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184 F. Ratzel: Die chinesische Truppen gestanden haben. Die Turkestaner Zeitung vom 22. Juni gab die Zahl der Truppen in Tschugutschak zu 1000 Tschampans, in Sarlytain ebensoviel und in Aktam zu 500 an. 1879 gingen viele Klagen über Grenzver- lctzungen durch diese, wie immer, sehr undisciplinirten Bande durch die russischen Blätter. Der chinesische Gouverneur iu Tschugutschak sollte einigen russischen Unterthancu die Ohren haben abschneidcn lassen und die Grenzstriche sollen ebenso radikal verwüstet worden sein, wie vor 1871. Der am 21. Januar 1881 endlich von Rußland und China ge schlossene Vertrag dürfte, wie man fürchtet, beim Rückzug der Russen noch weitere Ausschreitungen gegen die von den Chinesen am meisten gehaßten Tarantschen bringen. Man begreift daher sehr wohl, daß die Russen in diesem neuen und, wie es scheint, endgültigen Vertrag sich ein Stück Land zurückbehalteu haben, nm die mit ihnen das Territorium verlassenden Dunganen und dergleichen darauf anzusiedeln. In Ost-Turkestan oder Altischar war die Lage der Chinesen vor dem Einmarsch ihrer Landsleute eine höchst trau rige. Nur diejenigen unter ihnen, welche den Glauben Mo- hammed's angenommen, sich in tatarische Tracht gesteckt, und den Zopf abgeschnitten hatten, wurden von den wüthenden Fanatikern verschont. Um sie besser unter den Augen zu hal ten, wurden die meisten von ihnen nach den Hauptstädten ge bracht, wo sie als „Hangi" sich mit den niedrigsten Diensten ihr Leben fristeten. Bellew fand 1874 ihre zerlumpieu Hau fen an den Thoren von Harland wie sich in China die Armen um die Stadtthore zu drängen pflegen, wo sie von den Rei senden oder Thorwächtern für kleine Dienste ihre Pfennige empfangen. Doch gab es anch noch manche Gewerbe, in denen sie ihre Kunstfertigkeit bethätigten und für welche sie das Monopol behalten hatten, welches ihr Wissen und Kön nen ihnen verschaffte. Tas Uebergewicht ihrer Kultur war kaum erschüttert. „Alles in diesem Lande/' sagte ein Ein wohner von Artosch zu Bellew, „ist chinesisch: unsere Klei dung, unsere Sitten, unsere Geräthe und Speisen/' Die Jadeit-Industrie, einst die originellste und werthvollste von Harkand, war indessen ganz in Verfall gerathen, ebenso der Bergbau auf diesen von den Chinesen so hochgeschätzten Stein. Forsyth sah bei Jakub Beg eine große Sammlung desselben. Auf dem chinesischen Markt kam jetzt von dieser Seite nur noch das, was die russischen Kaufleute an ver arbeitetem Jadeit im Lande aufkauften. Ueberhaupt ent wickelte sich der Handel mit Rußland, der unter der Herr schaft der Chinesen nur in schwachen Anfängen vorhanden gewesen, nach dem Sturze derselben ganz erheblich. Auch die Engländer suchten von diesem Ereigniß Gewinn zu zie hen. Die indische Regierung gründete 1866 einen Markt in Palampur, um die Entwickelung des Handels mit Kasch gar und Harkand über Klein-Tibet zu fördern. 1868 machte Shaw seine Reise nach Kaschgar und Harland, wel chem 1870 ein Gesandter des Atalik Ghazi an den Vice könig von Indien folgte. Noch in demselben Jahre ging von Indien eine Gesandtschaft unter Forsyth an den central asiatischen Herrscher ab, welcher 1871 eine Gesandtschaft dieses an den Vicekönig folgte. 1871 schloß Baron Kaul bars in Harkand einen Handelsvertrag für Rußland und 1873/74 ging wiederum eine englische Gesandtschaft nach Kaschgar. Mit der Besetzung des Landes durch die Chine sen hörten alle diese Bortheile auf und eine halbamtliche Gesandtschaft, welche 1880 unter Ney Elias aus Indien nach Harkand ging, wurde von den chinesischen Behörden zwar freundlich ausgenommen, aber in allen Handelssachen mit leeren Versprechungen abgespeist. In Kaschgar fanden Bellew und Forsyth noch einen Auswanderung seit 1875. Rest der chinesischen Truppen, etwa 3000 Mann, welche nach chinesischer Weise gekleidet und bewaffnet waren. Als ein weiterer unzweifelhafter Rest chinesischen Einflusses blieb die Sitte des Opiumrauchens im Lande, welches aber der Bevölkerung schädlicher geworden sein soll, seitdem dieselbe die beständige Regsamkeit und Beweglichkeit der Chinesen für die mongolisch-türkische Trägheit ausgetauscht hat. Der unter den Chinesen gestattete Genuß von geistigen Getränken so wie der damals sehr freie Verkehr der Geschlechter sind unter dem Einfluß fanatischer Priester verboten worden. Das Leben zur Zeit der Chinesenherrschaft war jedenfalls ein an genehmeres, verfeinerteres. Da allen Angaben nach auch die Verwaltung der Chinesen, welche grvßentheils in einheimi schen Händen ruhte, keine drückende war, so versteht man den Ausruf jenes vorhin erwähnten Gastfreundes Bellew's: „Ich hasse die Chinesen. Aber sie regierten nicht schlecht. Damals hatten wir alles, heute nichts." Nachdem die Chinesen 1878 durch einen unverhofft raschen Feldzug, bei dessen Erfolgen übrigens die Bestechung der feindlichen Generäle und der Zwist im Hause Jakub Beg's keine kleine Rolle gespielt zu haben scheinen, sich Alti- schars wieder bemächtigt hatten, machten sie sich sofort von Neuem mit ihrer bekannten Zähigkeit und Rücksichtslosigkeit an die Kolonisation des Landes. Die Grausamkeiten, zu denen sie sich dabei Hinreißen ließen, riefen sogar, wie in dem Falle der beabsichtigten Verstümmelung der Kinder Jakub Beg's, den entrüsteten Einspruch europäischer Ver treter in Peking hervor. Aber was im Lande selbst geschah, kam natürlich nur gerüchtweise nach Europa. Sie hatten in kurzer Zeit einen großen Theil der mohammedanischen Bevölkerung getödtet, einen andern, vielleicht noch beträcht licher» durch Furcht über die Grenze getrieben, und ohne Zögern neue Befestigungen angelegt, von denen eine Anzahl der russischen Grenze zugekehrt ist. Die liberale Handels politik Jakub Beg's stellten sie sogleich ein. Als im Juni 1880 Ney Elias und Godwin Austen aus Indien nach Harkand reisten begegneten sie ganz men schenleeren Dörfern und vielen sonstigen Zeichen der Ver armung. Die Requisitionen der Chinesen lasteten schwer auf der Bevölkerung. Die chinesischen Besatzungen schildern sie als eine undisciplinirte und schlecht bewaffnete Bande. In ihrer Noth begann die Bevölkerung nach Indien aus zuwandern. Bemerkenswerth ist eine Schilderung, welche wir neue stens von einem der bis dahin wenigst bekannten Orte Mittel asiens erhielten. A. Regel, welcher im Sommer 1879 als der erste Europäer seit mehr als 100 Jahren Turfan be suchte, fand sowohl die chinesische wie die sartische Stadt sehr unbedeutend, nur von einigen 1000 Einwohnern be wohnt, von welchen die Mehrzahl Dunganen sind. Die mächtigen Ruinen des östlich von hier liegenden alten Turfan führen auf eine vor der chinesischen Besitzergreifung liegende Zeit zurück. Von Urumtsi, dem Sitze des Statthalters von Turfan, sagt er, man spreche von 30 000 Einwohnern, es habe jedenfalls 10 000. Er fand in der 2üm langen Bazarstraße eine Menge schön gebauter Läden mit der fein sten Auswahl chinesischer Waaren. Die chinesische Bevöl kerung machte ihm jedoch den denkbar schlechtesten Eindruck; er nennt sie den „Auswurf der Chinesen, welcher allerdings meist ans notorischen Dieben und Mördern besteht". Bon der Zeit der Wiedereroberung her dauert hier der Handel mit Dunganenkindern fort und wurden Dr. Regel mehrere derselben angeboten. Die chinesische Landbevölkerung wird von dem Reisenden nicht besonders erwähnt, scheint aber in diesen Theilen nicht beträchtlich zu sein. Kehren wir aus dieser südwestlichsten Ecke des Reiches