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216 Isabella L. Bird's Reise durch Japan. kommend, schwere Lasten an Reis und Saköfässern nach Aomori bringen, von wo dieselben nach Jcsso verschifft wer den. Die Dörfer am Wege bestehen aus Lehmhütten elen dester Art und niedrigen, roh aus Balken, Baumrinde und Strohbündeln zusammengefügten Häusern, deren unsaubere, verfallene Dächer oft durch das dichte Blätterwerk üppig cmporrankender Wassermelonen mitleidig verdeckt werden. Die Bewohner sehen schmutzig und vernachlässigt aus, machen jedoch nicht den Eindruck der Armuth; in der That sollen sie auch in dieser Provinz durch das Vermiethen von Last pferden fast das ganze Jahr hindurch eine reichliche Ein nahmequelle haben. Die Aomori-Bai mit ihrem Kranze von tannenbestan- dencn Bergen wurde gegen Sonneuuutergang am I I. August erreicht; von einem Aufenthalt in Aomori, der grauen, auf grauem sandigen Strande gelegenen kleinen Hafenstadt, be freite Miß Bird die erwünschte Kunde, daß ein Dampfer der Mitsu-Bischu-Linie noch an dem nämlichen Abend nach Hakodate abgehen werde. Eine stürmische nächtliche Ueberfahrt von 14 Stunden brachte die Reisende über die Tsugaru-Straße. In Regen und Nebel zeigte sich bei Sonnenaufgang die felsige Küste von Jesso mit ihren hoch emporragenden Bergen. Ein an Gibraltar erinnernder mächtiger Felsvorsprung, dann eine vom breiten Hafenstrande steil bergansteigende Stadt, vereinzelte Kryptomerien und andere Nadelholzbäume und dahinter eine Berglandschaft von großartigen, durch keinen Baumwuchs gemilderten Formen, in der mehr als ein Gipfel die Zeichen noch nicht lange vergangener vulkanischer Thütig- keit zeigt: dies sind die ersten Eindrücke, die man von Hako date, dem Haupthafen des nördlichen Japans, empfängt. Die Stadt, deren Einwohnerzahl sich seit dem Jahre 1859 von 6000 auf 37 000 Seelen vermehrt hat, trügt trotz der vielen europäischen Gebäude — denn im Besitze zahlreicher und großartiger Institute der neuen Aera wett eifert sie mit den begünstigtsten Städten der Hauptinsel — einen rein japanischen Charakter. Seitdem die japanische Küstenschifffahrt einen so mächtigen Aufschwung genommen, hat Hakodate seine Bedeutung als Handelshafen für die Schiffe fremder Nationen allmälig eingebüßt: nicht aber seine Wichtigkeit für den Handel überhaupt; denn die japa nischen Transportdampfer sind als Vermittler eingetreten und der Import und Export von Hakodate nimmt alljährlich zu. Die Insel Jesso, das Hokkaido der Japanesen, wird nicht mit Unrecht von der japanischen Regierung als ein mäch tiger Faktor der dereinstigen Größe des Reiches betrachtet. Das fast 90000 <ikm große, zum Theil noch unerforschte Jnselland birgt in seinen weiten fruchtbaren Bodenstreckcn, seinen ungeheuren Wäldern und seinen noch ungehobenen mineralischen Schätzen eine fast unerschöpfliche Quelle des Reichthums für Japan in sich. Die Einwohnerzahl von Jesso soll heute nicht mehr als 123 000 Seelen betragen; davon kommen allein 56 000 auf die drei Städte Hakodate, Matsumai und Satsuporo. Matsumai, dicht an der Süd spitze der Insel gelegen, war zur Zeit der Schoguns Sitz eines mächtigen Damno, des Statthalters von Jesso; heute ist Regierungshauptstadl das im Laude am Jschkari gelegene Satsuporo, die Schöpfung des Kaitakuschi oder des Koloni- sativnsdepartements, der mit der Verwaltung von Jesso be trauten Behörde. Die 3000 Einwohner zählende Stadt ist im Stil der neuen amerikanischen Städte in größter Regel mäßigkeit angelegt. Ihr genau nach dem Vorbilde des Kapitols von Washington ausgeführtes, großartiges Regie- rungsgebäudc kennzeichnet die eine, schwache Seite der Be strebungen des Kaitakuschi: die Seile nämlich der kostspieli gen, den thatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechenden Versuche; die reich angebaute Ebene nm die Stadt aber, die nach dem Muster des Agricultural College von Massachu setts eingerichtete landwirthschaftliche Lehranstalt mit ihren Versuchsstationen und Baumschulen, und endlich die blühen den industriellen Etablissements der Regierung, Säge- und Mahlmühlen, Gerbereien, Seidenspinnereien u. s. w. legen das glänzendste Zeugniß für die Fähigkeit der Behörde ab. Da die Insel in ihren ganzen Verhältnissen und der Art ihrer Produkte von allen übrigen Theilen des Reiches durchaus abweicht, ist auch das für sie zur Anwendung kommende Besteuerungssystem des Kaitakuschi ein anderes als das des heutigen Japan. Die Einwohner von Jesso zahlen nur Produktionssteuern, die aber, der kostspieligen Verwaltung des Landes möglichst entsprechend, unverhältniß- mäßig hoch normirt sind. Die von einer Bevölkerung von noch nicht 125 000 Seelen aufgebrachte Steuersumme be trug in den letzten Jahren etwa 1450000 Mark jährlich; und dieser die Landwirthschaft ebenso wie den Fischfang und jede andere Ausnutzung der natürlichen Reichthümcr des Landes hemmende Umstand läßt, trotz aller sonstigen Begünstigungen der japanischen Ansiedler auf Jcsso, die Kolonisation der Insel nur langsam vorschreiteu. Mit Aus nahme der weiten Ebene von Satsuporo finden sich ange baute Landstrecken nur an der Küste vor, und hier zwar auch nur in einigen Theilen und stets unterbrochen durch sumpfige Waldstriche und ausgedehnte Grasflächen. Das waldreiche gebirgige Innere sendet der Küste eine große An zahl fchncllfließender, häufige Ueberschwemmungen verur sachender Flüsse zu, deren bedeutendster der durch seinen Neichthum an Lachsen berühmte Jschkari ist. Die von dichten Schlingpflanzen durchwobenen, zum großen Theil sumpfigen Waldungen enthalten nicht weniger als 36 ver schiedene werthvolle Holzarten; der Kohlenreichthum der Insel wird auf 150 000 Mill. Tonnen geschützt. Bon den zahl reichen Vulkanen Jessos sind mehrere heute noch thätig, viele andere trotz längerer Ruhe doch nicht als erloschen zu be trachten. Bietet so die Insel in mannigfacher Beziehung ein in teressantes Gebiet für verschiedenartige Forschungen, so kou- zcntrirt sich ihr Hauptinteresse für den Reisenden doch fast ausschließlich iu den Ucberresten ihrer ursprünglichen Bevöl kerung, dem kleinen Aino-Volke, in dem wir wahrschein lich auch die Ueberreste der durch spätere Eindringlinge ver nichteten Aboriginer aller japanischen Inseln sehen dürfen. Nach einem im Jahre 1873 veranstalteten Census beläuft sich die Zahl des friedlichen, von Jagd und Fischfang leben den Wildenvolkes auf etwa 12 000 Seelen, eine Zahl, die nach den Berichten des Kaitakuschi in steter Abnahme be griffen sein soll. Die Schwierigkeiten, die sich gerade hier einer Zählung entgegenstellen, lassen jedoch begründete Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben zu; Mr. Enslic, der britische Konsul iu Hakodate, schätzte im Jahre 1863 die Aino-Bevölkerung von Jesso auf 200 000 Seelen; wohl unterrichtete Einwohner von Hakodate, welche Bliß Bird über diesen Punkt befragte, hielten 25 000 für die richtige Zahl; und nach allem, was die Reisende selber von den rcichbevölkerten, dicht bei einander liegenden Dörfern der Ge birgs-Ainos sah, ist auch sie geneigt, die Schätzung des Kai takuschi-Departements als viel zu niedrig gegriffen zu ver werfen. Nach kurzem Aufenthalte in Hakodate trat Miß Bird ihre lange projektirte Reise in das Innere an, als deren Resultat sie eine Reihe von Beobachtungen über die Ainos heimgebracht hat, die unsere bislang dürftige Kenntniß des interessanten Volkes bedeutend erweitern. Auf einem mäßig guten Wege, der von Hakodate nordwärts durch mehrere