohl jeder Familie galt der Besitz eines andern Zettels, des sogenannten o-üarai, der jedes halbe Jahr in Iss in einen neuen umgetauscht werden mußte, für unerläßlich. Ein ganzes System von hohen Holzzäunen, zu dem man durch mehrere steinerne torü, die wie große Galgen aus sehenden symbolischen Thore des Schinto gelangt, schließt als Kern und Allerheiligstes den von Priestern bewachten Scho den oder heiligen Schrein ein, ein etwa 30 Fuß langes, 18 Fuß breites, auf vier Pfählen stehendes hölzernes Bauwerk, das mit einem Dache aus Baumrinde bedeckt ist, und zu dem mehrere Stufen hinaufführen. Vier hölzerne Kasten, in deren jedem ein in ein Stück Brokatstoff gehüllter Spiegel, die Gottheit, liegt, machen den Inhalt des Schreines aus. Der ursprüngliche Spiegel von Iss, von dem alle übrigen nur Kopien sind, stellte die große Sonnengöttin, die „Mut ter des Mikadogeschlechtes", vor; alle Erklärungen dieses Spiegels als „Spiegel der Wahrheit" oder „der menschlichen Seele" sind erst später und zwar nicht von Anhängern des Schintoismus, zur Jdealisirung dieses Ueberrestes eines ro hen Natur- und Mythendienstes erfunden worden. Dem echten Schintoisten, für den ein Besuch von Iss ein Lebens- ereigniß ist, der täglich, er möge sich befinden, wo er wolle, sein Haupt ehrfurchtsvoll nach der Richtung der „Göttlichen Paläste der heiligsten Götter von Iss" beugt, ist eine der artige Symbolik kein Bedürfniß, denn diese seltsame Reli gion ist heute nur noch Form; von einem ethischen Gehalt ist nichts vorhanden. Von Jamada aus begab sich Miß Bird noch über Tsu, eine Stadt mit 83 000 Einwohnern und, trotz der Nähe der Jssheiligthümer, ausschließlich bud dhistischen Tempeln, nach Otsu am Biwa-See. Rings um diesen in seiner größten Ausdehnung 45 engl. Meilen lan gen See liegen nicht weniger als 1800 blühende Dörfer und außer Otsu noch mehrere Städte. Die gebirgige, wald reiche Gegend an der westlichen Seite des Sees, die schönen Jadojas und Theehäuser an seinen Ufern machen ihn zu einem beliebten Ziel für Vergnügungsreisende aus allen Theilen Japans. Am 15. November wieder in Kioto eingetroffen, ver weilte Miß Bird noch einige Tage hier; dann trat sie über Osaka und Kobe ihre Rückreise nach Tokio an. Vom 8. bis zum 19. December hielt sie sich hier auf, unablässig bemüht, ihre Kenntniß des japanischen Volkes und seines Lebens zu vervollständigen. Am 19. schiffte sie sich auf dem Dampfer „Wolga" nach England ein. Die Wege aus dem russischen Turkestan nach Merw. i. Mit der Einnahme von Gök-tepe haben die Russen bei ihrem Vorgehen vom Kaspischen Meere aus gegen Merw die Hälfte des Weges zurückgelegt, und wohl den schwieriger» Theil der Aufgabe, die sie sich hier gestellt haben, gelöst. Es dürfte von Interesse sein, nun auch die Vorstudien ken nen zu lernen, welche sie für das Vorgehen gegen Merw von Norden, von ihren turkestanischen Besitzungen aus, ge macht haben, so wie sie in den Rekognoscirungberichten rus sischer Offiziere vorliegen. Daß Gök-tepe nur eine Etappe für weiteres Vorrücken sein soll, daß Rußland entschlossen ist, den ganzen kultur fähigen Oasenstreifen am Südrande der Turkmenen-Steppe und längs der persischen Grenze in seine Gewalt zu bringen, dafür besitzt man, wenn es überhaupt eines Beweises bedarf, ein untrügliches Zeugniß in dem Ausspruche eines höhern russischen Offiziers. Der Oberst Kostenko veröffentlichte im Jahre 1880 eine militürstatistische Beschreibung des turkestanischen Militärbezirks, ein Werk, welches Seitens des russischen Kriegsministcriums der Armee offiziell zum Studium empfohlen wurde. Im Schlußworte dieses Wer kes sagt der Verfasser über die Turkmenen - Frage wörtlich Folgendes: „Die Lösung der turkmenischen Frage ist im Principe leicht, da wir ja die Erfahrung bei Lösung der völlig ana logen kirghizischen Frage vor Augen haben. Der in den Jahren 1864 bis 1865 bewirkten Herstellung einer Ver bindung unserer westsibirischen und orenburgischen Grenze entspricht jetzt eine Verbindung der Grenzen des turkestanischen und des kaukasischen Militärbe zirks. Nur durch eine solche Verbindung der Grenzlinie zwischen den genannten beiden Militärbezirken wird die Ruhe in der Turkmenen-Steppe herzustellen und der Feindschaft zwischen den verschiedenen Turkmenen-Stämmen ein Ende zu machen sein; dann wird ein geregelter Handelsverkehr aus dem Bassin des Amu nach dem Ostufer des Kaspischen Meeres sich einrichten und eine direkte Verbindung des euro päischen Rußlands mit Mittelasien sich eröffnen lassen, d. h. der Gedanke, den der Genius Peter's des Großen uns hinterlassen hat, findet seine Ver wirklichung. Die Verbindung der Grenzen zwischen den Bezirken Turkestan und Kaukasus wird auch noch einen an dern wesentlichen Vortheil bringen. Unsere Gebiete gren zen dann unmittelbar an Persien und nähern sich den Gebieten Englands, d. h. wir kommen in Berührung mit Mächten, welche internationale Vertrüge zu halten wissen, und mit denen das Eingehen regelrechter Beziehungen mög lich ist. Besonders nützlich wird für uns die Nachbar schaft eines so starken und mächtigen Reiches wie Eng land sein. Die Furcht der Engländer vor unserer Annähe rung an die Grenzen Indiens verschwindet allmälig, sie überzeugen sich, daß keine ehrgeizigen Gedanken und keine anderen eigennützigen Berechnungen Rußland bei seiner vor schreitenden Bewegung in Mittelasien leiten, als nur der Wunsch dieses Gebiet zu beruhigen, seine produktiven Kräfte frei zu machen und den kürzesten Weg für den Absatz der Produkte Turkestans nach dem europäischen Theile Rußlands zu eröffnen." Wie man also der Kirghizen Herr wurde, indem man durch Vorgehen von Orenburg und Westsibirien aus das kulturfähigc Gebiet längs des Syr-darja im Süden der