Volltext Seite (XML)
144 Isabella L. Bird's Reise durch Japan. schen ums Leben gekommen sind und der dankbare Stifter des Bildes allein gerettet wurde- Der heiligste Naum des Tempels, der Hochaltar, der Schrein mit dem Bilde der Göttin, u. s. w., ist durch ein grobes Netz aus Eiscndraht abgeschlossen; in diesem Allerheiligsten stehen die großen Leuch ter, kolossale Lotosblumen aus vergoldetem Silber, heilige Bücher, seltsame Geräthc aus lackirtcm Holz, Glocken, Gongs und Trommeln und der ganze übrige Symbolapparat der buddhistischen Religion, die für die Gebildeten und Wissen den ein System der höchsten Moral und Metaphysik, für die Massen aber ein Wust abergläubischen Bilderdienstes ist. In dem trüben, durch Weihrauchdunst noch verdüsterten Raume innerhalb des Netzes sieht man die Priester mit den kahlgeschorenen Häuptern, mit reichen Gewändern bekleidet, geräuschlos über die weichen Matten um den Altar schreiten, auf dem der Schrein der Göttin steht; sie zünden die heili gen Kerzen auf den großen Leuchtern an, indem sie Gebete murmeln und die kleinen ringsum hängenden Glocken berüh ren. Ein großer Kasten, der vor dem Gitter steht, ist zur Aufnahme der Opfer der Gläubigen bestimmt, und fast un aufhörlich ertönt das leise Klingen der hincinfallenden Kupfermünzen. Verschiedenartig wie die bunte Menge, die hier zusammenströmt, ist auch ihre Weise zu beten; bei den einen besteht das Gebet in einem nachdrücklichen Wiederholen unverstandener Worte in einer fremden Sprache; bei den anderen im Erheben und Aneinanderreiben der Hände, im Auf- und Niedcrbewegen des Kopfes, Abzählen des Rosen kranzes u. s. w. Nur wenige, die wirklich von Leid bedrückt sind, zeigen etwas wie Andacht oder werfen sich in inbrün stigem Gebete zu Boden. Einen eigenthümlichcn Anblick gewähren mehrere von den großen Götterbildern, die über und über nüt kleinen, fest anklebenden Papierkugeln bedeckt sind, von denen auch Hunderte in dem umgebenden Draht gitter stecken. Wer eine Bitte an die Gottheit zu richten hat, schreibt dieselbe auf ein Stück Papier, oder, was noch wirksamer ist, er läßt sie von einem Priester aufschreiben, zerkaut dann den Zettel nnd spuckt ihn gegen das Götter bild. Hat er gut gezielt, geht die Kugel durch das Gitter und klebt an dem Bilde fest, so gilt dies für ein gutes Omen; bleibt sie im Gitter stecken, so findet das Gebet keine Er- hörnng. Rings um den Tempel der tausendarmigcn Kwannon liegen noch zahlreiche kleine Heiligthümer und Schreine zer streut; einige derselben gehören dem Schintokultus an, der ursprünglichen Religion Japans, einem fast jedes ethischen Gehaltes baaren Bilder- und Ahnendienste, der lange Zeit durch die höhere buddhistische Lehre ganz in den Schatten gestellt und durch das vereinte Bemühen der Schoguns und der Buddhapriester schließlich mit derselben vermischt worden war. Bei dem Beginne des neuen rsgüms wurde der Schintoismus mit seinem Glauben an die göttliche Abstam mung und Gottgleichheit des Herrschers wieder zur Staats religion erhoben; doch vertrug sich das alte verrottete Glau benssystem so wenig mit den Fortschritten der Regierung auf der eingcschlagenen Bahn, daß schon wenige Jahre später (im Jahre 1877) die mit so vieler Feierlichkeit inaugurirte Staatsreligion stillschweigend wieder in den Hintergrund verwiesen und eine Behörde für die Verwal tung aller Kultusangelegenheiten eingesetzt wurde. Der weite Tempelgartcn von Asakusa, mit seinen Wun dern von zu Figuren verschnittenen Bäumen, den als Ge mälden gezogenen Blumenbeeten und Miniaturlandschaften, ein Prototyp der japanesischen Gärtnerkunst, ist vom Morgen bis zum Abend von einer auf- und niederwogenden Menschen menge bevölkert. Der lebhafte Natursinn der Japanesen, deren Hauptvolksfeste in dem Bewundern der frühjährlichen „Kirschenblüthe", des „Iris-und Päonienflors", der „Lotos- und Chrysanthemumblüthe" bestehen, zeigt sich auch hier wieder vereint mit der harmlosen Freude an den bunten Sehenswürdigkeiten und kindlichen Belustigungen, welche die in dem Garten aufgestellten Buden wie auf unseren Jahr märkte» darbieten. Aber welch ein Unterschied zwischen der Volksmenge auf unseren Märkten und diesen still und gesittet umherwandelnden Gruppen des japanischen Volkes. Man sieht sich unwillkürlich nach einigen der 6000 in Tokio stationirten Polizeibeamten um, die diese ihrem Ver gnügen nachgehende Menge so im Zaume halten. Aber es ist von keiner Beaufsichtigung die Rede, und wie man das Volk hier erblickt, so findet man es im ganzen Japan wieder: in der Öffentlichkeit stets gesittet und höflich; auch in der größten Volksmenge während des Tages nur selten ein Betrunkener zu sehen oder ein lautes Wort des Streites zu vernehmen. Ein genaueres Bekanntwerdcn mit den japanischen Zuständen belehrt den erstaunten Fremden aber nur zu bald, daß man nach diesem ernsthaft-anständigen Verhalten durchaus nicht auf besondere sittliche Reinheit, Mäßigkeit oder ähnliche Tugenden schließen darf. — Nach strenger Landessitte dürfen Männer und Frauen hier auf den Straßen nnd an öffentlichen Orten nie neben einander gehen; unter den Gruppen der Weiber, deren kleine schwäch liche Gestalt oft unter der Last eines auf dem Rücken in den Falten ihres Obergewandes hockenden Kindes gebückt ist, sieht man nur selten eine anmuthige Erscheinung. Die abscheuliche Mode des Schwarzfärbens der Zähne, des Aus reißens der Augenbrauen, der dicke weiße Puder auf dem Gesichte, die scharlachrot!) bemalten Lippen und nicht zum wenigsten die ungünstige hinderliche Tracht stimmen mit unseren Begriffen von Schönheit nicht überein. Das Unter-' gewand oder Kimono, das von Männern und Frauen ge tragen wird, muß bei den letzteren so eng nach vorn zu sammengezogen werden, daß cs die freie Bewegung hindert und nur ein mühsames, leichtgebücktes Gehen erlaubt. Die ungeschickte Fußbekleidung der hohen Holzsandalen und die den ganzen Rücken bedeckende, abstehende Schleife des breiten Gürtels verbessern den Anblick nicht. In den niederen Volksklassen unterscheidet sich die Tracht der Männer nur wenig von der der Weiber; oft genug erkennt man die bei den Geschlechter nur durch die verschiedene Anordnung des Haars. Merkwürdig alt und ernsthaft sehen die Kin der aus, in ihrer derjenigen der Erwachsenen vollständig gleichen Tracht; die Knaben mit glattrasirten Köpfen, auf denen nur drei kleine Haarbüschel stehen bleiben, die Mäd chen mit den kunstvollen „Chignons" und Haarpolstern ihrer Mütter. Am 10. Juni endlich konnte Miß Bird Tokio verlassen und ihre Reise nach dem Norden antreten. Es war ihr zu guterletzt gelungen, sich in der Person eines achtzehn jährigen Burschen von ungewöhnlich kleiner Statur und einem mit Vorliebe zur Schau getragenen Ausdruck größter Dummheit auf dem häßlichen Gesichte einen Diener zu engägiren, der in der Folge alle Befürchtungen über seine Unbrauchbarkeit glänzend zu Schanden machen sollte. Der Reisepaß, der ihr von der Regierung ausgestellt worden war, und der dem Ausländer eine Tour ins Innere nur „aus Gesundheitsrücksichten oder zum Zwecke botanischer oder anderer wissenschaftlicher Forschungen" gestattet, war m diesem Falle besonders liberal gehalten; er schrieb der Rei senden nicht, wie cs gewöhnlich zu geschehen pflegt, die ciu- zuhaltende Route vor, sondern gab ihr volle Freiheit, das ganze Land nördlich von Tokio zu durchstreifen. Inhalt: Quer durch Sumatra. I. Wit fünf Abbildungen und einer Karte.) — F. Ratzel: Die chinesische Aus wanderung seit 1875. II. — Spiridion Gopöeviv: Die Ehe in Oberalbanien. I. — Isabella L. Bird's Reise durch Japan. II. — (Schluß der Redaction 4. Februar 1881.) Nedactcur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindeustraße II, Itt Tr. Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.