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142 Isabella L. Bird's Reise durch Japan. dem stolzen Geschlechte der Tokugawa, folgte nun eine lange Zeit ersehnten Friedens und mächtigen Aufschwunges für das Land. Diese unumschränkte Machtstellung der Scho- guns und die daneben fortdauernde Scheinregierung des Mi kado hat die Veranlassung zu der so lange bei uns verbrei tet gewesenen irrigen Vorstellung von dem dualistischen Re- gicrungssystem Japans gegeben, von dem gleichberechtigten Nebenciuanderbestehen eines „geistlichen und eines weltlichen Kaiserthums". Wie man sieht, hat ein derartiges System nie bestanden: dem Namen nach haben vor dem Beginn der sogenannten historischen Dynastie, d. h. von dem 6. Jahrhundert v. Chr. an bis herab auf den jetzigen Herrscher des Landes, den 123. Nachkommen der Sonnengöttin, die Mikados un verändert die höchste Regierungsgewalt in Händen gehabt und der Schogun (oder Taikun) ist nie etwas anderes ge wesen als ein Vasall. Zur Hauptstadt des Schogunats wurde Jedo gewählt; und in dieser Wahl wie in allen anderen Maßnahmen seiner kräftigen Regierung bewies Jjejasu sich als einsichtsvoller fähiger Herrscher. Die kolos salen Bauten, die er begann und seine Nachfolger been deten; die gewaltige Burg mit den starken, 80 bis 100 Fuß hohen Umfassungsmauern, den tiefen Gräben und steilen Wällen; die zahlreichen in größerer und geringerer Entfernung die Burg umgebenden Festungen und feudalen Schlösser der Datmios; die langen finsteren barackenartigen Gebäude, in denen die Samurai, die Kriegerscharen der ein zelnen Fürsten, untergebracht wurden: alle diese Bestand theile der alten „Regierungsstadt" Jedo erzählen heute noch von der vergangenen Größe des alten abgeschlossenen Japan und von der Tokugawa-Dynastie, vergangene Größe erst seit 12 Jahren; denn noch nicht länger ist es her, seit dem der Schogun sich in das Privatleben zurückzog, und der damals erst siebenzehnjährige Mikado, von einer großen Partei Unzufriedener aus den höchsten Schichten des Volkes veranlaßt, aus seiner geheiligten Verborgenheit hervortrat, die Zügel der Regierung ergriff und die meist willig dar gebotenen Lehusgüter der Daimio für die Krone einzog. Er konnte die veränderte Stellung, die er in Zukunft dem Lande gegenüber einzunehmen gedachte, nicht besser kennzeich nen, als er es durch die Verlegung seiner Residenz aus dem Palasttempcl von Kioto nach der östlichen Hauptstadt Jedo that, die sich unter dem Schutze der Schoguns und begünstigt durch das rege Treiben der verschwenderischen Lehnsfürstenhöfe zu der volkreichsten und wichtigsten Stadt des Landes entwickelt hatte. Nicht weniger als 12S Dörfer der ehemaligen Umgegend waren schon in den Bereich der stets wachsenden Stadt hineiugezogen worden, und wenn auch jetzt die bisher in Jedo stationirt gewesenen Samurai der einzelnen Fürsten entlassen wurden und zum großen Theil sich in die Provinzen zerstreuten, so behielt die neube nannte Hauptstadt Tokio doch immer noch über eine Million Einwohner. Von den sieben Städten des Reiches (Joko- hama, Tokio, Kobe, Osaka, Nagasaki, Niigata und Hako date), in denen heute Ausländer unter gewissen Beschrän kungen sich niederlassen und Handel treiben dürfen, hat Tokio am meisten den Charakter einer Zukunstsstadt an genommen. Die Zahl der Häuser von europäischer Bau art wächst von Jahr zu Jahr, ohne daß die Stadt dadurch zu ihrem Vortheile verändert würde; denn das feine Ge fühl und richtige Verstcindniß, welches die Japanesen in ihrer eigenen Kunst fast immer das Rechte und Zweckent sprechende treffen läßt, wird ihnen leider untreu, wo es sich um Nachahmung fremder Vorbilder und Aufnahme fremder Erzeugnisse handelt. Bis auf den monumentalen Prachtbau der technischen Hochschule und noch einige andere unter den öffentlichen Gebäuden weisen die „Bauten der Neuzeit" in Tokio, das Residcnzschloß des Mikado nicht ausgenommen, den nüchternsten „Kasernenstyl" oder anch den in Amerika beliebten „Styl der billigen Villa" auf. Und bei dem konservativen, stereotypirenden Charakter alles ja panischen Kunstbetriebes liegt die Gefahr nahe, daß diese falsche Geschmacksrichtung, die durch die mehr als fragwürdi gen Leistungen europäischer und amerikanischer Architekten hier ins Leben gerufen worden ist, von jetzt an die einheimische Baukunst beherrschen wird. Zum Glück aber giebt es auch in Tokio noch ganze Stadttheile, die durch den fremden Einfluß äußerlich kaum verändert erscheinen; und wenn auch die langen Reihen der niedrigen ungcstrichenen Holz häuser nichts weniger als imposant oder schön aussehen, so harmoniren sie doch besser mit dem eigenartigen Volks leben, das sich in den Straßen der Stadt bewegt. Die Geschäftsstadt des alten Jedo ist heute noch der am dichte sten bevölkerte Stadttheil; über einen der zahlreichen Kanäle, welche den Straßenverkehr entlasten, führt hier die berühmte Nippon-Baschi-Brücke, das geographische Centrum des Reiches, von dem aus alle Entfernungen bemessen werden. Große Magazine und feuerfeste Speicher mit hohen grauen Ziegeldächern geben diesem Theil der Stadt ein ver- hältnißmäßig großartiges Ansehen; von den zahllosen Läden Tokios befinden sich die hervorragendsten in diesem Quartier. Auf den Kanälen drängen sich die hochbeladenen Boote; schwerbepackte Lastpferde, mit den üblichen Strohschuhen an den Füßen, Wagen und Karren, von Menschen gezogen, Lastträger und Arbeiter, die mit dem Auf- und Abladeu, dem Ein- und Auspacken der verschiedensten Waaren be schäftigt sind, erfüllen die Straßen vom Morgen bis zum Abend mit einem lauten Leben, das an die geräuschvollsten Straßen von New Nork und Liverpool erinnert. Die ver schiedenen anderen Stadttheile — Tokio besteht aus 1400 Straßen — sind meist durch ausgedehnte Gärten, Parks, Begräbnißplätze und Tempelhaine, ja in einigen Füllen auch durch Felder von einander getrennt und lassen da durch deutlich erkennen, wie hier einst viele Ortschaften zu einem großen Ganzen zusammcngeflossen sind. So breitet sich denn auch die Stadt über ein unverhältnißmäßig großes Terrain ans, das man im Ganzen nur aus der Vogelperspektive überblicken könnte. Was man von einer der benachbarten Höhen zu sehen vermag, sind immer nur einzelne Theile: verstreute dichtgcbaute Massen grauer Häu ser, zahlreiche waldartige Baumpartien, Gruppen von klei nen Tempeln mit geschweiften Dächern, dann wieder zwi schen Gärten sich hinziehend eine Reihe ehemaliger Land häuser, die jetzt inmitten der Stadt liegen; die Anhöhe, auf der das von hohen Tannen und Kryptomerien überragte gewaltige Mauerwerk der Burg steht; ausgedehnte Garten anlagen mit Thcehäusern darinnen; die großen Tempel von Schiba, Asakusa und Ujeno; einzelne Blicke von Kanälen und breiten Gräben mit steilen Böschungen, europäische Gebäude, die durch ihre Farbe und ihre vielsenstrigen Fron ten das Auge auf sich ziehen. Das Einzige, was dem Be schauer in diesem Bilde imponiren kann, das sind eben die ungeheuren Entfernungen zwischen den einzelnen Punkten und das dichte Menschengewimmel in einigen Stadttheilen, dessengleichen auch keine andere Stadt Japans aufzu weisen hat. Die meisten der heute noch im Dienste der japanischen Negierung stehenden Ausländer leben in Tokio, wo sie in ihrer Eigenschaft als Beamte auch außerhalb der engen Grenzen des traurigen Fremdenstadttheils Tsukij wohnen dürfen. In Tfukij befindet sich außer einer Anzahl von Handelshäusern und einer großen Niederlassung von christ lichen Missionären, die hier, wie im ganzen Japan, mit